Reacher und Abby ließen die Shevicks in ihrer Küche sitzen und gingen zu dem Toyota hinaus. Reacher hatte bereits gepackt. Die Klappzahnbürste steckte in seiner Tasche. Aber Abby wollte in ihre Wohnung, um sich ein paar Sachen zu holen. Was nur verständlich war. Reacher hingegen wollte bei den Juristen des Bürgerprojekts vorbeifahren, um sich eine Frage beantworten zu lassen. Beide Ziele lagen auf ukrainischem Gebiet. Aber er hielt das Risiko für gering. Möglicherweise. Schlecht war, dass nun zwei Fotos im Umlauf waren – und vermutlich die Beschreibung des Toyotas mitsamt dem Kennzeichen. Gut war, dass sie bei Tageslicht unterwegs waren und nirgends lange bleiben würden.
Nicht sehr riskant, dachte er. Vielleicht nicht.
Sie fuhren durch die noch immer schäbigen Straßen zu dem Bürgerprojekt in der Nähe der Hotels, knapp westlich der Center Street, am Ende einer gentrifizierten Straße. Die tagsüber anders wirkte als bei Nacht. Auch alle anderen Büros und Geschäfte hatten offen. Die Gehsteige waren voller Menschen. Auf beiden Straßenseiten parkten Autos. Aber Reacher entdeckte keine schwarzen Lincolns und keine blassen Anzugträger, die nicht hergehörten.
Nicht sehr riskant. Vielleicht nicht.
Abby parkte gekonnt ein. Reacher und sie stiegen aus und gingen zum Büro des Bürgerprojekts. Diesmal saßen nur zwei der Männer an ihren Schreibtischen. Isaac Mehay-Byford war nirgends zu sehen. Nur Julian Harvey Wood und Gino Vettoretto. Harvard und Yale. Gut genug. Sie begrüßten Reacher, schüttelten Abby die Hand und sagten, sie freuten sich, sie kennenzulernen.
Reacher fragte: »Was wäre, wenn Maxim Trulenko unterschlagenes Geld gebunkert hätte ?«
»Das ist Isaacs Theorie«, sagte Gino.
»Solche Gerüchte gibt es immer«, warf Julian ein.
»Diesmal stimmt es, denke ich«, sagte Reacher. »Gestern Abend habe ich den Türsteher in der Bar, in der Abby arbeitet, nach Trulenko gefragt. Etwa drei Minuten später sind vier Typen mit zwei Autos aufgekreuzt. Eine ziemlich beeindruckende Reaktion. Das war Personenschutz der Extraklasse. Ohne Cash tun diese Leute keinen Handschlag. Folglich entlohnt Trulenko sie fürstlich, damit binnen drei Minuten vier Kerle mit zwei Autos da sind. Also muss er noch über reichlich Geld verfügen.«
»Was ist aus den vier Kerlen geworden ?«, fragte Gino.
»Sie haben mich aus den Augen verloren«, entgegnete Reacher. »Aber nebenbei ist das der Beweis dafür, dass Isaac recht hat, glaube ich.«
»Kennen Sie Trulenkos Aufenthaltsort ?«, fragte Julian.
»Nicht genau, nein.«
»Wir bräuchten seine Adresse, um ihm die Klage zustellen zu lassen. Und um seine Bankkonten einzufrieren. Wie viel Geld hat er schätzungsweise noch ?«
»Keine Ahnung«, sagte Reacher. »Bestimmt mehr als ich. Mehr als die Shevicks, das steht verdammt noch mal fest.«
»Ich schätze, wir könnten ihn auf hundert Millionen Dollar verklagen und uns mit dem zufriedengeben, was er noch besitzt. Mit etwas Glück ist’s genug.«
Reacher nickte. Dann stellte er die Frage, deretwegen er hergekommen war. »Wie lange würde das alles dauern ?«, fragte er.
Gino antwortete: »Die andere Seite würde niemals vor Gericht gehen. Das könnte sie sich nicht leisten. Sie wüsste, dass sie nur verlieren kann. Sie würde eine außergerichtliche Einigung anstreben. Sie würde uns darum anbetteln. Die Einzelheiten würden zwischen den Anwälten ausgehandelt, hauptsächlich per E-Mail. Es würde nur darum gehen, Trulenko ein paar Cents pro Dollar zu lassen, damit er nicht für den Rest seines Lebens unter Brücken hausen muss.«
»Wie lange würde das alles dauern ?«, wiederholte Reacher.
»Sechs Monate«, sagte Julian. »Sicher nicht länger.«
Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, hatte Maria Shevick mehr als einmal gesagt.
»Und es lässt sich nicht beschleunigen ?«
»Das ist schon beschleunigt.«
»Okay«, sagte Reacher. »Schönen Gruß an Isaac.«
Sie hasteten zu dem Toyota zurück. Er stand noch da. Unbemerkt, unbeobachtet, nicht umzingelt und ohne Strafzettel. Sie stiegen ein. Abby sagte: »Mir kommt’s vor, als liefe ein Film in Zeitlupe und der andere im Zeitraffer.«
Reacher äußerte sich nicht dazu.
Abbys Wohnung lag eigentlich nicht weit entfernt, aber um sie zu erreichen, mussten sie ein Quadrat aus Einbahnstraßen ausfahren. Sie kamen von Norden.
Vor der Tür stand ein Auto.
Am Randstein geparkt. Ein schwarzer Lincoln Town Car, den sie von hinten sahen. Wegen der getönten Scheiben war nicht zu erkennen, ob jemand drinsaß.
»Hier ranfahren«, sagte Reacher.
Abby hielt weniger als dreißig Meter hinter dem Lincoln.
Reacher meinte: »Schlimmstenfalls sitzen zwei Typen drin, und ich wette, dass die Türen verriegelt sind.«
»Was täte die Army in diesem Fall ?«
»Panzerbrechende Munition einsetzen, um jeglichen Widerstand zu brechen. Und dann Leuchtspurgeschosse in den Benzintank, um alle Beweise zu vernichten.«
»Das können wir nicht.«
»Leider. Aber wir müssen etwas unternehmen. Dies ist dein Haus. Sie stecken ihre Nasen in etwas, das sie nichts angeht.«
»Sicherer ist’s bestimmt, sie zu ignorieren.«
»Das wäre kurzsichtig gedacht«, sagte Reacher. »Wir dürfen ihnen nicht alles durchgehen lassen. Wir müssen ihnen eine Botschaft schicken. Sie haben eine rote Linie überschritten. Sie haben deine Adresse mit Gewalt aus einem unbeteiligten Paar herausgeholt, das genug Geschmack hatte, dich anzustellen und dieses Trio zu buchen. Sie müssen erfahren, dass es Dinge gibt, die man nicht tut. Und sie müssen wissen, dass sie sich mit den falschen Leuten angelegt haben. Wir müssen ihnen ein bisschen Angst einjagen.«
Abby schüttelte den Kopf.
»Das ist verrückt«, sagte sie. »Du bist allein. Du kannst es nicht mit zwei Kerlen aufnehmen.«
»Irgendwer muss es tun. Ich bin’s gewöhnt. Ich war Militärpolizist. Ich hab alle Scheißjobs bekommen.«
Sie überlegte einen Moment.
»Dir macht Sorgen, dass ihre Türen verriegelt sind«, sagte sie. »Weil du dann nicht an sie herankommst.«
»Korrekt«, erwiderte Reacher.
»Ich konnte um den Block gehen und von hinten ins Haus kommen. Drinnen könnte ich überall Licht machen. Vielleicht würde sie das aus dem Auto locken.«
»Nein«, sagte Reacher.
»Okay, ich würde kein Licht machen und wenigstens meine Sachen holen.«
»Nein«, sagte Reacher wieder. »Aus demselben Grund. Sie könnten in deiner Wohnung warten. Das Auto könnte leer sein. Oder hier wäre einer und dort einer.«
»Das klingt unheimlich.«
»Manche Dinge sollten sie eben nicht tun.«
»Ich könnte ohne mein Zeug leben. Ich meine, du tust’s ja auch. Das ist offenbar möglich. Es könnte Teil des Experiments sein.«
»Nein«, sagte Reacher noch mal. »Dies ist ein freies Land. Willst du deine Sachen, solltest du sie bekommen. Und brauchen sie einen Denkzettel, sollten sie einen kriegen.«
»Okay, meinetwegen. Aber wie fangen wir das an ?«
»Das hängt davon ab, wie experimentierfreudig du bist.«
»Was soll ich also tun ?«
»Es müsste ziemlich gut funktionieren, denke ich.«
»Was denn ?«
»Aber du wirst dir wahrscheinlich vorher Sorgen machen.«
»Lass hören.«
»Idealerweise würde ich wollen, dass du an den Lincoln heranfährst und ihn etwa mit Schrittgeschwindigkeit von hinten rammst.«
»Wozu das ?«
»Dann würden die Türen entriegelt. Für die Ersthelfer. Weil der Wagen glauben würde, in einen kleinen Unfall verwickelt zu sein. Das meldet ein eingebauter Sensor. Ein Sicherheitsmechanismus.«
»Und dann lassen die Türen sich von außen öffnen ?«
»Das wäre das erste taktische Ziel. Alles andere würde sich von selbst ergeben.«
»Aber vielleicht haben sie Waffen.«
»Nicht mehr sehr lange. Dann hätte ich sie.«
»Was ist, wenn die Kerle im Haus sind ?«
»Vielleicht könnten wir ihr Auto in Brand stecken. Das wäre eine deutliche Botschaft.«
»Das ist verrückt !«
»Machen wir lieber einen Schritt nach dem anderen.«
»Ist mein Auto dann kaputt ?«
»Es hat vorschriftsmäßige Stoßstangen. Die müssten bis fünf Meilen in der Stunde aushalten. Vielleicht brauchst du neue Kabelbinder.«
»Okay«, sagte sie.
»Denk daran, den Fuß auf der Kupplung zu lassen. Du darfst den Motor nicht abwürgen. Außerdem willst du ohnehin gleich wieder ein Stück zurückstoßen.«
»Und dann ?«
»Du parkst und holst deine Sachen, während ich den Kerlen im Wagen sage, was sie tun sollen.«
»Und das wäre ?«
»Sie sollen dir zu einer abgelegenen Stelle östlich der Center Street folgen. Wie’s dann weitergeht, hängt von ihnen ab.«
Abby schwieg einige Sekunden lang.
Dann nickte sie, sodass ihr kurzes schwarzes Haar wippte. Ihre Augen funkelten. Ihr Lächeln war halb grimmig, halb aufgeregt.
»Okay«, sagte sie wieder. »Machen wir’s !«
In diesem Augenblick erläuterte Gregorys rechte Hand das wenige, was er wusste. Er saß seinem Boss in dessen Büro gegenüber, das leicht einschüchternd wirkte. Der riesige, mit Schnitzereien verzierte Schreibtisch bestand aus karamellbraunem Holz. Der dazu passende Chefsessel war mit grünem Raffleder gepolstert. Die hohe Bücherwand dahinter passte wiederum zu Sessel und Schreibtisch. Ein imposanter Gesamteindruck. Keine beruhigende Umgebung, wenn man eine verworrene Geschichte zu erzählen hatte.
Er berichtete: »Gestern Abend um sechs Uhr war Aaron Shevick ein großer hässlicher Nobody, der einen Kredit zurückgezahlt hat. Um acht Uhr war er ein großer hässlicher Nobody, der einen neuen Kredit aufgenommen hat. Aber um zehn Uhr wirkte er wie ausgewechselt. Er war ein Lebemann, der die Musik genossen, mit der Bedienung geflirtet, Minipizzen gegessen und Kaffee für sechs Dollar die Tasse getrunken hat. Beim Verlassen der Bar war er plötzlich wieder anders: ein taffer Kerl, der sich nach Maxim Trulenko erkundigt hat. Er ist ein Typ mit drei Gesichtern, und wir haben keinen blassen Schimmer, wer er wirklich ist.«
Gregory fragte: »Für wen hältst du ihn ?«
Sein Mann überhörte diese Frage. Stattdessen sagte er: »Inzwischen haben wir seine letzte bekannte Adresse ausgegraben. Aber er war nicht dort. Er wohnt schon seit einem Jahr nicht mehr da. Die neuen Mieter sind ein altes Paar im Ruhestand: Jack und Joanna Reacher. Ihre Enkelin war bei ihnen zu Besuch. Sie heißt Abigail Reacher. Nur stimmt das nicht. Ihr richtiger Name ist Abigail Gibson. Sie ist die Bedienung, mit der Shevick gestern Abend geflirtet hat. Über sie wissen wir alles. Sie ist eine Unruhestifterin.«
»Wie das ?«
»Vor ungefähr einem Jahr hat sie der Polizei etwas erzählt, das sie gesehen hatte. Wir haben die Sache ausgebügelt und sie auf den rechten Weg zurückgeführt. Weil sie versprochen hat, sich zu bessern, haben wir sie weiterarbeiten lassen.«
Gregory neigte den Kopf nach links, blieb kurz in dieser Haltung, legte ihn nach rechts und verharrte wieder so, als hätte er Nackenschmerzen.
Er sagte: »Aber jetzt flirtet sie mit Shevick und taucht unter falschem Namen an seiner letzten bekannten Adresse auf.«
»Es kommt noch schlimmer«, fuhr seine rechte Hand fort. »Grandma Reacher war heute Morgen in unserem Leihhaus und hat mit Shevick unterschrieben.«
»Echt jetzt ?«
»Maria Shevick. Und dann ist auch sie an Aaron Shevicks letzter bekannter Adresse aufgetaucht. Wir haben keine Ahnung, wer diese Leute wirklich sind.«
»Für wen hältst du sie ?«, fragte Gregory wieder.
»Wir sind nicht blöd, sonst stünden wir nicht dort, wo wir jetzt sind«, sagte sein Mann. »Wir sollten alle Möglichkeiten bedenken. Fangen wir mit Abigail Gibson an. Wir bekommen einen neuen Polizeichef. Vielleicht arbeitet er sich schon mal in die Akten ein. Ihr Name steht dort drin. Vielleicht hat er sie angeworben. Vielleicht hat er dafür gesorgt, dass der große Typ mit ihr zusammenarbeitet.«
»Er ist noch nicht Polizeichef.«
»Umso schlimmer. Wir bilden uns bloß ein, noch sicher zu sein.«
Gregory fragte: »Du hältst Shevick für einen Cop ?«
»Nein«, antwortete sein Mann. »Wir haben einen guten Draht zu den Cops. Wir hätten etwas gehört. Irgendwer hätte mit uns geredet.«
»Was ist er dann ?«
»Vielleicht ein FBI -Agent. Vielleicht hat die Polizei Hilfe von außen angefordert.«
»Nein«, widersprach Gregory. »Das täte kein neuer Polizeichef. Er würde wollen, dass die eigenen Leute Erfolg haben. Damit er ihn für sich beanspruchen kann.«
»Dann ist er vielleicht ein ehemaliger Cop oder Agent, den Dino geholt hat, damit er uns Schwierigkeiten macht.«
»Nein«, sagte Gregory wieder. »Dino würde keinen Außenstehenden engagieren. Er traut keinem von außerhalb. Genau wie wir.«
»Wer ist er also ?«
»Ein Kerl, der sich Geld geliehen und dann nach Maxim gefragt hat. Eine seltsame Kombination, das gebe ich zu.«
»Was willst du gegen ihn unternehmen ?«
»Beobachtet das Haus, das ihr gefunden habt«, sagte Gregory. »Lebt er tatsächlich dort, kreuzt er früher oder später wieder auf.«
Abby ließ ihren Sicherheitsgurt angelegt. Reacher verzichtete auf seinen. Er stemmte sich mit zwei Händen vom Ablagefach ab. Sie legte den ersten Gang ein.
»Kann’s losgehen ?«, fragte sie.
»Schrittgeschwindigkeit«, antwortete er. »Die wird dir kurz vor dem Aufprall schrecklich schnell vorkommen. Aber du darfst auf keinen Fall langsamer werden. Vielleicht machst du auf dem letzten Stück besser die Augen zu.«
Sie fuhr an und rollte die Straße entlang.
Als Schrittgeschwindigkeit galten im Allgemeinen etwa drei Meilen in der Stunde, was gut achtzig Meter in der Minute waren, sodass der klapprige weiße Toyota volle zwanzig Sekunden brauchte, um die Strecke bis zu dem geparkten Lincoln zurückzulegen. Abby hielt darauf zu, atmete tief durch und schloss auf den letzten Metern die Augen. Der Toyota rollte ungebremst weiter und rammte den Lincoln von hinten. Schrittgeschwindigkeit, aber trotzdem ein metallisch krachender Aufprall. Abby wurde nach vorn geworfen und von ihrem Sicherheitsgurt gestoppt. Reacher stemmte sich mit beiden Händen ab. Der Lincoln wurde einen halben Schritt weitergeschoben. Der Toyota prallte einen halben Schritt zurück. Reacher sprang sofort hinaus, machte einen, zwei, drei Schritte zur hinteren rechten Tür des Lincolns und riss am Türgriff.
Der Sicherheitsmechanismus hatte funktioniert.
Die Tür ging auf. In dem Wagen saßen zwei Männer. Ohne Gurte nebeneinander auf den Vordersitzen; vor Kurzem noch behaglich entspannt, jetzt durchgeschüttelt und leicht verwirrt. Ihre Köpfe waren auf den Kopfstützen zu liegen gekommen, sodass Reacher sie mühelos mit beiden Händen packen konnte, als er auf den Rücksitz glitt. Dann war es ein Leichtes, sie aneinanderzuschlagen wie der Musiker ganz hinten im Orchester seine Becken. Und noch zweimal kräftig, bevor der linke Kerl vorne an den Rand des Lenkrads, der rechte Kerl gegen den Wulst über dem Ablagefach krachte.
Dann beugte er sich von hinten über die Sitzlehnen, griff mit beiden Händen in ihre Jacketts, tastete ihre Oberkörper ab und fand Lederriemen, Schulterholster und Pistolen, die er herauszog. In ihren Hosenbunden steckte nichts, und auch als Reacher sich weit nach vorn runterbeugte, konnte er keine Knöchelholster entdecken.
Er ließ sich zurücksinken. Die Pistolen waren P7 von Heckler & Koch. Deutsche Polizeiwaffen. Sehr präzise gearbeitet. Fast zierlich. Aber auch stählern und kantig. Also männlich.
Reacher sagte: »Aufwachen, Jungs !«
Er wartete. Ein Blick nach draußen zeigte ihm, dass Abby ausstieg und in ihrem Haus verschwand.
»Aufwachen, Jungs !«, wiederholte er.
Und das taten sie nach ein paar Minuten. Sie setzten sich benommen auf, schauten sich blinzend um und versuchten zu verstehen, was passiert war.
Reacher sagte: »Ich schlage euch einen Deal vor. Mit einem besonderen Anreiz. Ihr fahrt mich nach Osten. Unterwegs stelle ich euch Fragen. Belügt ihr mich, übergebe ich euch den Albanern, wenn wir dort sind. Sagt ihr die Wahrheit, steige ich aus, verschwinde und lasse euch wenden und unversehrt heimfahren. Das ist der Anreiz. Ihr habt die Wahl. Haben wir uns verstanden ?«
Aus dem Augenwinkel heraus sah er Abby mit einer vollgepackten Reisetasche aus dem Haus kommen. Sie stellte die Tasche auf den Rücksitz und stieg wieder in ihr Auto.
In dem Lincoln griff der Kerl am Steuer sich mit beiden Händen an den Kopf und sagte: »Sind Sie verrückt ? Ich sehe alles verschwommen. Ich kann Sie nirgends hinfahren.«
»Nein ist keine Antwort«, entgegnete Reacher. »Ich rate Ihnen, sich größte Mühe zu geben.«
Er fuhr sein Fenster herunter, streckte den Arm ins Freie und signalisierte Abby, sie solle vorausfahren. Er beobachtete, wie sie seine Anweisung zögernd ausführte. Die vordere Stoßstange des Toyotas war nicht mehr waagrecht, sondern hing auf der einen Seite weit herunter. Ihre Kante schwebte nur noch eine Handbreit über dem Asphalt. Vielleicht würde eine Reparatur zwei neue Kabelbinder erfordern. Oder sogar drei.
»Hinter dem Toyota herfahren !«, befahl er.
Der Kerl am Steuer fuhr unbeholfen wie ein Fahrschüler an. Sein Partner neben ihm drehte sich so weit nach links, wie es sein steifer Hals zuließ, und behielt Reacher unverwandt im Auge. Der noch schwieg.
Der beschädigte Toyota vor ihnen kam gut voran. Auf Querstraßen unbeirrt nach Osten. Der Lincoln blieb dicht dahinter. Der Kerl am Steuer fuhr allmählich besser. Weniger ruckartig.
Reacher fragte: »Wo ist Maxim Trulenko ?«
Zunächst antwortete keiner. Dann sagte der Typ mit dem steifen Hals: »Sie sind ein erbärmlicher Schwindler.«
»Wie das ?«, fragte Reacher.
»Was unsere eigenen Leute uns antäten, wenn wir Trulenkos Aufenthaltsort verraten würden, ist schlimmer als alles, was die Albaner uns antun könnten. Also haben wir nicht wirklich die Wahl. Der Anreiz existiert nicht. Außerdem sind wir Kerle, die in Autos sitzen und Häuser beobachten. Glauben Sie, dass Leute wie wir erfahren, wo Trulenko ist ? Also können wir nur sagen, dass wir’s nicht wissen. Was Sie als Lüge bezeichnen werden. Also wieder keine Wahl, kein Anreiz. Tun Sie einfach, was Sie tun müssen, und ersparen Sie uns Ihren heuchlerischen Scheiß.«
»Aber Sie wissen, wer Trulenko ist ?«
»Natürlich wissen wir das.«
»Und Sie wissen, dass jemand ihn irgendwo versteckt hält.«
»Kein Kommentar.«
»Aber Sie wissen nicht, wo.«
»Kein Kommentar.«
»Wo würden Sie ihn suchen, wenn Ihr Leben davon abhinge ?«
Der Typ auf dem Beifahrersitz gab keine Antwort. Dann klingelte das Handy des Fahrers. In seiner Tasche. Eine flotte kleine Marimba-Melodie, mehrmals wiederholt, gedämpft. Reacher dachte an codierte Warnungen und geheime SOS -Rufe und sagte: »Nicht drangehen.«
»Dann kommen sie uns suchen«, sagte der Fahrer.
»Wer denn ?«
»Sie schicken ein paar Leute.«
»Wie ihr zwei ? Jetzt habe ich wirklich Angst.«
Keine Antwort. Das Handy verstummte.
Reacher fragte: »Wie heißt euer Boss ?«
»Unser Boss ?«
»Nicht der Boss der Männer mit Überwachungsaufgaben. Der oberste Chef. Der capo di tutti capi.«
»Was heißt das ?«
»Italienisch«, antwortete Reacher. »Der Boss aller Bosse.«
Keine Antwort. Jedenfalls nicht sofort. Die beiden sahen sich an, als versuchten sie, stumm eine gemeinsame Entscheidung zu treffen. Wie weit konnten sie gehen ? Einerseits galt für sie die Omertà – ebenfalls ein italienisches Wort –, die absolute Schweigepflicht aller Mitglieder einer kriminellen Vereinigung. Eine Pflicht, für die man lebte und starb. Andererseits steckten sie tief in der Scheiße. Ganz persönlich und individuell. In der realen Welt, im Hier und Jetzt. Für eine Pflicht zu sterben war in der Theorie schön und gut, in der Praxis sah die Sache anders aus. Oberste Priorität für sie war kein ehrenvoller oder ruhmreicher Opfertod, sondern nacktes Überleben, damit sie anschließend nach Hause konnten.
Der Kerl mit dem steifen Hals sagte: »Gregory.«
»Das ist sein Name ?«
»Auf Englisch.«
Dann blickten sie sich erneut an. Diesmal mit einem anderen Ausdruck. Eine neue Debatte.
»Wie lange seid ihr schon hier drüben ?«, fragte Reacher. Um sie wieder aufs Gleis zu setzen. Weil es zur Gewohnheit werden konnte, Fragen zu beantworten. Mit leichten Fragen anfangen, sich zu den schweren hocharbeiten. Eine bewährte Vernehmungsmethode. Auch diesmal wechselten die Typen wieder einen Blick. Einerseits, andererseits …
»Acht Jahre sind wir jetzt hier«, entgegnete der Fahrer.
»Euer Englisch ist ziemlich gut.«
»Danke.«
Im nächsten Augenblick klingelte das Handy des Beifahrers. Ebenfalls in seiner Tasche. Gedämpft, aber mit einem anderen Klingelton. Er hatte sich für das schrille Läuten eines altmodischen Telefons entschieden, sodass es wie das Wandtelefon in der Bar des fetten Kerls klang.
»Nicht drangehen!«, befahl Reacher.
»Sie können uns über die Handys orten«, erklärte der Typ.
»Spielt keine Rolle. Sie können nicht schnell genug reagieren. Ich schätze, dass in zwei Minuten alles vorbei ist. Dann fahrt ihr ohnehin wieder heim.«
Ein zweites gedämpftes Klingeln. Und ein drittes.
»Oder auch nicht«, sagte Reacher. »Vielleicht erwischen euch in zwei Minuten die Albaner. Jedenfalls dauert’s nicht mehr lange.«
Vor ihnen wurde der Toyota langsamer und hielt am Randstein. Der Lincoln kam dahinter zum Stehen. An einem Straßenblock mit alten Klinkerbauten, Gehsteigen aus alten Klinkersteinen und alten Klinkern unter dem rissigen Asphalt der Fahrbahn. Zwei Drittel der Gebäude standen leer, waren mit Brettern vernagelt, und das restliche Drittel enthielt wenig vertrauenerweckende Geschäfte. Eine abgelegene Stelle östlich der Center Street. Abby hatte eine gute ausgesucht.
Das Handy hörte zu klingeln auf.
Er fragte: »Wo würdet ihr Maxim Trulenko suchen, wenn euer Leben davon abhinge ?«
Keine Antwort. Wieder stumme Blicke. Zwei Arten. Erst frustriert, weil sie die Wahl zwischen Pest und Cholera hatten, dann merklich verändert. Die neue Debatte.
Der Typ mit dem steifen Hals sagte: »Sie werden uns misstrauen und wissen wollen, warum wir entführt und dann doch freigelassen worden sind.«
»Richtig, das ist Ansichtssache.«
»Das ist das Problem. Sie werden annehmen, dass wir etwas verraten haben.«
»Sagt einfach die Wahrheit.«
»Das wäre Selbstmord.«
»Eine Version der Wahrheit«, erklärte Reacher. »Sorgfältig ausgewählt und redigiert. Aber trotzdem in allen Einzelheiten wahr. Ihr sagt einfach, dass eine Frau aus der Tür gekommen ist, die ihr beobachten solltet. Sie hatte eine Reisetasche dabei, mit der sie in ihr Auto gestiegen ist, und ihr seid ihr hinterhergefahren. Nennt irgendeine Adresse in dieser Straße. Ihr dachtet, wenn Gregory das Haus wichtig genug war, um es beobachten zu lassen, würde er bestimmt auch wissen wollen, wohin seine Bewohnerin sich abgesetzt hat. Das alles bringt ihr ein bisschen verlegen vor. Dann bekommt ihr den Kopf getätschelt und werdet für eure Eigeninitiative gelobt.«
Der Fahrer fragte: »Wir sollen Sie gar nicht erwähnen ?«
»Das ist immer besser.«
Die beiden Männer sahen sich erneut an. Suchten Löcher in dieser Story. Fanden jedoch keine. Sie wandten sich wieder Reacher zu. Die Pistole in seiner rechten Hand bewegte sich nicht im Geringsten.
Er fragte: »Wo würde ein vernünftiger Mensch zu suchen beginnen ?«
Fahrer und Beifahrer wechselten erneut einen Blick: noch immer besorgt, aber schon etwas mutiger – und umso kühner, je länger sie darüber nachdachten. Schließlich verlangte niemand Tatsachen von ihnen. Tatsachen hatten sie keine erfahren. Nicht kleine Leute wie sie. Stattdessen wurden sie nach ihrer Meinung gefragt. Das war alles. Wo würde ein vernünftiger Mensch zu suchen beginnen ? Bloße Spekulation. Ein Gedankenexperiment. Eigentlich nur eine höfliche Unterhaltung. Und natürlich schmeichelhaft, dass kleine Leute um ihre Meinung gefragt wurden.
Reacher verfolgte diesen Prozess. Er sah sie mutiger werden, sah, wie sie sich aufsetzten, wie sie durchatmeten und einander zunickten. Bereit zu reden, körperlich wie geistig. Aber auch bereit für etwas anderes. Etwas Schlechtes. Eine neue Debatte, irgendeine verrückte Idee. Daran war er selbst schuld – hundertprozentig. Weil er ihnen keine wirkliche Wahl gelassen hatte. Das hatte der Kerl richtig erkannt. Und wegen seiner Frage nach dem Capo. Sicher eine beängstigende Person, die für schreckliche Vergeltungsmaßnahmen berüchtigt war. Und weil die von ihm vorgeschlagene Story gut ausging. Das hatte sie nachdenklich gemacht. Ein Tätscheln und ein Lob fanden sie großartig, aber eine Beförderung und mehr Status waren besser. Nach acht langen Jahren in untergeordneter Stellung lockte endlich eine Beförderung. Sie wollten auf der Leiter nach oben. Das erforderte natürlich mehr, als einer jungen Frau zu einer Adresse zu folgen. Dafür mussten sie mehr leisten.
Aaron Shevick gefangen zu nehmen würde reichen. Für den sie ihn offenbar hielten. Wie alle anderen hatten sie die Suchmeldung mit der Beschreibung und seinem Foto bekommen. Sie hatten nicht gefragt, wer er war. Die meisten Leute würden das tun. Sie hätten gefragt, wer, zum Teufel, sind Sie ? Was, zum Teufel, wollen Sie ? Aber diese Typen waren überhaupt nicht neugierig gewesen. Weil sie’s bereits wussten. Er war ein Kerl, nach dem gefahndet wurde. Folglich wichtig. Folglich eine Trophäe. Daher die verrückten Ideen.
Selbst schuld.
Tut es nicht, dachte er.
Laut sagte er: »Tut es nicht.«
Der Fahrer fragte: »Was nicht ?«
»Irgendwas Dummes.«
Sie überlegten eine Weile. Er vermutete, dass sie damit anfangen würden, indem sie ihm etwas Wahres erzählten. Eine Lüge mit stummen Blicken zu koordinieren war zu schwierig. Es würde etwas sein, das einige Sekunden Nachdenken und eine sorgfältig formulierte nächste Frage erforderte. Alles, um ihn vorübergehend abzulenken. Damit sie über ihn herfallen konnten. Der Typ mit dem steifen Hals würde über seine Rückenlehne gleiten und auf Reachers linkem Arm landen, während seine Hüften den rechten Arm blockierten. Im selben Augenblick würde der Fahrer Reachers unverteidigten Kopf attackieren. Mit der Kante seines Smartphones, wenn er clever und bereit war, ein teures Handy zu zertrümmern. Wie Reacher aus Erfahrung wusste, waren die meisten Leute dazu bereit, wenn es ums Leben ging.
Tut es nicht, dachte er.
Laut fragte er: »Wo würdet ihr Maxim Trulenko suchen ?«
Der Fahrer antwortete: »Natürlich an seinem Arbeitsplatz.«
Reacher verzog keine Miene, aber innerlich dachte er nicht über diese Information nach und formulierte auch keine Folgefrage. Er wartete einfach ab. Die Zeit verstrich in Viertelsekundenintervallen: Erst passierte nichts, dann immer noch nichts, dann stieß der Beifahrer sich mit den Füßen ab, warf sich mit ausgestreckten Armen über die Rückenlehne und versuchte, seine Körpermasse über den Punkt zu wuchten, an dem es kein Zurück mehr gab. So würde die Schwerkraft ihm die restliche Arbeit abnehmen und er unbeholfen, aber trotzdem effizient auf Reachers Schoß landen.
Nur erreichte er diesen Punkt nicht.
Reacher rammte die Pistolenmündung in die Rückenlehne und erschoss den Kerl durchs Sitzpolster. Anschließend wehrte er den fallenden Toten mit dem Ellbogen ab. Eins, zwei, Schuss, Ellbogen. Der Schuss war laut, aber nicht übermäßig. Das Innere der Rückenlehne hatte wie ein riesiger Schalldämpfer gewirkt. Jede Menge Polstermaterial: Wolle, Baumwolle, Pferdehaar. Von Natur aus schalldämmend. Allerdings gab es ein kleines Problem – das Zeug war in Brand geraten. Und der Fahrer beugte sich nach vorn. Tastete unter dem Lenkrad nach etwas. Dann richtete er sich auf und drehte sich um. In einer Hand hielt er eine winzige Pistole. Sie war mit Klettband unter dem Instrumentenbrett befestigt gewesen. Reacher erschoss auch ihn durch seine Rückenlehne, die ebenfalls Feuer fing. Ein Neun-Millimeter-Geschoss. Die Pistolenmündung an den Sitz gedrückt, ein massiver Austritt superheißer Gase. Daran hatten die Konstrukteure des Lincolns vermutlich nie gedacht.
Reacher öffnete die Tür und glitt aus der Limousine. Die Pistolen steckte er ein. Als Frischluft ins Wageninnere strömte, brannten die Flämmchen höher. Dies war nicht nur ein Schwelbrand, sondern der Luftzug entfachte helle Flammen. Kaum größer als ein Fingernagel, flackernd in den Sitzlehnen tanzend.
Abby fragte: »Was ist passiert ?«
Sie stand wie gelähmt am Heck ihres Wagens auf dem Gehsteig und starrte mit aufgerissenen Augen durch die Frontscheibe des Lincolns.
Reacher sagte: »Sie haben außergewöhnliche Loyalität gegenüber einer Organisation bewiesen, die sie anscheinend nicht sehr gut behandelt hat.«
»Du hast auf sie geschossen ?«
»Notwehr.«
»Warum ?«
»Sie haben zuerst geblinzelt.«
»Sind sie tot ?«
»Vielleicht dauert’s noch eine Minute. Hängt davon ab, wie stark sie bluten.«
Sie sagte: »So was habe ich noch nie erlebt.«
Er sagte: »Tut mir leid, aber ich konnte nicht anders.«
»Du hast zwei Menschen erschossen.«
»Ich habe sie gewarnt. Ich hab ihnen gesagt, sie sollten’s nicht tun. Alle meine Karten haben auf dem Tisch gelegen. Das war mehr Beihilfe zum Selbstmord. So solltest du die Sache sehen.«
»Hast du’s für mich getan«, fragte sie, »weil ich wollte, dass sie einen Denkzettel bekommen ?«
»Ich wollte es überhaupt nicht tun«, antwortete er. »Ich wollte sie heil und gesund nach Hause schicken. Aber nein, sie haben versucht, ihr Bestes zu geben. Wie ich’s vermutlich auch getan hätte. Nur wahrscheinlich besser.«
»Was machen wir jetzt ?«
Die Flammen leckten höher. Der Kunstlederbezug der Rückenlehnen wurde blasig, bekam Risse und schälte sich wie Haut ab.
Reacher sagte: »Wir sollten uns in dein Auto setzen und wegfahren.«
»Einfach so ?«
»Ich stelle mir nur vor, wie’s umgekehrt wäre. Was würden sie für mich tun ? Das gibt den Ton an.«
Abby schwieg eine Weile.
Dann sagte sie: »Okay, steig ein.«
Sie fuhr. Er saß auf dem Beifahrersitz. Sein zusätzliches Gewicht auf dieser Seite ließ den Stoßdämpfer rechts vorn etwas weiter einfedern, sodass die seit Kurzem herabhängende Stoßstange des Toyotas ab und zu auf den Asphalt prallte – auf ihrer gesamten Route willkürlich und unregelmäßig wie Morsezeichen, die mit langen Zwischenräumen auf einer Basstrommel gesendet wurden.
Niemand hätte im Traum daran gedacht, wegen eines Autos, das in einem zu zwei Dritteln leer stehenden Straßenblock im Osten der Stadt brannte, die Cops zu alarmieren. Das war anscheinend irgendeine Privatangelegenheit, die am besten privat blieb. Aber viele Leute träumten davon, Dino anzurufen. Immer. Wegen irgendetwas, das sich als nützlich erweisen würde. Aber besonders mit einer Meldung wie dieser. Die konnte ihnen eine Beförderung sichern. Damit konnten sie sich einen Namen machen. Ein paar Kerle wagten sich trotz der abgestrahlten Hitze gefährlich nahe heran. Sie sahen die verbrennenden Toten. Sie schrieben sich das Kennzeichen auf, bevor die Schilder von den Flammen zerstört wurden.
Sie riefen Dinos Leute an und meldeten, dort brenne ein Auto der Ukrainer. Ein Lincoln Town Car, mit dem sie westlich der Center Street herumfuhren. Soviel man erkennen konnte, hatten die Toten Anzüge und Krawatten getragen. Was dort drüben üblich war. Sie schienen von hinten erschossen worden zu sein, was allgemein üblich war. Fall abgeschlossen. Sie waren der Feind.
Dino selbst traf die Entscheidung.
»Lasst es brennen«, sagte er.
Während der Lincoln ausbrannte, rief er seine engsten Berater zusammen. In dem Büro hinter dem Holzlagerplatz. Das gefiel einigen von ihnen nicht, weil Holz brennbar war und irgendwo in der Nähe etwas brannte. Vielleicht Funken versprühte. Aber sie kamen alle. Seine rechte Hand und die übrigen Topleute. Keine andere Wahl.
»Waren wir das ?«, fragte Dino sie.
»Nein«, entgegnete seine rechte Hand. »Damit haben wir nichts zu schaffen.«
»Bestimmt nicht ?«
»Unterdessen wissen alle, was in dem Massagesalon passiert ist. Alle wissen, dass es vier zu vier steht, ein ehrenvolles Unentschieden, Game over. Wir haben keine Einzelkämpfer, keine Eigenbrötler, keine Leute auf einem privaten Rachefeldzug. Dafür garantiere ich. Das hätte ich gehört.«
»Dann erklärt mir diesen Vorfall.«
»Das kann niemand.«
»Wenigstens den Ablauf«, sagte Dino, »wenn schon nicht die Bedeutung.«
Einer seiner Männer sagte: »Vielleicht sind sie rübergekommen, um sich mit jemandem zu treffen. Ihr Kontaktmann hat auf dem Gehsteig gewartet. Er ist hinten eingestiegen, um mit ihnen zu reden. Aber er hat sie stattdessen erschossen. Vielleicht einen Molotowcocktail ins Auto geworfen.«
»Welcher Kontaktmann ?«
»Keine Ahnung.«
»Jemand von hier ?«
»Vermutlich.«
»Einer unserer Jungs ?«
»Möglich.«
»Ein anonymer Spitzel ?«
»Könnte sein.«
»So anonym, dass er uns bisher nie aufgefallen ist ? So gerissen, dass wir ihn in all den Jahren nicht bemerkt haben ? Das glaube ich nicht. Ein Meisterspitzel dieser Art würde in einem Coffeeshop an der Center Street warten, denke ich. Er würde sich hüten, zwei Kerle in Anzügen und mit einem Town Car an sich ranzulassen. Niemals ! Vor allem nicht in diesem Teil der Stadt. Da könnte er genauso gut ein Geständnis in die Zeitung setzen. Also war’s kein Treffen.«
»Okay.«
»Und wozu hätte er sie erschießen sollen ?«
»Weiß ich nicht.«
Ein anderer Mann sagte: »Dann muss der Schütze gleich von Anfang an hinten um Wagen gesessen haben. Sie sind zu dritt hergekommen.«
»Folglich ist der Schütze einer von ihnen ?«
»Muss so sein. Man lässt keinen Bewaffneten hinter sich sitzen, außer man kennt ihn.«
»Wo ist er jetzt ?«
»Er ist ausgestiegen und vielleicht von einem anderen Wagen mitgenommen worden. Nicht von einem weiteren Town Car. Der wäre jemandem aufgefallen.«
»Wie viele Leute in dem zweiten Wagen ?«
»Bestimmt zwei. Sie arbeiten immer paarweise.«
»Folglich war dies kein kleines Unternehmen«, sinnierte Dino. »Es hat einiges an Ressourcen, Planung und Koordinierung erfordert. Und an Geheimhaltung. Fünf Männer sind hier rausgefahren. Ich nehme an, dass zwei nicht wussten, was ihnen bevorstand.«
»Vermutlich nicht.«
»Aber welchen Zweck hatte das Ganze ? Was war die strategische Zielsetzung ?«
»Weiß ich nicht.«
»Warum hat er den Wagen angezündet ?«
»Weiß ich nicht«, wiederholte der Mann.
Dino sah sich am Tisch um.
Er fragte: »Sind wir uns also einig, dass der Schütze von Anfang an hinten im Auto gesessen hat und folglich einer von ihnen war ?«
Alle nickten, die meisten mit ernster Miene, als wäre dies eine gewichtige Schlussfolgerung, zu der sie nach mehrstündiger Beratung gelangt waren.
»Und wir wissen, dass er den Wagen angezündet hat, nachdem er die Typen auf den Vordersitzen erschossen hatte.«
Weiteres Nicken, diesmal rascher und lebhafter, weil manche Wahrheiten auf der Hand lagen.
»Wozu das alles ?«, fragte Dino.
Keiner antwortete.
Niemand wusste es.
»Irgendwie erinnert mich das an alte Mythen und Legenden«, sagte Dino. »Ausgesprochen symbolisch. Wie die Wikinger gefallene Krieger in ihren Booten verbrannt haben. Wie ein Opferritual. Als wollte Gregory uns ein Opfer darbringen.«
»Zwei seiner Männer ?«, fragte seine rechte Hand.
»Die Zahl ist bedeutsam.«
»Wieso ?«
»Wir bekommen einen neuen Polizeichef. Gregory darf keinen Krieg riskieren. Er weiß, dass er zu weit gegangen ist. Nun entschuldigt er sich. Er macht ein Friedensangebot. Er weiß, dass er im Unrecht ist. Das versucht er zu korrigieren. Er sorgt dafür, dass es sechs zu vier für uns steht. Als großzügige Geste. Damit wir uns nicht selbst zu bemühen brauchen. Damit beweist er, dass er unserer Ansicht ist. Er bestätigt, dass wir einen zahlenmäßigen Vorsprung haben sollten.«
Keiner äußerte sich dazu.
Das konnte niemand.
Dino stand auf und ging hinaus. Die anderen hörten seine Schritte im Vorzimmer, dann in der großen Wellblechhalle, in der sie verklangen. Sie hörten, wie sein Fahrer den Motor anließ. Sie hörten die Limousine wegfahren. Draußen war es wieder still.
Anfangs sprach niemand.
Dann fragte jemand: »Ein Opfer ?«
Danach kurzes Schweigen.
»Du bist anderer Meinung ?«, fragte Dinos rechte Hand.
»Wir täten so was nie. Folglich denkt auch Gregory nicht daran. Wozu sollte er ?«
»Du glaubst, dass Dino unrecht hat ?«
Eine bedeutungsschwere, gefährliche Frage.
Der Mann sah sich langsam um.
»Ich glaube, dass Dino nicht mehr ganz richtig im Kopf ist«, erklärte er. »Ein Brandopfer der Wikinger ? Das ist verrücktes Gerede.«
»Kühne Worte !«
»Bist du anderer Meinung ?«
Wieder Schweigen.
Dann schüttelte Dinos Vertrauter den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Ich stimme dir zu. Ich glaube nicht, dass es ein Friedensangebot oder ein Opfer war.«
»Was also sonst ?«
»Ich glaube, dass jemand von außen mitgemischt hat.«
»Wer ?«
»Ich glaube, dass jemand diese Kerle umgelegt hat, um Gregory gegen uns aufzuhetzen. Er wird uns angreifen, wir werden uns wehren. So vernichten wir uns letztlich gegenseitig. Damit irgendein Unbekannter profitiert. Damit er sich unsere Territorien aneignen kann. Das könnte dahinterstecken, denke ich.«
»Wer ?«, fragte der andere noch mal.
»Das weiß ich nicht. Aber wir kriegen’s raus. Und dann legen wir sie alle um. Sie sind völlig außer Rand und Band.«
»Das wäre Dino nicht recht. Er hält die Toten für ein Friedensangebot. Er glaubt, dass jetzt alles gut und harmonisch ist.«
»Wir dürfen nicht länger warten.«
»Willst du’s ihm vorher sagen ?«, fragte der Mann.
Dinos Vertrauter schwieg einen Augenblick.
Dann sagte er: »Nein, noch nicht. Er würde uns nur behindern. Diese Sache ist zu wichtig.«
»Bist jetzt du der neue Boss ?«
»Vielleicht. Wenn Dino nicht mehr ganz richtig im Kopf ist. Was übrigens du als Erster gesagt hast. Alle haben dich gehört.«
»Das war nicht abwertend gemeint. Aber dies ist ein sehr großer Schritt. Wir müssen uns genau überlegen, was wir tun. Sonst ist’s Verrat von der schlimmsten Sorte. Dafür lässt er uns alle liquidieren.«
»Also wird’s Zeit, sich für eine Seite zu entscheiden«, sagte der Vertraute. »Jetzt heißt’s, den Einsatz auf den Tisch zu legen. Wikingerrituale oder der Übernahmeversuch eines Außenstehenden ? Der kann uns sowieso schneller umbringen, als Dino das könnte.«
Der Mann, der als Erster gesprochen hatte, schwieg volle zehn Sekunden lang.
Dann fragte er: »Womit fangen wir an ?«
»Wir löschen den Brand. Karren das Wrack in die Schrottpresse. Dann fangen wir an, Fragen zu stellen. Zwei Wagen sind reingekommen. Einer war ein großer protziger Lincoln. Irgendjemand wird sich an das zweite Auto erinnern. Wir finden es, und dann finden wir den Kerl, der es gefahren hat, und kriegen aus ihm heraus, für wen er arbeitet.«
In diesem Augenblick war Reacher vier Blocks weit entfernt: im Wohnzimmer eines heruntergekommenen Reihenhauses, das einem Musiker namens Frank Barton gehörte. Barton war Abbys Freund im Ostteil der Stadt. Ebenfalls anwesend war Bartons Mitbewohner, ein Mann namens Joe Hogan, früher Marineinfanterist, jetzt ebenfalls Musiker. Genauer gesagt Schlagzeuger. Sein Drumkit nahm eine Hälfte des Raums ein. Barton spielte Bassgitarre. Sein Zeug nahm die andere Hälfte ein. Vier Instrumente auf Ständern, Verstärker, riesige Lautsprecherboxen. Dazwischen standen schmale Stühle mit dünnen, abgewetzten und fleckigen Sitzpolstern. Reacher hockte auf einem, Abby auf einem anderen und Barton auf dem dritten und letzten. Hogan saß auf dem Hocker hinter seinem Schlagzeug. Der weiße Toyota parkte draußen vor dem Haus.
Barton sagte: »Das ist verrückt, Mann. Ich kenne diese Leute. Ich spiele drüben in Klubs. Sie vergessen nie etwas. Abby kann nicht mehr dorthin zurück, niemals!«
»Außer ich finde Trulenko«, sagte Reacher.
»Was soll das bringen ?«
»Eine Niederlage in dieser Größenordnung würde manches verändern, glaube ich.«
»Wie ?«
Reacher gab keine Antwort.
Hogan erklärte: »Er will sagen, dass die Route zu einer wichtigen Zielperson wie Trulenko über die Führungsspitze der Organisation gehen muss. Folglich werden die Überlebenden anschließend kopflos herumrennen. Die Albaner werden sie verfrühstücken. Und danach gehört ihnen die ganze Stadt. Worüber die Ukrainer sich mal Sorgen gemacht haben, spielt keine Rolle mehr. Weil sie dann alle tot sind.«
Ein ehemaliger Marineinfanterist. Mit gutem strategischem Verständnis.
»Das ist verrückt«, sagte Barton noch mal.
Sechs Chancen, bevor die Woche zu Ende ist, dachte Reacher.
Gregorys Vertrauter klopfte an die innere Bürotür, trat ein und setzte sich vor den riesigen Schreibtisch. Er berichtete kurz, was bisher bekannt war. Zwei Typen waren vor Abigail Gibsons Haus postiert gewesen. Jetzt wurden sie vermisst. Sie reagierten nicht auf Handyanrufe. Ihr Lincoln befand sich nicht mehr dort, wo er hätte stehen müssen. Irgendjemand hatte sie aus dem Verkehr gezogen.
Gregory fragte: »Dino ?«
»Eher nicht.«
»Wie das ?«
»Vielleicht war er’s nie. Zumindest nicht anfangs. Wir haben bestimmte Dinge angenommen. Jetzt müssen wir die Fakten neu bewerten. Fangen wir mit den beiden ersten an, die bei dem Ford-Händler verunglückt sind. Wer war ihr letzter bekannter Kontakt ?«
»Sie sollten eine Adresse überprüfen.«
»Die von Aaron Shevick. Und wer wurde dabei beobachtet, dass er mit der Bedienung geflirtet hat, vor deren Haus jetzt unsere beiden Typen verschwunden sind ?«
»Aaron Shevick.«
»Zufälle gibt es nicht.«
»Wer ist er ?«
»Jemand hat ihn hergeschickt. Um Dino und dich gegeneinander aufzuhetzen. Damit wir einander vernichten. Damit dieser Jemand die Stadt übernehmen kann.«
»Wer ?«
»Das erzählt uns Shevick. Sobald wir ihn gefunden haben.«
Die Albaner karrten das noch rauchende Autowrack in die Schrottpresse und fingen dann an, sich umzuhören. Der innere Rat. Die Topleute. Ohne viel Erfahrung mit solchen Befragungen. Ihre Frage war verhältnismäßig einfach: Haben Sie einen Konvoi aus zwei Autos gesehen, von denen einer ein schwarzer Lincoln Town Car war ? Niemand belog sie. Das wussten sie ziemlich sicher. Den Leuten war klar, was Personen passierte, die das taten. Stattdessen zermarterten sich alle das Gehirn. Aber die Ergebnisse waren enttäuschend. Zum Teil auch, weil der Begriff »Konvoi« sperrig klang. Beispielsweise gab es in der Hauptverkehrszeit keine Konvois aus zwei, sondern aus hundertzwei Fahrzeugen. In der Innenstadt bestanden sie bestenfalls aus zweiundzwanzig Autos. Wer sollte wissen, welches die gesuchten zwei Fahrzeuge waren ? Die Leute wollten auf keinen Fall die falsche Antwort geben. Nicht, wenn die Topleute fragten.
Also wurde eine andere Möglichkeit gefunden, dieselbe Frage zu stellen. Nach ersten Ermittlungen stand fest, dass zum bewussten Zeitpunkt nur eine Handvoll schwarzer Lincolns unterwegs gewesen war. Vermutlich insgesamt sechs. Drei davon mit der von den Ukrainern bevorzugten Vollausstattung. Die Topleute forderten nun detaillierte Beschreibungen der Personen auf den Vordersitzen, denn wegen der getönten Heck- und Seitenscheiben waren nur sie sichtbar gewesen. Irgendwo steckte darin ein Konvoi aus zwei Autos.
Drei Zeugen erinnerten sich unabhängig voneinander an einen kleinen weißen Viertürer mit herabhängender vorderer Stoßstange. Alle sagten aus, er sei vor einem schwarzen Lincoln hergefahren, der sich bei Spurwechseln und dergleichen an ihm orientiert habe, als folgte er ihm. Aus dem Westteil der Stadt kommend, nach Osten unterwegs. Der Konvoi aus zwei Fahrzeugen.
Bei den kleinen weißen Viertürer handelte es sich vielleicht um einen Honda. Oder einen Hyundai, ebenfalls mit H. Oder vielleicht einen Kia. Oder irgendeine andere neue Marke ? Aber der Wagen war keineswegs neu, sondern ziemlich alt gewesen. Vielleicht ein Toyota ? Genau, ein Toyota Corolla. In einfachster Ausführung. Das schien festzustehen. Darin waren sich alle drei Zeugen einig.
Niemand hatte ihn wegfahren sehen.
Die Topleute alarmierten ihre Männer. Augen auf ! Ein alter weißer Toyota Corolla mit herabhängender vorderer Stoßstange. Jede Beobachtung sofort melden.
Inzwischen war es später Nachmittag, für Musiker eine vernünftige Zeit, ihren Tag zu beginnen. Hogan wärmte sich mit einem stetigen 4/4-Beat auf, die High-Hat klirrend, das Ride-Becken rhythmisch pulsierend. Barton steckte eine ziemlich ramponierte Fender ein und drehte die Lautsprecher auf, bis sie summten und brummten. Er spielte ein paar Takte, loopig und geschmeidig, hielt Takt mit dem Standtom, passte sich dem 4/4-Takt an und variierte die ursprüngliche Melodie. Nachdem Reacher und Abby eine Zeit lang zugehört hatten, machten sie sich auf die Suche nach dem Gästezimmer.
Es lag im ersten Stock: ein kleiner Raum über der Haustür mit einem runden Fenster, dessen Glas so wellig war, als wäre es hundert Jahre alt. Der Toyota parkte direkt darunter. Der Nachttisch neben dem französischen Bett war ein auf die Seite gelegter alter Verstärker. Einen Kleiderschrank gab es nicht. Stattdessen hatte jemand ein halbes Dutzend Messinghaken an die Wand geschraubt. Von unten drang das Wummern von Schlagzeug und Bassgitarre herauf.
»Nicht so hübsch wie bei dir«, meinte Reacher. »Tut mir leid.«
Abby schwieg.
Reacher sagte: »Ich hab die Kerle in dem Lincoln gefragt, wo Trulenko ist. Sie wussten es nicht. Also habe ich sie gefragt, wo ein cleverer Mensch ihn als Erstes suchen würde. An seinem Arbeitsplatz, haben sie gesagt.«
»Arbeitet er denn ?«
»Ich gebe zu, dass ich das nicht gedacht hätte.«
»Vielleicht als Gegenleistung dafür, dass er versteckt wird. Vielleicht hat er doch kein Geld gebunkert. Vielleicht muss er seine Überfahrt abarbeiten.«
»Das wäre schlimm«, sagte Reacher.
»Wieso sollte er sonst arbeiten ?«
»Vielleicht langweilt er sich.«
»Möglich.«
»Was würde er arbeiten ?«
»Nichts Körperliches«, sagte Abby. »Er hat ziemlich schmächtig ausgesehen. Sein Bild war ständig in der Zeitung. Er war jung, aber hatte schon Stirnglatze und Brille. Also wird er nicht im Steinbruch schuften, sondern in irgendeinem Büro sitzen. Wahrscheinlich als IT -Spezialist. Darin kannte er sich aus. Sein neuestes Produkt war eine App, die deine Vitaldaten an deinen Hausarzt übermittelt. In Echtzeit, für alle Fälle. Aber wie das funktionieren sollte, hat niemand genau verstanden. Jedenfalls ist Trulenko ein Theoretiker. Ein Tüftler.«
»Also sitzt er irgendwo im Westteil der Stadt in einem Büro. Mit angeschlossener Unterkunft oder einem Apartment ganz in der Nähe. Schwer bewacht. Vielleicht sogar in einem Bunker. Mit nur einem Eingang, der sich leicht verteidigen lässt. Dort hat niemand Zutritt außer bewährten, zuverlässigen Leuten.«
»Also kommst du nicht an ihn heran.«
»Ich gebe zu, dass das eine Herausforderung sein wird.«
»Praktisch unmöglich, denke ich.«
»Dieses Wort kenne ich nicht.«
»Wie groß wäre der Bunker – falls es einen gibt ?«
»Keine Ahnung«, sagte Reacher. »Vielleicht mit Platz für ein Dutzend Leute. Oder für mehr. Oder für weniger. Eine Art Nervenzentrum, in dem alle Meldungen zusammenlaufen. Du hast selbst gesagt, dass sie technisch auf der Höhe sind.«
»Viele geeignete Orte kann es nicht geben.«
»Siehst du ?«, meinte Reacher. »Wir machen bereits Fortschritte.«
»Zwecklos, wenn das Geld weg ist.«
»Seine Arbeitgeber besitzen bestimmt welches. Ich habe noch nie einen armen Gangster gekannt.«
»Die Shevicks können Trulenkos neuen Arbeitgeber nicht verklagen. Die haben nichts mit seiner Unterschlagung zu tun. Sie können nichts dafür.«
»Wenn’s so weit ist, könnte der Geist des Gesetzes wichtiger erscheinen als sein Buchstabe.«
»Du würdest es stehlen ?«
Reacher trat ans Fenster und sah auf die Straße hinunter.
»Der Capo dort drüben ist ein Mann namens Gregory«, erklärte er. »Ich würde ihn um eine Spende für wohltätige Zwecke bitten. Für unverschuldet in Not geratene Leute, von denen ich gehört habe. Ich könnte mehrere Argumente vorbringen, denen er sicher zustimmen würde. Und falls er irgendwie von Trulenkos Arbeit profitiert, wäre das nicht viel anders, als wenn das Geld direkt von Trulenko käme.«
Abby wirkte geistesabwesend, als sie jetzt eine Hand an ihre Wange legte.
»Von Gregory habe ich gehört«, sagte sie. »Bin ihm aber nie selbst begegnet.«
»Wieso hast du von ihm gehört ?«
Sie gab keine Antwort, schüttelte nur den Kopf.
Er fragte: »Was haben sie dir getan ?«
»Wer sagt, dass sie mir was getan haben ?«
»Du hast gerade zwei Tote gesehen. Jetzt rede ich davon, Menschen zu bedrohen und um ihr Geld zu bringen. Das ist eben meine Art. Wir stehen neben einem Doppelbett. Die meisten Frauen wären bereits unauffällig auf dem Weg zur Tür. Du aber nicht. Du magst diese Leute wirklich nicht. Das muss einen Grund haben.«
»Vielleicht mag ich dich wirklich.«
»Das hoffe ich«, sagte Reacher. »Aber ich bin Realist.«
»Ich erzähl’s dir später«, meinte sie. »Vielleicht.«
»Okay.«
»Was nun ?«
»Wir sollten deine Tasche holen. Und dein Auto anderswo abstellen. Ich will nicht, dass es direkt vor dem Haus parkt. Sie haben es schon vor dem Haus der Shevicks gesehen. Und andere könnten uns heute damit herumfahren gesehen haben. Wir sollten es einfach irgendwo anders abstellen. Das ist jedenfalls sicherer.«
»Wie lange werden wir so leben müssen ?«
»So lebe ich die ganze Zeit. Täte ich das nicht, wäre ich längst unter der Erde.«
»Frank hat gesagt, dass ich nie mehr nach Hause kann.«
»Und Hogan hat aufgezeigt, wie du’s doch kannst.«
»Wenn du Trulenko aufspürst.«
»Sechs Chancen, bevor die Woche rum ist.«
Sie gingen wieder nach unten und zum Auto hinaus. Abby hievte ihre Reisetasche vom Rücksitz und stellte sie in der Diele ab. Der Motor sprang beim zweiten Versuch an, und die Stoßstange scharrte über den Asphalt, als Abby aus der Parklücke rangierte. Sie fuhren im Zickzack durch verschiedene Stadtteile: durch ein schäbiges Wohnviertel und ein Gewerbegebiet mit Baustoff-, Elektro- und Sanitärgroßhandel sowie einem Holzlagerplatz. Danach folgten unterschiedliche Verfallsstadien bis hin zu mehrheitlich unbewohnten Straßenblocks wie der, auf dem der Lincoln gebrannt hatte.
»Hier ?«, fragte Abby.
Reacher schaute sich um. Überall Verwahrlosung. Keine Besitzer, keine Mieter, keine Bewohner. Keine Haustüren Unbeteiligter, die aufgebrochen werden konnten, wenn der Toyota hier entdeckt wurde. Geringes Risiko für Kollateralschäden.
»Einverstanden«, sagte er.
Abby parkte. Sie stiegen aus, schlossen den Wagen ab und verschwanden. Mehr oder weniger auf der Route, auf der sie hergekommen waren, aber mit einigen Abkürzungen. Ihre Umgebung wurde sauberer und gepflegter. Sie erreichten das Gewerbegebiet mit dem Baustoffhandel. In umgekehrter Reihenfolge kam als Erstes der Holzlagerplatz. An seiner Einfahrt stand ein Mann auf dem Gehsteig. Eine Art Wachmann. Vielleicht kontrollierte er ein- und ausfahrende Lastwagen. Vermutlich wurde auch Bauholz geschmuggelt oder geklaut.
Sie gingen an dem Mann vorbei, passierten nacheinander den Sanitär-, Elektro- und Baustoffgroßhandel und marschierten durch ein Gewirr aus kleinen Straßen weiter. Die Bassgitarre und das Schlagzeug hörten sie schon aus dreißig Metern Entfernung.
Die Meldungen trafen schnell ein, aber nicht schnell genug. Einer der Topleute nach dem anderen bekam hastige Anrufe auf seinem Handy. Ein alter weißer Toyota mit herabhängender vorderer Stoßstange war mal hier, mal dort auf der Straße gesehen worden. Anscheinend ohne bestimmtes Ziel kreuz und quer unterwegs. Generell jedoch in Richtung zu den verlassenen Blocks, in denen nicht mal Obdachlose hausten.
Dann kam der lohnende Anruf. Ein zuverlässiger Informant sah den Wagen in hundert Metern Entfernung langsamer werden, halten und parken. Zwei Personen stiegen aus. Die Fahrerin war eine zierliche Frau mit schwarzer Kurzhaarfrisur. Ende zwanzig oder Anfang dreißig, ganz in Schwarz gekleidet. Ihr Begleiter, ein Hüne, war älter, fast zwei Meter groß, bestimmt hundertzehn Kilo schwer und nachlässig gekleidet. Sie sperrten das Auto ab, gingen miteinander weg und kamen nach der ersten Ecke außer Sicht.
Alle diese Informationen wurden sofort durch Anrufe, Videobotschaften und Textnachrichten verbreitet. Schnell, aber nicht schnell genug. Den Mann am Tor des Holzlagerplatzes erreichten sie, ungefähr neunzig Sekunden nachdem eine zierliche schwarzhaarige Frau und ein hässlicher riesiger Kerl so nahe an ihm vorbeigelaufen waren, dass er sie hätte berühren können. Kostbare Minuten verstrichen, bis mehrere Autos organisiert waren, die sich auf die Suche nach den beiden machten.
Ohne Erfolg. Die zierliche Frau und der riesige Mann waren längst über alle Berge. Sie waren in einem eng bebauten Wohnviertel verschwunden, das ungefähr zehn Blocks mit Reihenhauszeilen umfasste. Mindestens vierhundert einzelne Adressen. Dazu Kellerwohnungen und Untervermietungen. Voller Gammler und Spinner, die zu allen Tages- und Nachtzeiten kamen und gingen oder nie das Haus verließen. Hoffnungslos.
Die Topleute erteilten neue Anweisungen. Augen auf ! Eine zierliche schwarzhaarige Frau, jünger, und ein großer hässlicher Kerl, älter. Sofort melden !
Da weder Barton noch Hogan an diesem Abend einen Gig hatten, beendeten sie ihre Probe, als Abby und Reacher zurückkamen, und schlugen vor, abends daheim zu chillen, vielleicht mit geliefertem chinesischem Essen, vielleicht einer Flasche Wein, vielleicht etwas Gras, um zu quatschen, Storys zu erzählen und allgemein auf den neuesten Stand zu kommen. Vielleicht bei ein paar Schallplatten. Das klang alles gut, bis Abbys Smartphone klingelte.
Der Anruf kam von Maria Shevick, die Aaron Shevicks Handy benutzte. Abby und sie hatten ihre Nummern ausgetauscht. Für Notfälle. Und dies schien einer zu sein. Maria sagte, vor ihrem Haus parke jetzt ein schwarzer Lincoln Town Car. Mit zwei Männern, die das Haus beobachteten. Sie standen schon den ganzen Nachmittag da und schienen bleiben zu wollen.
Abby gab das Telefon an Reacher weiter.
Er sagte: »Die Kerle suchen mich. Weil ich Trulenko erwähnt habe. Das macht ihnen Sorgen. Ignorieren Sie sie einfach.«
Maria fragte: »Was machen wir, wenn sie an die Haustür kommen ?«
Siebzig, gebeugt, halb verhungert .
Reacher antwortete: »Lassen Sie sie das Haus durchsuchen. Zeigen Sie ihnen, was sie sehen wollen. Dann wird ihnen klar, dass ich nicht da bin. Sie setzen sich wieder in ihr Auto und werden dann nur noch den Gehsteig im Auge behalten. Sollte relativ schmerzlos sein.«
»Also gut.«
»Gibt’s was Neues von Meg ?«
»Gute und schlechte Nachrichten«, erwiderte Maria.
»Die gute zuerst«, sagte Reacher.
»Ich denke, dass die Ärzte erstmals wirklich glauben, dass ihr Zustand sich gebessert hat. Das höre ich an ihrem Tonfall. Nicht, was sie sagen, sondern wie sie’s sagen. Sie drücken sich immer vorsichtig aus. Aber jetzt sind sie irgendwie aufgeregt und haben das Gefühl zu gewinnen. Das spüre ich deutlich.«
»Und die schlechte Nachricht ?«
»Sie wollen eine Bestätigung durch weitere Tests und Scans, die wir im Voraus bezahlen müssen.«
»Wie viel ?«
»Das wissen wir noch nicht. Aber bestimmt ein Haufen Geld. Heutzutage verfügen sie über erstaunliche Geräte. Die Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten haben sich dramatisch verbessert. Nur sind sie leider sehr teuer.«
»Wann ist die Zahlung fällig ?«
»Eine Hälfte von mir will, dass alles möglichst bald weitergeht. Und die andere bremst natürlich.«
»Sie sollten tun, was medizinisch notwendig ist. Alles andere findet sich.«
»Wir können uns das Geld nicht leihen«, entgegnete Maria. »Das würden Sie für uns tun müssen, weil die Kerle Sie für Aaron Shevick halten. Aber für Sie wäre das jetzt eine Falle, weil Sie nach Trulenko gefragt haben.«
»Aaron könnte sich unter meinem Namen Geld leihen. Oder unter einem anderen. Für die Kerle ist dieses Geschäft neu. Sie können nichts überprüfen. Zumindest vorläufig nicht. Das wäre eine Option, wenn Sie schnell Geld brauchen.«
»Sie sagten, Sie könnten Trulenko finden, weil so was zu Ihrem Job gehört hat.«
»Die Frage ist nur, wann«, erklärte Reacher. »Ich dachte, ich hätte bis Ende der Woche sechs Chancen. Jetzt sind’s vielleicht weniger. Das erfordert einen schnelleren Plan.«
»Ich muss mich für meinen Tonfall entschuldigen.«
»Nicht nötig«, wehrte Reacher ab.
»Wir stehen unter großem Stress.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Reacher.
Sie beendeten das Gespräch, und Reacher gab Abby das Smartphone zurück.
Barton mischte sich ein: »Das ist verrückt, Mann. Das sage ich immer wieder, weil’s wahr bleibt. Ich kenne diese Leute. Ich spiele in ihren Klubs und habe gesehen, wozu sie imstande sind. Ich erinnere mich an einen Pianisten, der Streit mit ihnen hatte. Sie haben ihm die Finger mit einem Hammer zertrümmert. Er hat nie wieder gespielt. Mit denen darf man sich nicht anlegen.«
Reacher sah zu Hogan und fragte: »Spielst du auch in ihren Klubs ?«
»Ich bin Schlagzeuger«, antwortete Hogan. »Ich spiele überall, wo ich bezahlt werde.«
»Du kennst diese Leute auch ?«
»Ich stimme Frank zu. Das sind keine angenehmen Menschen.«
»Was würde das Marine Corps gegen sie unternehmen ?«
»Nichts. Die Eierköpfe würden die SEAL s einsetzen. Viel glamouröser. Das Corps bliebe außen vor.«
»Was würden die SEAL s tun ?«
»Die würden erst mal gründlich planen. Mit Karten und Blaupausen. Stellen wir uns vor, dass es um irgendeine Art Bunker geht, würden sie Ausschau nach Notausgängen oder Ladebuchten oder Lüftungsschächten oder Schwachstellen halten, an denen sich Sprengladungen anbringen ließen. Dann würden sie gleichzeitige Angriffe an mehreren Punkten ins Auge fassen, mindestens drei oder vier, jeweils mit Drei- oder Vier-Mann-Teams. Das Unternehmen hätte vermutlich Erfolg, aber es könnte schwierig werden, noch jemanden zu finden, den man verhören kann. Es würde viel Kreuzfeuer geben. Das hinge von den Abmessungen und den Sichtverhältnissen ab.«
Reacher fragte: »Was warst du im Corps ?«
»Infanterist«, sagte Hogan.
»Nicht Musiker ?«
»Das wäre für das Corps zu logisch gewesen.«
»Warst du schon immer Schlagzeuger ?«
»Als Jugendlicher. Dann habe ich damit aufgehört. Aber im Irak wieder damit angefangen. Auf jedem großen Stützpunkt steht irgendwo ein Schlagzeug herum. Mir ist gesagt worden, ich würde die Ablenkung genießen. Und es würde mir gefallen, meine Grundkenntnisse aufzufrischen. Außerdem könnte ich damit eine Menge Aggressionen abbauen.«
»Wer hat dir dazu geraten ?«
»Ein alter Stabsarzt. Erst habe ich darüber gelacht, aber dann hatte ich wirklich Spaß daran. Mir ist klar geworden, dass ich Drummer hätte bleiben sollen. Seither bin ich auf einer Aufholjagd. Ich habe noch einiges zu lernen.«
»Du bist ziemlich gut, finde ich.«
»Du schmeichelst mir und versuchst das Thema zu wechseln. Du bist ein Einzelkämpfer, kein SEAL -Team.«
»Mir fällt schon was ein. Bestimmt gibt’s ein Dutzend besserer Pläne als alles, was der Navy einfiele. Ich müsste lediglich den Kerl finden.«
»Viele geeignete Orte kann es nicht geben«, meldete sich Abby wieder zu Wort.
Reacher nickte und schwieg. Um ihn herum ging die Unterhaltung weiter. Die anderen drei schienen gut befreundet zu sein. In der flexiblen Welt der Klubs mit Musik und Tanz und Männern in Anzügen an der Tür hatten sie gelegentlich zusammengearbeitet. Jeder von ihnen kannte Storys, manche komisch, andere nicht. Sie schienen keinen Unterschied zwischen Ukrainern und Albanern zu machen. Die Arbeitsbedingungen östlich und westlich der Center Street waren allem Anschein nach ziemlich gleich.
Ein junger Mann erschien mit dem Auto und brachte chinesisches Essen. Reacher teilte sich eine scharf-saure Suppe mit Abby und süß-saures Hühnerfleisch mit Barton. Die anderen tranken Wein. Er Kaffee. Als er ausgetrunken hatte, sagte er: »Ich mache einen Spaziergang.«
Abby fragte: »Allein ?«
»Nichts gegen dich persönlich.«
»Wohin ?«
»Westlich der Center Street. Ich muss diese Sache beschleunigen. Den Shevicks steht eine weitere hohe Rechnung ins Haus. Sie können nicht warten.«
»Verrückt, Mann«, meinte Barton.
Hogan äußerte sich nicht dazu.
Reacher stand auf und verließ das Haus.
Reacher ging nach Westen, auf den nächtlichen Lichtschein der hohen Gebäude in der Stadtmitte zu. Die Banken, die Versicherungen und der hiesige Fernsehsender. Alle beiderseits der Center Street konzentriert, alle auf der Managementebene von Ukrainern oder Albanern unterwandert, ohne es vielleicht zu ahnen, wenn nicht der Boss selbst der Maulwurf war. Unterwegs kam er an Bars, Klubs und Restaurants vorbei. Hier und da sah er Männer in Anzügen an der Tür stehen. Reacher ignorierte sie. Sie gehörten zur falschen Fraktion. Er befand sich noch östlich der Center Street. Er ging weiter.
Hätte er hinten Augen gehabt, hätte er gesehen, wie einer der Anzugträger sekundenlang angestrengt nachdachte und dann eine Textnachricht versendete.
Er ging weiter. Er überquerte die Center Street nördlich des ersten Hochhauses und gelangte in ein ganz ähnliches Viertel mit Bars, Klubs und Restaurants. Hier und da entdeckte er Männer in Anzügen an der Tür stehen, nur waren die Anzüge anders geschnitten, die Krawatten aus Seide und die Gesichter blasser. Diesmal beobachtete er sie aufmerksamer, möglichst aus den Schatten, um die Art Mann zu finden, die er suchte. Wach, aber nicht allzu wach, und taff, aber nicht allzu taff. Dafür gab es mehrere Kandidaten. Zwei standen an der Tür von Weinbars, einer vor einer Art Lounge. Vielleicht ein Kabarett.
Reacher entschied sich für den, dessen Platz dem Ausgang am nächsten war. Ein taktischer Vorteil. Der Türsteher der Lounge saß gleich hinter dem Glas. Reacher ging auf ihn zu. Der Kerl nahm eine Bewegung wahr. Drehte den Kopf leicht zur Seite. Reacher blieb stehen. Der Kerl starrte ihn an. Reacher bewegte sich weiter. Kam direkt auf ihn zu. Der Kerl erinnerte sich. Textnachrichten, Beschreibungen, Fotos, Namen. Aaron Shevick !
Reacher blieb erneut stehen.
Der Kerl holte sein Smartphone heraus und fing an, darauf herumzutippen.
Reacher zog seine Pistole und zielte auf ihn. Eine der beiden P7 von Heckler & Koch, die er in dem Lincoln erbeutet hatte. Bevor der Wagen in Flammen aufgegangen war. Deutsche Polizeiwaffen. Sehr präzise gearbeitet. Fast zierlich. Aber auch stählern und kantig. Der Typ erstarrte. Reacher war drei Schritte entfernt. Gerade genug Zeit. Die Versuchung war groß. Der Typ ließ das Handy fallen und griff nach der Pistole in seinem Schulterholster.
Nicht schnell genug.
Reacher war bei ihm, bevor er die Waffe halb gezogen hatte, und drückte ihm die Mündung der H&K aufs rechte Auge: fest genug, damit sie nicht abgeschüttelt werden konnte, fest genug, um den Kerl einzuschüchtern, der sofort wieder erstarrte. Reacher bückte sich und hob sein Smartphone mit der linken Hand auf, bevor er ihm die Pistole abnahm – eine weitere P7 von H&K wie die beiden, die er schon hatte. Vielleicht die Standardwaffe westlich der Center Street. Vielleicht als Sammelbestellung zu einem guten Preis erworben.
Mit der linken Hand steckte er das Smartphone und die Pistole ein, mit der rechten drückte er dem Mann die Mündung seiner Waffe in die Rippen.
»Los, wir machen einen kleinen Spaziergang«, sagte er.
Der Kerl stand leicht nach hinten gebeugt, um dem Druck auszuweichen, von seinem Hocker auf und ging durch die offene Tür rückwärts auf den Gehsteig hinaus, wo Reacher ihn nach rechts dirigierte. Nach sieben oder acht Schritten ließ er ihn erneut abbiegen: rückwärts in eine Durchfahrt mit Mülltonnen, deren Gestank sich mit Küchengeruch vermischte.
Reacher drückte ihn mit dem Rücken gegen die Wand.
Er fragte: »Wie viele Leute haben’s gesehen ?«
»Was gesehen ?«, fragte der Mann.
»Sie mit einer Pistole am Kopf.«
»Ein paar, schätze ich.«
»Wie viele sind Ihnen zu Hilfe gekommen ?«
Der Mann gab keine Antwort.
»Yeah, kein einziger«, sagte Reacher. »Keiner mag Sie. Keiner würde auf Sie pissen, wenn Sie in Flammen stünden. Also geht’s hier nur um uns beide. Niemand kommt angestürmt, um Sie zu retten. Ist das klar ?«
»Was wollen Sie ?«
»Wo ist Maxim Trulenko ?«
»Das weiß niemand.«
»Irgendjemand muss es wissen.«
»Nicht ich«, sagte der Kerl. »Ehrenwort ! Ich schwör’s beim Leben meiner Schwester.«
»Wo ist Ihre Schwester jetzt ?«
»Kiew.«
»Das macht Ihren Schwur eher theoretisch. Finden Sie nicht auch ? Versuchen Sie’s noch mal.«
»Bei meinem Leben«, sagte der Mann.
»Schon weniger theoretisch«, meinte Reacher. Er drückte fester zu. Die Pistolenmündung bohrte sich schmerzhaft in die Rippen des Kerls.
Der Kerl unterdrückte einen Aufschrei und sagte: »Ich schwöre, dass ich nicht weiß, wo Trulenko ist.«
»Aber Sie haben von ihm gehört.«
»Natürlich.«
»Arbeitet er jetzt für Gregory ?«
»Ja, das hab ich gehört.«
»Wo ?«
»Das weiß keiner«, entgegnete der Kerl. »Das ist ein großes Geheimnis.«
»Bestimmt ?«
»Beim Grab meiner Mutter.«
»Das wo liegt ?«
»Sie müssen mir glauben. Wo Trulenko sich aufhält, wissen nur eine Handvoll Leute. Ich gehöre nicht zu ihnen. Bitte, Sir, ich bin nur ein kleiner Türsteher.«
Reacher nahm die Pistole weg und trat einen Schritt zurück. Der Kerl rieb sich die schmerzende Stelle und starrte ins Halbdunkel, als versuchte er, sich Reachers Gesicht einzuprägen. Der trat ihm kräftig zwischen die Beine und ließ ihn zusammengekrümmt und alle möglichen Brech- und Würgelaute von sich gebend zurück.
Reacher gelangte ohne Schwierigkeiten auf die Center Street zurück. Seine Probleme begannen gleich danach. Östlich der Straße, was unverständlich war. Doch sicher die falschen Leute. Aber er spürte sofort, dass er beobachtet wurde. In diesen Blicken lag kein Wohlwollen. Das war eindeutig. Seine Nackenhaare sträubten sich. Irgendein uralter Instinkt. Eine Art sechster Sinn. Ein Überlebensmechanismus, der sich ihm im Lauf der Evolution tief eingeprägt hatte. Wie man nicht gefressen wurde. Über Zehntausende von Jahren hinweg erprobt. Eine Urahnin, die aus einem Fluchtreflex heraus ihre Richtung änderte, Ausschau nach Bäumen und Schatten hielt. Um zu überleben und später weiterkämpfen zu können. Um zu überleben und ein Kind haben zu können, dessen Nachkomme nun ebenfalls Schatten suchte, aber nicht auf grüner Savanne, sondern im grauen Großstadtdschungel, während er an beleuchteten Klubs, Bars und Restaurants vorbeihastete.
Es waren Männer in Anzügen, die ihn beobachteten. Kerle, die einer Organisation angehörten. Unverkennbar. Aber weshalb ? Das wusste er nicht. Hatte er auch die Albaner gegen sich aufgebracht ? Eigentlich nicht. Nach ihren primitiven Maßstäben hatte er ihnen schon mehr als einen Gefallen getan. Sie hätten einen Festzug für ihn veranstalten sollen.
Er blieb in Bewegung.
Er hörte Schritte hinter sich.
Er ging weiter. Buchstäblich und im übertragenen Sinn lag der Lichterglanz der Center Street längst hinter ihm. Die Straßen waren eng und dunkel, wurden mit jedem Schritt schäbiger. Hier gab es geparkte Autos, Einfahrten und tief im Schatten liegende Hauseingänge. Zwei Drittel aller Straßenlampen brannten nicht. Fußgänger waren keine unterwegs.
Seine Art Umgebung.
Er blieb stehen.
Es gab mehr als nur eine Methode, nicht gefressen zu werden. Grandmas Instinkt hatte damals funktioniert. Tausende von Generationen später funktionierte der Instinkt ihres Nachkommen auch für die Zukunft. Für immer. Weil er effizienter war. Das Prinzip der natürlichen Auslese. Er blieb eine Minute im Halbschatten stehen, dann trat er in tieferen Schatten zurück und horchte.
Er hörte eine Ledersohle wie feines Sandpapier auf dem Gehsteig scharren. Zehn, zwölf Meter hinter ihm. Irgendeine hastig arrangierte Überwachung. Irgendein Kerl, der von seinem Hocker gescheucht und plötzlich in die Nacht hinausgeschickt worden war. Um ihm zu folgen. Aber wie lange ? Das war die entscheidende Frage. Ganz bis nach Hause oder nur bis zu einem in aller Eile organisierten Hinterhalt ?
Reacher wartete. Noch mal das leise Scharren, als der Kerl einen vorsichtigen Schritt machte. Er drückte sich tiefer in den Schatten. In einen Hauseingang. Presste sich gegen behauene Steinrippen. Der schicke Eingang eines längst vergessenen Unternehmens. Zu seiner Zeit bestimmt lukrativ.
Wieder das Scharren. Jetzt nur noch sechs bis sieben Meter entfernt. Näher kommend. Aus der Gegenrichtung war außer den Hintergrundgeräuschen der Stadt nichts Bedrohliches zu vernehmen. Dazu abgestandene Luft und der schwache Geruch von Ruß und Ziegeln.
Er hörte weitere Schritte. Nun war der Abstand auf etwa fünf Meter geschrumpft. Er wartete. Der Kerl war praktisch schon in Reichweite. Aber noch ein paar Schritte würden alles einfacher machen. Er stellte sich den Ablauf schon mal bildlich vor und steckte eine Hand in die Tasche mit der H&K, die er schon einmal benützt hatte. Weil er sicher wusste, dass sie funktionierte. Immer ein Vorteil.
Ein weiterer Schritt. Der Kerl war auf weniger als vier Meter heran. Nicht klein. Das Geräusch seiner Schritte hörte sich an wie ein breit knirschendes, schweres Scharren. Ein großer Mann, der sich leise zu bewegen versuchte.
Jetzt nur mehr drei Meter entfernt.
Showtime.
Reacher trat vor und baute sich vor dem Kerl auf. Die H&K schimmerte im Halbdunkel. Er zielte damit aufs Gesicht des Mannes. Der begann zu schielen, als er die Pistole bei dem schlechten Licht zu fixieren versuchte.
Reacher befahl: »Keinen Laut !«
Der Kerl blieb stumm. Reacher horchte über seine Schulter hinweg. Hatte der Typ einen zweiten Mann hinter sich ? Anscheinend nicht. Jedenfalls war nichts zu hören. In beiden Richtungen nur Stadtgeräusche und abgestandene Luft.
Reacher fragte: »Haben wir ein Problem ?«
Der Kerl war eins achtzig groß und etwa neunzig Kilo schwer, Anfang vierzig, hager und sehnig, ganz aus Knochen, Muskeln und misstrauischen dunklen Augen bestehend. Seine Lippen hatte er zu einem starren Grinsen verzogen, das besorgt, fragend oder verächtlich sein konnte.
»Haben wir ein Problem ?«, fragte Reacher noch mal.
»Sie sind ein toter Mann«, antwortete der Kerl.
»Bisher nicht«, sagte Reacher. »Tatsächlich sind Sie diesem traurigen Zustand näher als ich. Finden Sie nicht auch ?«
»Legen Sie sich mit mir an, legen Sie sich mit einem Haufen Leute an.«
»Lege ich mich mit Ihnen an ? Oder Sie mit mir ?«
»Wir wollen wissen, wer Sie sind.«
»Warum ? Was habe ich euch getan ?«
»Über meiner Besoldungsstufe. Ich soll Sie bloß mit zurückbringen.«
»Na, dann viel Glück dabei«, entgegnete Reacher.
»Leicht zu sagen mit einer Pistole in der Hand.«
Reacher schüttelte im Dunkeln den Kopf.
»Immer leicht zu sagen«, meinte er.
Er trat einen Schritt zurück und steckte die H&K wieder ein. Dann stand er mit leeren Händen da, die Handflächen leicht nach außen gekehrt, die Arme locker herabhängend.
»Besser ?«, fragte er. »Jetzt können Sie mich mitnehmen.«
Der Kerl machte keine Bewegung. Er war eine gute Handbreit kleiner, wog ungefähr zwanzig Kilo weniger und hatte einen Viertelmeter weniger Reichweite. Offenbar unbewaffnet, denn sonst hätte er seine Waffe längst gezogen. Anscheinend auch durch Reachers Blick eingeschüchtert, der ruhig und gelassen und leicht amüsiert wirkte, aber auch eindeutig gefährlich und sogar ein bisschen verrückt.
Keine Situation, die man sich wünschte.
Reacher sagte: »Vielleicht können wir dasselbe Ergebnis auf etwas andere Weise erreichen.«
Der Kerl fragte: »Wie ?«
»Geben Sie mir Ihr Handy. Teilen Sie Ihrem Boss mit, dass er mich anrufen soll. Dann sage ich ihm, wer ich bin. Die persönliche Note ist immer besser.«
»Ich darf Ihnen mein Handy nicht geben.«
»Ich nehm’s mir sowieso. Sie können sich aussuchen, wann.«
Der Blick. Ruhig und gelassen, amüsiert, gefährlich, leicht verrückt.
Der Kerl sagte: »Okay.«
Reacher sagte: »Rausholen und auf den Gehsteig legen.«
Das tat der Mann.
»Jetzt drehen Sie sich um.«
Das tat der Mann.
»Jetzt laufen Sie weg, so schnell und weit Sie können.«
Das tat der Mann. Er setzte zu einem athletischen Spurt an und wurde fast augenblicklich von der Dunkelheit verschluckt. Seine Schritte hallten noch durch die Straße, als er längst nicht mehr zu sehen war. Diesmal versuchte er nicht, sich verstohlen zu bewegen. Reacher horchte auf das Knirschen, Klatschen und Gleiten, bis es schwächer werdend verhallte. Dann hob er das Smartphone auf und ging weiter.
Drei Straßenblocks von Bartons Haus entfernt zog Reacher seine Jacke aus, faltete sie quadratisch zusammen, rollte das Quadrat auf und steckte es in den verrosteten Briefkasten eines einstöckigen Bürogebäudes mit verschalten Fenstern und Brandschäden an der Fassade. Die restliche Strecke legte er im T-Shirt zurück. Die Nachtluft fühlte sich kühl an. Schließlich war es noch Frühling. Die Sommerhitze stand erst bevor.
Hogan wartete in Bartons Diele auf ihn. Der Schlagzeuger. Ein ehemaliger Marineinfanterist. Ein Drummer auf Aufholjagd.
»Alles okay ?«, wollte er wissen.
»Hast du dir Sorgen um mich gemacht ?«, fragte Reacher.
»Professionelle Neugier.«
»Ich hab nicht mit den Rolling Stones gespielt.«
»Ich meine meinen früheren Beruf.«
»Ziel erreicht«, sagte Reacher.
»Welches genau ?«
»Ich wollte ein ukrainisches Handy. Anscheinend schicken sie sich viele Textnachrichten. Ich denke, dass man sie mitlesen und so erfahren könnte, was sie vorhaben. Vielleicht wird irgendwann auch Trulenko erwähnt. Vielleicht kann ich dafür sorgen, dass sie in Panik geraten und ihn umquartieren. Das wäre dann die beste Gelegenheit.«
Abby kam die Treppe herunter. Noch immer angezogen.
Sie sagte: »Hi.«
Reacher sagte: »Selbst hi.«
»Ich habe alles mitgehört. Ein guter Plan. Aber legen sie das Handy nicht einfach ferngesteuert still ? Dann hörst du nichts von ihnen und sie nichts von dir.«
»Ich habe den Kerl, dem ich’s weggenommen habe, ziemlich gut ausgesucht. Er war relativ kompetent. Deshalb relativ vertrauenswürdig. Vielleicht in relativ hoher Stellung. Also jemand, der ungern eingestehen würde, dass ich sein Smartphone erbeutet habe. Aus verletztem Stolz wird er den Verlust nicht so schnell melden. Ich glaube, dass mir wenigstens ein paar Stunden bleiben.«
»Okay, ein guter Plan, aber ?«
»Aber ich verstehe nichts von Smartphones. Ich kenne mich nicht mit den Menüs aus. Man kann auf alle möglichen Knöpfe drücken. Aus Versehen könnte ich sogar etwas löschen.«
»Okay, zeig’s mir.«
»Und selbst wenn ich nichts lösche, sind die Nachrichten vermutlich auf Ukrainisch verfasst. Das ich ohne Übersetzungshilfe aus dem Internet nicht lesen kann. Und ich verstehe wirklich nicht viel von Computern.«
»Das wäre der zweite Schritt. Wir müssten mit dem Handy anfangen. Zeig’s mir.«
»Ich hab’s nicht mitgebracht«, erklärte Reacher. »Der Kerl in dem Lincoln hat behauptet, es könnte geortet werden. Ich wollte nicht, dass die Typen fünf Minuten später hier vor der Tür stehen.«
»Wo ist’s also ?«
»Ich hab es drei Blocks von hier entfernt versteckt. Das ist mir sicher genug erschienen. Pi mal Radius im Quadrat. Sie müssten fast dreißig Blocks durchsuchen. Das würden sie nicht mal versuchen.«
Abby sagte: »Okay, sehen wir’s uns mal an.«
»Außerdem hab ich ein albanisches Handy, zu dem ich eher zufällig gekommen bin. Ich möchte es ebenfalls auswerten. Vielleicht kann ich rauskriegen, was sie plötzlich gegen mich haben.«
»Sie haben etwas gegen dich ?«
»Sie haben einen Kerl auf mich angesetzt. Sie wollen wissen, wer ich bin.«
»Das braucht nicht viel zu bedeuten. Du bist hier neu. Alle neuen Gesichter interessieren sie.«
»Schon möglich.«
Hogan sagte: »Es gibt einen Mann, mit dem du reden solltest.«
Reacher fragte: »Welcher Mann ?«
»Er kommt manchmal, wenn ich spiele. Ein ehemaliger Soldat wie du.«
»Army ?«
»Das heißt: Sind noch lange keine Marines.«
»Und Marine heißt: Muskeln werden verlangt, Intelligenz wird nicht erwartet.«
»Dieser Kerl, den ich meine, spricht etliche alte Ostblocksprachen. Er war gegen Ende des Kalten Krieges als Kompaniechef drüben. Und er weiß im Allgemeinen, was hier in der Stadt läuft. Er könnte hilfreich sein. Oder wenigstens nützlich. Vor allem in Bezug auf die Sprachen. Allein auf eine Computerübersetzung solltest du dich nicht verlassen. Dafür ist diese Sache zu wichtig. Wenn du willst, könnte ich ihn anrufen.«
»Kennst du ihn gut ?«
»Er ist in Ordnung. Hat guten Musikgeschmack.«
»Traust du ihm ?«
»Wie jedem Exsoldaten, der kein Drummer ist.«
»Okay«, sagte Reacher. »Ruf ihn an. Kann nicht schaden.«
Abby und er gingen in die stille Nacht hinaus, und Hogan blieb mit seinem Smartphone in der Hand in der schwach beleuchteten Diele zurück.
Reacher und Abby legten die drei Blocks lange Strecke auf Umwegen zurück. Ließen die Handys sich wirklich orten, waren sie vielleicht schon in ihrem offensichtlich vorläufigen Versteck entdeckt worden. In diesem Fall würde der Fundort überwacht werden, um Abholer schnappen zu können. Da war es besser, vorsichtig zu sein. Oder so vorsichtig wie möglich, denn es gab Schatten, Einfahrten und tiefe Hauseingänge, und zwei Drittel aller Straßenlampen funktionierten nicht. Für nächtliche Überwacher gab es genug geeignete Verstecke.
Reacher sah den verrosteten Briefkasten vor ihnen. Im ersten Drittel des nächsten Blocks. Er sagte: »Wir tun so, als unterhielten wir uns angeregt, und bleiben am Briefkasten stehen, als würden wir einen speziellen Punkt erörtern.«
»Verstanden«, sagte Abby. »Und dann ?«
»Dann ignorieren wir den Briefkasten völlig und gehen weiter. Aber dann schweigsam.«
»Unterhalten wir uns richtig ? Oder bewegen wir wie in einem Stummfilm nur die Lippen ?«
»Vielleicht flüsternd. Als redeten wir über geheime Informationen.«
»Wann beginnend ?«
»Jetzt«, sagte Reacher. »Geh einfach weiter. Nicht langsamer werden.«
»Worüber soll ich reden ?«
»Was dich gerade beschäftigt, denke ich.«
»Im Ernst ? Vielleicht begeben wir uns in eine sehr gefährliche Lage. Das beschäftigt mich.«
»Du hattest dir vorgenommen, jeden Tag etwas zu tun, das dich ängstigt.«
»Ich habe mein Soll längst übererfüllt.«
»Und du lebst noch.«
»Wir könnten mit einem Feuerhagel empfangen werden.«
»Mich erschießen sie nicht. Sie wollen mich ausfragen.«
»Bist du dir da sicher ?«
»Hier geht’s um psychologische Dynamik. Wie auf der Bühne. Nicht unbedingt eine Frage, die sich mit Ja oder Nein beantworten lässt.«
Der Briefkasten war fast erreicht.
»Gleich bleiben wir stehen«, flüsterte Reacher.
»Und geben ein stationäres Ziel für sie ab ?«
»Nur so lange es dauert, ein wichtiges imaginäres Argument vorzubringen. Dann gehen wir weiter. Aber ganz ruhig, okay ?«
Reacher blieb stehen.
Abby blieb stehen.
Sie sagte: »Welches wichtige imaginäre Argument ?«
»Was dich gerade bewegt.«
Sie schwieg einen Augenblick.
Dann sagte sie: »Nein. Was mich bewegt, ist die Tatsache, dass ich mich nicht dazu äußern will, was mich bewegt. Noch nicht.«
»Los«, sagte er.
Sie gingen weiter. So leise wie nur möglich. Drei Schritte. Vier.
»Okay«, sagte Reacher.
Abby fragte: »Was ist okay ?«
»Keiner da.«
»Und woher wissen wir das ?«
»Das möchte ich von dir hören.«
Sie überlegte einen Moment, dann sagte sie: »Wir waren still, weil wir gehorcht haben.«
»Und was haben wir gehört ?«
»Nichts.«
»Genau. Wir haben am Ziel haltgemacht und niemanden gehört, der aus einem Versteck tritt. Dann sind wir weitergegangen und haben niemanden gehört, der wieder in sein Versteck verschwunden ist und sich entspannt oder nervös darauf wartet, dass ein Plan B durchgegeben wird. Folglich ist niemand hier.«
»Klasse.«
»Bisher«, sagte Reacher. »Aber wer weiß, wie lange so was dauert ? Damit kenne ich mich nicht aus. Sie könnten jeden Augenblick auftauchen.«
»Was sollten wir also tun ?«
»Ich denke, wir sollten die Handys anderswo hinbringen. Dann müssen sie die Suche von vorn beginnen.«
Zwei Blocks südlich von ihnen sahen sie Scheinwerfer aus einer Querstraße kommen. Wie eine ferne Vorwarnung. Sekunden später bog ein Wagen links ab und fuhr auf sie zu. Langsam. Vielleicht suchend. Oder vielleicht mit einem Fahrer, der nachtblind war oder getrunken hatte. Schwer zu beurteilen. Den Scheinwerfern nach war es eine große Limousine.
»Achtung«, sagte Reacher.
Nichts. Der Wagen rollte an ihnen vorbei, unbeirrbar langsam, unbeirrbar geradeaus. Ein alter Cadillac. Seine Fahrerin blickte weder nach links noch nach rechts. Eine kleine alte Lady, die kaum übers Lenkrad schauen konnte.
Abby sagte: »Jedenfalls sollten wir uns beeilen. Wie du ganz richtig festgestellt hast, wissen wir nicht, wie lange so was dauert.«
Sie machten vier Schritte zurück, und Reacher zog seine zusammengerollte Jacke aus dem verrosteten Briefkasten.
Abby nahm die Smartphones an sich. Darauf bestand sie. Wieder auf Umwegen gingen sie drei Blocks weiter und fanden eine noch geöffnete Bodega. Kein Mann im Anzug an der Tür. Tatsächlich nirgends ein Anzug. Der Wirt hinter der Theke trug ein weißes T-Shirt. Die wenigen anderen Gäste saßen an einem runden Tisch im vorderen Bereich. Der neonhelle kleine Raum stand voller summender Getränkekühlschränke. An der Rückwand war ein Zweiertisch frei.
Reacher holte zwei Pappbecher Kaffee und brachte sie an den Tisch. Abby hatte die Smartphones nebeneinander vor sich liegen. Sie betrachtete sie zweifelnd, als wäre sie halb begierig, ihnen ihre Geheimnisse zu entreißen, und halb ängstlich, als sendeten die Geräte pulsierende SOS -Signale in den Äther. Finde mich, finde mich.
Was sie auch taten.
Sie fragte: »Kannst du dich erinnern, welches wem gehört hat ?«
»Nein«, antwortete er. »Für mich sehen sie alle gleich aus.«
Sie schaltete eines ein. Kein Passwort erforderlich. Das war schneller, verriet eine gewisse Arroganz und machte den Inhalt leichter zugänglich. Sie klickte und wischte sich durch alle möglichen Bildschirme. Reacher sah eine senkrechte Anordnung grüner Textblasen. Texte. Rätselhafte ausländische Wörter, aber in lateinischer Schrift. Manche Buchstaben waren verdoppelt, andere hatten hoch- oder tiefgesetzte Akzente. Umlaute und Cedillen.
»Albanisch«, erklärte Reacher.
Draußen fuhr ein Auto vorbei. Langsam. Das bläuliche Streulicht seiner Scheinwerfer leuchtete das kleine Lokal aus, dann verschwand es wieder. Abby schaltete das zweite Smartphone ein. Ebenfalls kein Passwort. Sie fand weitere lange Ketten grüner Textblasen. Alle in kyrillischer Schrift. Nach St. Kyrill benannt, der im neunten Jahrhundert an Alphabeten gearbeitet hatte.
»Ukrainisch«, erklärte Reacher.
»Hier sind Hunderte von Texten gespeichert«, sagte Abby. »Mindestens. Vielleicht sogar Tausende.«
Draußen fuhr ein weiterer Wagen vorbei. Schneller.
Reacher fragte: »Kannst du die Daten feststellen ?«
Abby scrollte nach oben, dann sagte sie: »Seit gestern mindestens fünfzig. Ein paar mit deinem Foto.«
Wieder fuhr ein Auto vorbei. Diesmal langsamer. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Als suchte jemand etwas oder wollte auf der nur schwach beleuchteten Straße nichts übersehen. Der Fahrer war sekundenlang sichtbar: ein dunkel gekleideter Mann, dessen Gesicht von der Instrumentenbeleuchtung geisterhaft erhellt wurde.
»Albanische Texte sind’s auch nicht weniger«, sagte Abby. »Vielleicht sogar mehr.«
»Was machen wir jetzt ?«, fragte Reacher. »Die Handys zu Frank mitzunehmen wäre gefährlich. Aber wir können diesen ganzen Scheiß auch nicht auf Servietten abschreiben. Wir würden Fehler machen. Und das würde ewig dauern. Dafür reicht die Zeit nicht.«
»Pass gut auf«, sagte Abby.
Sie zog ihr eigenes Smartphone heraus, rückte das ukrainische Handy vor sich zurecht, hielt ihr eigenes darüber, richtete es parallel aus und veränderte den Winkel, bis sie zufrieden war.
»Machst du ein Foto ?«, fragte Reacher.
»Video«, entgegnete sie. »Sieh her.«
Sie hielt ihr eigenes Smartphone in der linken Hand und scrollte mit dem rechten Zeigefinger in mäßigem Tempo durch die Textnachrichten auf dem erbeuteten Handy, fünf Sekunden, zehn, fünfzehn, zwanzig. Dann war sie am Ende der Kette angelangt und beendete die Aufnahme.
Das Gleiche machte sie mit dem albanischen Telefon. Fünf Sekunden, zehn, fünfzehn, zwanzig.
»Klasse gemacht«, meinte Reacher. »Jetzt sollten wir diese Handys anderswo deponieren. Hier dürfen wir sie nicht lassen. Der Wirt hat es nicht verdient, dass ein Schlägertrupp bei ihm aufkreuzt.«
»Wo also ?«
»Ich stimme wieder für den Briefkasten.«
»Aber das ist der Ground Zero ihrer Suche. Sind sie ein bisschen spät dran, könnten sie ungefähr jetzt dort aufkreuzen.«
»Tatsächlich hoffe ich, dass die Dinger nicht senden können, wenn sie in einem kleinen Metallkasten liegen. Dann gibt’s auch keine Suche.«
»Sie hätten die Handys nicht orten können ?«
»Vermutlich nicht.«
»Dann waren wir also nie in Gefahr ?«
»Bis wir sie rausgeholt haben.«
»Wie lange dauert so was ?«
»Wir waren uns darüber einig, dass wir’s beide nicht wissen.«
»Muss es unbedingt dieser Briefkasten sein? Wie wär’s mit dem nächsten, der auftaucht ?«
»Keine Kollateralschäden«, sagte Reacher. »Für alle Fälle.«
»Du weißt es nicht wirklich, stimmt’s ?«
»Nicht unbedingt eine Frage, die sich mit Ja oder Nein beantworten lässt.«
»Können die Dinger senden oder nicht ?«
»Ich kann nur Vermutungen anstellen. Davon verstehe ich nichts. Aber ich höre die Leute reden. Sie jammern ständig darüber, dass Gespräche unterbrochen werden. Aus allen möglichen Gründen, die mir viel harmloser erscheinen, als in einem Metallkasten eingesperrt zu sein.«
»Aber im Augenblick liegen sie hier auf dem Tisch, also besteht eine gewisse Gefahr.«
Reacher nickte.
»Die mit jeder Minute zunimmt«, sagte er.
Damit die Last innerhalb der Truppe gleich verteilt war, trug diesmal Reacher die Smartphones. Auf der Straße waren viele Autos unterwegs. Viele hüpfende, springende, blendende Scheinwerferpaare. Alle möglichen Marken und Modelle. Aber keine Lincoln Town Cars. Keine plötzlichen Tempo- oder Richtungsänderungen. Anscheinend interessierte sich niemand für sie.
Sie legten die Handys in den Briefkasten und drückten die quietschende Klappe zu. Diesmal behielt Reacher seine Jacke. Nicht nur, um es warm zu haben, sondern wegen der Pistolen in den Taschen. Dann machten sie sich auf den Rückweg zu Bartons Haus. Sie kamen nicht mal anderthalb Blocks weit.
Das hatte nichts mit komplexen Triangulationen von Handysignalen oder bis auf einen halben Meter genauen GPS -Positionsmeldungen zu tun. Viel später erkannte Reacher, dass alles nach herkömmlicher Methode abgelaufen war. Irgendein Mensch in irgendeinem Auto hatte sich an die letzte Einsatzbesprechung erinnert. Das war alles. Achtet auf einen Mann und eine Frau.
Reacher und Abby bogen rechts ab, um bei nächster Gelegenheit wieder nach links zu gehen. Nun waren sie auf dem schmalen Gehsteig einer gepflasterten Straße unterwegs, die rechts von einer ununterbrochenen Linie von Ladebuchten hinter den Gebäuden der Parallelstraße und links von in lockeren Abständen geparkten Autos begrenzt wurde. Einer der Wagen stand entgegen der Fahrtrichtung. Auffällig war, dass er nicht wie die anderen taunass aussah. In der halben Sekunde, die Reachers Gehirn brauchte, um diese Informationen zu verarbeiten, öffnete sich die Autotür. Erst erschien die Pistole des Fahrers, dann seine Hand, zuletzt der Mann selbst. Er kauerte athletisch gewandt hinter der Tür, die ihm Deckung bot, und zielte durchs offene Fahrerfenster.
Zuerst auf Reacher. Dann auf Abby. Dann wieder auf ihn. Und wieder auf sie. Hin und her. Wie in einem Kriminalfilm. Der Mann machte klar, dass er beide im Visier hatte. Er trug einen blauen Anzug. Und eine schmale rote Krawatte.
Mich erschießen sie nicht. Sie wollen mich ausfragen.
Hier geht’s um psychologische Dynamik. Wie auf der Bühne.
Nicht unbedingt eine Frage, die sich mit Ja oder Nein beantworten lässt.
Die Pistole war eine Glock 17, leicht verkratzt und abgenutzt. Der Kerl hielt sie mit beiden Händen. Die Handgelenke lagen auf dem Fensterrahmen, sein Zeigfinger lag am Abzug. Der Schwenk von links nach rechts und wieder zurück wurde ruhig vollzogen. Kompetent, wenn man davon absah, dass ein Kauern keine stabile Haltung darstellte – und auch sinnlos, weil eine Autotür keinen Schutz vor Schüssen bot. Besser als Alufolie, aber nicht sehr. Ein cleverer Typ hätte gestanden und seine Handgelenke auf die Tür gelegt. Viel imponierender. Und eine gute Ausgangsposition für das, was als Nächstes kam: gehen, rennen oder kämpfen.
Der Kerl mit der Pistole rief: »Lasst eure Hände, wo ich sie sehen kann.«
Reacher fragte: »Haben wir ein Problem ?«
Der Kerl antwortete: »Ich habe kein Problem.«
»Okay«, sagte Reacher. »Gut zu wissen.« Er wandte sich Abby zu und erklärte ihr leiser: »Du könntest zur Ecke zurückgehen, wenn du möchtest. Ich komme in einer Minute nach. Der Mann will mir ein paar Fragen stellen, das ist alles.«
Aber der Kerl rief: »Nein, sie bleibt. Alle beide.«
Ein Mann und eine Frau.
Reacher wandte sich ihm wieder zu und nutzte diese Gelegenheit, um unauffällig einen Schritt vorwärts zu machen.
Er fragte: »Wozu sollen wir bleiben ?«
»Fragen.«
»Gut, dann fang an.«
»Die Fragen stellt mein Boss.«
»Wo ist er ?«
»Hierher unterwegs.«
»Was will er ?«
»Bestimmt alles Mögliche.«
»Okay«, entgegnete Reacher. »Stecken Sie die Pistole weg, und kommen Sie dort raus, dann können wir gemeinsam warten. Gleich hier auf dem Gehsteig. Bis Ihr Boss kommt.«
Der Kerl kauerte weiter hinter seiner Tür.
Die Pistole bewegte sich nicht.
»Schießen dürfen Sie sowieso nicht«, sagte Reacher. »Ihr Boss würde es nicht mögen, wenn er eintrifft und uns tot oder verletzt, unter Schock stehend oder im Koma vorfindet. Oder wegen einer traumatischen Belastungsstörung zitternd und kaum ansprechbar. Er will uns Fragen stellen. Er will vernünftige Antworten, mit denen er etwas anfangen kann. Außerdem würden die Cops Ihnen das nicht durchgehen lassen. Ich weiß nicht, welche Vereinbarungen Sie mit ihnen getroffen haben. Ein Schuss auf offener Straße würde sie bestimmt auf den Plan rufen.«
»Sie halten sich wohl für clever, was ?«
»Nein, aber ich hoffe, dass Sie’s sind.«
Die Pistole bewegte sich nicht.
Was in Ordnung war. Wichtig war der Abzug. Genauer gesagt der Zeigefinger am Abzug. Der mit dem Zentralnervensystem des Mannes verbunden war. Das durch Zweifel und Gedanken und Vermutungen blockiert werden konnte.
Oder zumindest entscheidend verlangsamt.
Reacher tat einen weiteren Schritt nach vorn. Dabei hob er die linke Hand mit nach vorn gekehrter Handfläche zu einer halb beschwichtigenden, halb drängenden Geste, als gäbe es ein wichtiges Problem zu lösen. Der Blick des Mannes folgte dem sich bewegenden Objekt, sodass er nicht mitbekam, wie Reachers rechte Hand sich ebenfalls bewegte. Sie griff unauffällig in seine rechte Tasche mit der H&K, von der er mit Sicherheit wusste, dass sie funktionieren würde.
Der Kerl sagte: »Aber wir warten im Auto. Nicht auf dem Gehsteig.«
»Okay«, sagte Reacher.
»Mit geschlossenen Türen.«
»Klar.«
»Sie auf dem Rücksitz, ich vorn.«
»Bis Ihr Boss kommt«, sagte Reacher. »Dann kann er vorn bei Ihnen einsteigen und seine Fragen stellen. Ist das der Plan ?«
»Bis dahin halten Sie den Mund.«
»Klar«, wiederholte Reacher. »Sie haben gewonnen. Schließlich sind Sie der Mann mit der Pistole. Wir steigen ein.«
Der Kerl nickte zufrieden.
Der Rest war einfach. Der Mann hielt die Pistole nicht mehr mit beiden Händen, sondern stützte seine linke Hand mit gespreizten Fingern auf den Fenstergummi, als wollte er damit signalisieren, dass ein Abkommen erzielt sei, obwohl er sich in Wirklichkeit nur aufstützte, um aus seiner Hocke hochzukommen. Was nicht ganz einfach war, weil seine Beine steif und gefühllos sein mussten. Dabei geriet die Pistole etwas außer Kontrolle, indem ihre Mündung nach oben zielte, was man ebenfalls als Geste hätte deuten können, als wäre die unmittelbare Bedrohung zugunsten neuer Kooperation zurückgezogen worden. Tatsächlich handelte es sich hier jedoch um einen Gewichtsausgleich durch die Verlagerung der Glock 17 in nur eine Hand.
Reacher ließ die H&K in seiner Tasche.
Er machte einen großen Schritt vorwärts und trat gegen die Autotür. Sie schlug nach innen und traf den Mann an den Knien. Dieser kleine Impuls reichte aus, um ihn langsam, aber unaufhaltsam nach hinten kippen zu lassen, bis er hilflos wie eine Schildkröte auf dem Rücken landete. Als seine Hände instinktiv versuchten, seinen Fall zu bremsen, schlug die Glock auf den Gehsteig, löste sich aus seinem Griff und schlitterte davon. Aber der Kerl wälzte sich sofort zur Seite und sprang im nächsten Augenblick wieder auf, als wäre nichts passiert – binnen einer Sekunde aus der Horizontalen in die Senkrechte. Athletisch wie zuvor, als er aus dem Wagen gestiegen war. Alles das bedeutete, dass Reacher einen halben Schritt zu spät dran war.
Der Kerl tänzelte seitwärts aus dem Bereich der noch immer offenen Autotür, dann änderte er plötzlich seine Richtung, indem er sich nach vorn beugte und Reachers Gesicht mit einer Geraden zu treffen versuchte, die Reacher kommen sah und mit der rechten Schulter abblockte. Der mit harten Knöcheln geführte Schlag war nicht allzu kräftig, aber der Wechsel zwischen Aktion und Reaktion ließ eine kleine Lücke entstehen, die der Mann mit seiner Beweglichkeit ausnützte, um erneut wegzutänzeln, zu Boden zu sehen und Ausschau nach seiner Pistole zu halten.
Körperlich konnte man Reacher ebenfalls als athletisch bezeichnen, aber er war eher ein schwerfälliger Kraftsportler mit der Brutalität eines Gewichthebers. Schnell, aber nicht wirklich schnell. Er konnte seine Bewegungsrichtung nicht sofort ändern. Das bedeutete, dass er sich manchmal für eine halbe Sekunde in einer Art Leerlaufstellung befand, die der Kerl jetzt ausnützte, um einen weiteren Schlag auszuführen, den Reacher erneut abblockte. Wie zuvor tänzelte der Kerl wieder weg, scharrte mit den Füßen, suchte im Halbdunkel den Gehsteig ab. Reacher rückte mit halben Schritten weiter vor: verhältnismäßig langsam, doch schwer aufzuhalten – vor allem nicht mit schwachen Schlägen, wie der Mann sie anbrachte, den sein Herumhopsen allmählich anstrengen musste.
Der Kerl tänzelte weg.
Reacher rückte weiter vor.
Der Kerl fand seine Pistole.
Sein Schuh berührte sie seitlich und ließ sie mit typischem Kunststoffgeräusch ein kleines Stück weit über den Gehsteig scharren. Der Kerl erstarrte kaum merklich, nur einen Herzschlag lang, während er überlegte, was er tun sollte. Dann bückte er sich blitzschnell danach, wollte sie mit der rechten Hand packen, festhalten und in Sicherheit bringen. Eine instinktive Reaktion auf der Grundlage von Raum, Zeit und Geschwindigkeit. Zweifellos hatte er die beträchtlichen eigenen Fähigkeiten ebenso berücksichtigt, wie er die seines Gegners einberechnet hatte, sodass er – auch mit einem Sicherheitszuschlag für den schlimmsten Fall – darauf vertrauen konnte, dank seiner Schnelligkeit sehr gute Chancen zu haben. Reachers eigene instinktive Berechnung kam zu dem gleichen Ergebnis. Er stimmte mit dem Kerl überein. Dass er die Glock 17 vor ihm erreichte, war unmöglich.
Allerdings wirkten sich manche seiner körperlichen Nachteile nicht nur ungünstig aus. Seine Arme und Beine waren langsam, weil sie schwer, aber auch lang waren. Was seine Beine betraf, sogar sehr lang. Auf dem linken Fuß stehend trat er mit dem weit vorgestreckten rechten Fuß zu: eine wuchtige Ausholbewegung, die auf irgendeinen Körperteil des Kerls abzielte – jeden Teil, jederzeit, was sich gerade bot.
Was sich gerade bot, war der Kopf des Mannes. Ein Zufallsergebnis, weil mit den um den Zeitfaktor erweiterten drei Dimensionen etwas schiefgegangen war. Sein leichtes Zögern, dazu Reachers instinktiver steinzeitlicher Tritt, der mit uralter Alles-oder-nichts-Aggression angereichert war. Der Kerl entschied sich dafür, den Kopf hochzuhalten und seinen Arm auszustrecken, um die Pistole besser aufheben und sich mit ihr wegdrehen zu können, aber Reacher war schon da wie ein Batter, der bei einem Fastball vorzeitig zuschlägt, ein eindeutiges Foul. Der Kerl wurde gleich zu Beginn des Schwungs mit voller Wucht getroffen, seine Schläfe von der Zehenkappe an Reachers Stiefel, kein perfekter Treffer, aber nahe dran. Der Kopf des Kerls flog nach hinten. Der Mann sackte zusammen, seine Beine scharrten über den Asphalt, und er blieb auf dem Gesicht liegen.
Reacher behielt ihn im Auge.
Er fragte: »Siehst du irgendwo seine Pistole ?«
Der Kerl bewegte sich nicht.
Abby antwortete: »Ich sehe sie.«
»Heb sie auf. Finger und Daumen, Griff oder Lauf.«
»Ja, ich weiß.«
»Wollte mich nur vergewissern. Das ist immer sicherer.«
Sie kam herangeflitzt, hob die Glock auf und flitzte wieder weg.
Der Mann bewegte sich noch immer nicht.
Sie fragte: »Was machen wir jetzt mit ihm ?«
Reacher sagte: »Wir sollten ihn lassen, wo er ist.«
»Und was dann ?«
»Wir sollten sein Auto klauen.«
»Wozu ?«
»Sein Boss ist hierher unterwegs. Wir müssen die richtige Art Nachricht hinterlassen.«
»Du kannst ihnen nicht den Krieg erklären.«
»Das haben sie ihrerseits längst getan. Nämlich mir. Aus keinem offensichtlichen Grund. Daher schlage ich jetzt kräftig zurück. So signalisiere ich ihnen, dass sie ihre Taktik überprüfen sollten. Das ist die übliche diplomatische Reaktion. Wie ein Zug auf dem Schachbrett. Sie bekommen eine Chance zu Verhandlungen, als wäre weiter nichts passiert. Ich hoffe, dass sie das auch so sehen.«
Abby erklärte: »Wir reden hier von sämtlichen Albanern. Du bist allein. Frank hat recht. Das ist verrückt.«
»Aber es passiert gerade«, sagte Reacher. »Wir können die Uhr nicht zurückdrehen. Wir können uns diese Situation nicht wegwünschen. Wir können nur versuchen, sie möglichst gut zu meistern. Deshalb dürfen wir das Auto nicht zurücklassen. Das wäre zu mild, zu schwächlich. Als wollten wir sagen: ›Huch, war nicht so gemeint.‹ Als wäre dies ein Versehen gewesen. Wir müssen auf die Pauke hauen. Wir müssen signalisieren: ›Legt euch nicht mit uns an, sonst kriegt ihr einen Tritt an den Kopf und seid euren Wagen los.‹ Dann nehmen sie uns ernst. Sie werden taktisch vorsichtiger, ziehen auf jeden Fall stärkere Kräfte zusammen.«
»Das ist schlecht.«
»Nur wenn sie uns finden. Tun sie’s nicht, entstehen durch diese Zusammenballung anderswo größere Lücken, die wir nutzen können.«
»Um was zu erreichen ?«
»Letzten Endes ein persönliches Gespräch mit dem Big Boss. Gregorys Gegenspieler.«
»Dino«, sagte Abby. »Das ist verrückt !«
»Er ist ein Kerl. Genau wie ich. Wir könnten unsere Meinungen austauschen. Bestimmt ist alles nur ein Missverständnis.«
»Ich muss in dieser Stadt arbeiten. Auf dieser oder jener Seite der Center Street.«
»Dafür muss ich mich entschuldigen.«
»Das solltest du auch.«
»Deshalb müssen wir die Sache richtig anfangen. Wir müssen auf Sieg spielen.«
»Okay, wir stehlen das Auto.«
»Oder wir könnten es anzünden.«
»Stehlen ist besser«, meinte sie. »Ich möchte so schnell wie möglich von hier weg.«
Sie fuhren den Wagen vier Blocks weit bis zu einem Platz, auf dem mehrere gesichtslose Straßen zusammentrafen. Dort ließen sie ihn an einer Ecke stehen: alle vier Türen offen, ebenso die Motorhaube und der Kofferraumdeckel. Irgendwie symbolisch. Dann kehrten sie auf weiten Umwegen zu Bartons Haus zurück und kontrollierten alle vier Seiten des Straßenblocks, bevor sie an seiner Tür klingelten. Er war noch auf, erwartete sie mit Hogan.
Und mit einem weiteren Mann, den Reacher noch nie zuvor gesehen hatte.
Der dritte Mann in Bartons Diele hatte die Art Haare und Haut, die Leute zehn Jahre jünger aussehen lässt, als sie tatsächlich sind, sodass er in Wirklichkeit zu Reachers Generation gehörte. Er war jedoch kleiner und adretter, hatte wachsame Augen, die auf beiden Seiten einer Adlernase tief in ihren Höhlen lagen. Eine widerspenstige Locke seines ziemlich langen Haars fiel ihm immer wieder in die Stirn, wenn er sie zurückstrich. Er war recht ordentlich angezogen: gute Schuhe, Cordhose, Oberhemd und Tweedjacke.
Joe Hogan sagte: »Dies ist der Mann, von dem ich euch erzählt habe. Der Exsoldat, der die ganzen alten Ostblocksprachen kennt. Er heißt Guy Vantresca.«
Reacher streckte ihm die Hand hin.
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er.
»Gleichfalls«, entgegnete Vantresca. Er schüttelte erst Reacher, dann Abby die Hand.
Reacher sagte: »Sie sind schnell hergekommen.«
»Ich war noch wach«, sagte Vantresca. »Ich wohne ganz in der Nähe.«
»Danke, dass Sie uns helfen wollen.«
»Tatsächlich bin ich aus einem anderen Grund hier. Ich wollte Sie warnen. Sie dürfen sich nicht mit diesen Leuten anlegen. Zu viele, zu clever, zu gut vernetzt. Das wäre meine Einschätzung.«
»Waren Sie beim Nachrichtendienst ?«
Vantresca schüttelte den Kopf.
»Panzer«, sagte er.
Kompaniechef im letzten Stadium des Kalten Krieges, hatte Hogan gesagt.
»Wie viele ?«, fragte Reacher.
»Vierzehn«, antwortete Vantresca. »Meine eigenen. Alle mit Front nach Osten. Schöne Zeiten.«
»Wo haben Sie die Sprachen gelernt ?«
»Ich dachte, wir würden siegen. Ich dachte, ich könnte einen Bezirk verwalten müssen. Ich wollte eine Flasche Wein in einem Restaurant bestellen oder Mädchen kennenlernen können. Das liegt alles lange zurück. Außerdem hat Onkel Sam dafür gezahlt. Damals hat die Army noch Wert auf Bildung gelegt. Viele haben ein Zusatzstudium angehängt.«
Reacher sagte: »Zu viele und zu clever sind subjektive Urteile. Über solche Dinge können wir später noch mal reden. Aber zu gut vernetzt ist etwas anderes. Was wissen Sie darüber ?«
»Ich bin als Unternehmensberater tätig. Meist geht’s um die physische Sicherheit von Gebäuden. Aber ich höre manches und werde vieles gefragt. Als ein staatlich finanziertes Projekt letztes Jahr US -Verbrechensstatistiken verglichen hat, waren die beiden gesetzestreuesten Gruppen im ganzen Land die ukrainischen und albanischen Gemeinden hier in unserer Stadt. Die kriegen nicht mal Strafzettel wegen Falschparkens. Das lässt auf sehr gute Verbindungen zu allen Ebenen der hiesigen Polizei schließen.«
»Aber irgendwo muss es eine rote Linie geben. Ich habe einen von ihnen gewarnt, dass nächtliche Schüsse auf der Straße die Polizei alarmieren wurden, und er hat mir nicht widersprochen. Ich glaube, er war sogar meiner Meinung, denn er hat nicht abgedrückt.«
»Außerdem bekommen wir einen neuen Polizeichef. Das macht sie nervös. Trotzdem passiert in ihren jeweiligen Gebieten noch vieles unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Im Allgemeinen geht’s nicht um Schießereien auf offener Straße. Es geht darum, dass jemand ein freundschaftliches Gespräch mit einem potenziellen Zeugen führt, meist in seinem Haus, oft an einem bedeutungsvollen Ort wie einem Zimmer seiner kleinen Tochter. Dabei wird besprochen, was für eine verrückte Sache das menschliche Gedächtnis ist, was es aufzeichnet und was nicht, wie es schwankende Bilder malt und einem Streiche spielt, sodass es durchaus keine Schande ist, bedauernd zu sagen: ›Hör zu, Mann, ich kann mich einfach nicht mehr erinnern.‹ Leute, die ich kenne, erzählen mir, wie sehr das ihre Ermittlungen erschwert, sodass die meisten letztlich eingestellt werden.«
»Wie viele sind dort draußen unterwegs ?«
»Zu viele. Wie ich gesagt habe: Zu viele, zu clever, zu gut vernetzt. Lassen Sie lieber die Finger davon.«
»Wo hat Ihre Kompanie in der Schlachtordnung gestanden ?«
»Ziemlich an der Speerspitze«, sagte Vantresca.
»Mit anderen Worten vom ersten Tag an hoffnungslos in der Unterzahl.«
»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Aber ich hatte vierzehn M1 Abrams, die besten Panzer der Welt. Kampfmaschinen wie aus einem Science-Fiction-Roman. Ich war nicht in Zivil in der Fulda-Lücke unterwegs.«
»Wie alle Angehörigen in der Panzertruppe sind Sie ein Maschinenfetischist. Davon abgesehen waren Sie offenbar der Überzeugung, tödlicher als Ihr Gegner zu sein. In der Unterzahl, aber kampfstärker. Rein zahlenmäßig war der Warschauer Pakt Ihnen dreifach überlegen. Aber trotzdem hätten Sie Ihre Motoren angelassen, wenn der Befehl dazu gekommen wäre.«
»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen«, sagte Vantresca noch mal.
»Und Sie haben erwartet zu siegen«, fuhr Reacher fort. »Deshalb haben Sie diese Sprachen gelernt. Die alles sind, was ich im Augenblick wirklich brauche. Ich gehe Schritt für Schritt vor. Erst muss ich wissen, was in den Textnachrichten steht, dann muss ich das Gelernte anwenden, um mir zu überlegen, wie es weitergehen soll. Das bedeutet noch keine Kampfbereitschaft. Und es erfordert keine Warnungen.«
»Was ist, wenn Sie erfahren, dass Ihr Vorhaben aussichtslos ist ?«
»Das wäre kein akzeptables Ergebnis. Kann nur ein Planungsfehler sein. Das haben Sie damals in Deutschland bestimmt gelernt.«
»Okay«, sagte Vantresca. »Schritt für Schritt.«
Sie setzten sich in die Küche und fingen mit den ukrainischen Texten an. Vantresca bewunderte Abbys Video. Clever, zweckmäßig und effizient. Sein Zeigefinger tippte in unregelmäßigen Abständen auf den Bildschirm, Play, Pause, Play, Pause, und er las die jeweiligen Texte laut vor, erst langsam und stockend, dann flüssiger, aber immer wieder mit Pausen.
Linguistisch gab es von Anfang an große Probleme. Dies waren Textnachrichten voller Slang, Abkürzungen und Akronymen, aber anscheinend auch voller Rechtschreibfehler, falls das keine bewussten Vereinfachungen waren, auf die man sich möglicherweise eigens für dieses Medium geeinigt hatte. Das wusste niemand. Vantresca erklärte, für diese Aufgabe brauche er vor allem Zeit. Er müsse nicht nur aus einer schwierigen Fremdsprache übersetzen, sondern zugleich eine Verschlüsselung knacken. Oder vielleicht sogar zwei wegen der versteckten Anspielungen und Auslassungen, mit denen jeder anständige Gangster arbeiten würde.
Abby holte ihren Laptop, arbeitete neben ihm am Küchentisch sitzend, schlug einzelne Wörter in Online-Wörterbüchern nach oder versuchte, die Abkürzungen und Akronyme aufzulösen, indem sie Sprachen-Blogs und Nerd-Wörterlisten im Internet konsultierte. Die Ergebnisse notierte sie auf Zetteln. Einige Puzzleteilchen ließen sich so einfügen, aber trotzdem ging die Arbeit langsam voran. Niemals hatte so wenig so viel ergeben. Sie hatte das Video hastig aufgenommen, fünf, zehn, zwanzig Sekunden lang, während sie weiter und weiter scrollte. Das verschwommene Video generierte jetzt Tausende und Abertausende von Wörtern, viele mit unbekannter Bedeutung, manche sogar doppel- oder mehrdeutig.
Reacher ließ sie arbeiten und saß zusammen mit Barton und Hogan im Wohnzimmer zwischen dem Schlagzeug und den Lautsprechersäulen. Eine graue Box sah kühlschrankgroß aus; unter ihrem Frontgitter zeichneten sich acht kreisrunde Lautsprecher ab. Als Reacher sich auf dem Fußboden sitzend mit dem Rücken dagegenlehnte, gab sie keinen Millimeter nach. Barton nahm seine verkratzte Fender auf die Knie und spielte sie unplugged: mit sanften, kaum hörbaren Tonleitern und Akkorden.
»Glaubst du, dass wir gesiegt hätten ?«, fragte Hogan. »Dass Vantresca seine Sprachkenntnisse hätte brauchen können ?«
»Alles in allem glaube ich, dass wir gewonnen hätten«, sagte Reacher. »Rein technisch gesehen hätten wir sie vermutlich ausgeschaltet, bevor wir von ihnen ausgeschaltet worden wären. Schwierig, so was als Sieg zu bezeichnen, wenn man das Chaos bedenkt, das zurückgeblieben wäre. Aber die Speerspitze wäre längst pulverisiert gewesen. Euer Freund hat seine Zeit auf der Sprachenschule vergeudet, fürchte ich.«
Barton spielte ein Arpeggio, einen von oben nach unten gespielten gebrochenen Akkord, den er mit einem Schlag auf die unterste Saite beendete. Mit Verstärker wäre das ein Knall gewesen, der das Haus erschüttert hätte. Unplugged klirrte die Saite lediglich auf den Bünden, und diese Töne verhallten rasch. Barton sah Reacher an und sagte: »Die Speerspitze bist jetzt du.«
»Ich bin nicht scharf darauf, einen Krieg anzufangen«, entgegnete Reacher. »Ich will nur das Geld der Shevicks. Gibt es einen leichten Weg, es zurückzuholen, beschreite ich ihn sofort, das könnt ihr mir glauben. Ich habe kein Bedürfnis, ihnen in offener Feldschlacht gegenüberzutreten. Mir wär’s lieber, wenn sich das vermeiden ließe.«
»Das wirst du dir nicht aussuchen können. Sie müssen Trulenko ziemlich gut versteckt haben. Schichten über Schichten. Das habe ich schon oft erlebt, wenn ein Prominenter einen ihrer Klubs besucht. Sie haben einen Mann an der Ecke, einen Mann an der Tür und mehrere Kerle im Raum verteilt.«
»Was fällt dir noch zu Trulenko ein ?«
»Er war ein Computerfreak wie alle diese Leute. Ich weiß noch, wie ich mir früher vorgenommen habe, nicht auch so zu werden. In der Highschool war ich echt cool. Jetzt sind die Freaks Milliardäre, und ich verdiene mir mühsam meinen Lebensunterhalt. Ich hätte Programmierer, nicht Musiker werden sollen.«
»Was täte er, wenn er arbeiten würde ?«
»Arbeitet er denn ?«
»Jemand hat davon gesprochen.«
»Er macht todsicher irgendwas mit Computern. Darin war er echt gut. Einer der Besten. Seine App hatte etwas mit Ärzten zu tun, aber im Prinzip sind das alles Software-Anwendungen, stimmt’s ?«
Abby steckte den Kopf zur Tür herein.
»Wir sind so weit«, verkündete sie. »Wir können mit den Ukrainern anfangen. Trulenko wird zweimal erwähnt.«
Vantresca machte das Video vorführbereit, aber bevor er es zeigte, sagte er noch: »Auffällig ist, dass lauter unheimlicher Scheiß passiert. Abgesehen von allem anderen sind sie auf hundertachtzig, weil sie Leute verlieren. Zwei Kerle sind bei einem Unfall auf dem Gelände des Ford-Händlers umgekommen. Dann sind zwei Abkassierer im Restaurantbezirk erschossen und zwei weitere Kerle in einem Massagesalon umgelegt worden. Und zuletzt sind zwei Männer vor Abbys Haus verschwunden. Macht insgesamt acht Leute.«
»Dort draußen lebt man gefährlich«, meinte Reacher.
»Interessant daran ist, dass sie für die ersten sechs die Albaner verantwortlich gemacht haben. Aber das hat sich bei den beiden letzten Kerlen geändert. Jetzt sollen Sie der Schuldige sein. Außerdem glauben sie, dass hier heimlich Leute aus New York oder Chicago unterwegs sind, um Unfrieden zu stiften. Nach Ihnen wird steckbrieflich gefahndet, Reacher. Unter dem Namen Shevick, was sich letztlich zu einem großen Problem auswachsen könnte.«
Vantresca schaltete Abbys Smartphone ein und ließ das Video ablaufen. Anfangs im Originaltempo der Aufnahme. Auf dem Bildschirm war ihr rechter Zeigefinger zu sehen, der durch die Textnachrichten scrollte. Dann machte Vantresca eine Pause, begann noch mal von vorn und suchte, bis er eine bestimmte Stelle gefunden hatte. Ein Foto über einem Text: Aaron und Maria Shevick mit Abigail Gibson in der Diele des Hauses der Shevicks. Alle drei besorgt und leicht ängstlich wirkend. Reacher erinnerte sich an das Geräusch, das er hinter der Küchentür versteckt gehört hatte. Das leise, kratzige Klicken. Ein Smartphone, das eine Kamera imitierte.
Vantresca sagte: »Im Text darunter steht, dass diese Leute Jack, Joanna und Abigail Reacher sind.«
Dann scrollte er weiter, machte bei der fünften Sprechblase halt und erklärte: »Hier wissen sie bereits, dass sie Abby Gibson, nicht Abigail Reacher ist. Wenig später wird ein Kerl zu ihrem Arbeitsplatz geschickt, der herausfinden soll, wo sie wohnt.«
Noch ein schneller Vorlauf.
»Und hier haben sie ihre Adresse und schicken einen Wagen zu ihrem Haus, um sie holen zu lassen, falls sie dort angetroffen wird.«
»Ende gut, alles gut«, meinte Reacher.
»Es wird noch schlimmer«, sagte Vantresca. Er scrollte zu einer großen grünen Sprechblase vom selben Tag weiter, in der unter demselben Foto ein Textblock in kyrillischer Schrift stand. Vantresca las laut vor: »Wie gemeldet wurde, war die alte Frau namens Joanna Reacher (siehe Foto) heute in unserem Pfandhaus, wo sie mit Maria Shevick unterschrieben hat.«
»Scheiße«, sagte Reacher. »Das war deren Pfandhaus ?«
»Damit hätte sie rechnen müssen. Westlich der Center Street gehört ihnen praktisch alles. Das Problem ist, dass sie ihren richtigen Namen genannt hat. Das macht es immerhin wahrscheinlich, dass sie auch ihre richtige Adresse und Sozialversicherungsnummer angegeben hat. Damit sind diese Leute nur noch einen Schritt davon entfernt, sie als Aaron Shevicks Ehefrau zu identifizieren. Und ab dann braucht man kein Genie zu sein, um rauszukriegen, wer wirklich wer ist. Ich vermute, dass sie blitzschnell gehandelt haben und schon vor dem Haus der Shevicks auf der Lauer liegen.«
»Aber das hat sie in eine existenzielle Krise gestürzt. Wollen sie den Aaron Shevick, der wirklich so heißt, oder den Aaron Shevick, der sich Geld von ihnen geliehen hat und jetzt anscheinend einen Feldzug gegen sie führt ? Worin liegt letztlich das Wesen der Identität ? Das ist eine Frage, mit der sie sich auseinandersetzen müssen.«
»Sind Sie ein West Pointer ?«
»Woran haben Sie das gemerkt ?«
»Das war Bullshit vom Feinsten. Diese Sache könnte verdammt ernst werden. Natürlich wollen die Kerle den richtigen Mann, aber ihnen ist’s egal, ob bei der Suche nach ihm Porzellan zerschlagen wird. Beginnend in diesem Haus.«
Reacher nickte.
»Ja, ich weiß«, räumte er ein. »Die Lage ist bereits ernst. Die Shevicks sind über siebzig. Aber ich sehe nicht, was ich für ihre physische Sicherheit tun könnte. Nicht Tag und Nacht. Das einzig vernünftige Mittel wäre eine Umquartierung an einen sicheren Ort. Aber wohin ? Dafür fehlen mir die Ressourcen.« Er machte eine Pause, dann sagte er: »Normalerweise würde ich ihnen in dieser Situation raten: ›Zieht für einige Zeit zu eurer Tochter.‹ Das täten sie sicher liebend gern.«
Als Nächstes rief Vantresca eine fette Sprechblase vom Vorabend auf. »Hier erwähnen Sie den Namen Trulenko erstmals gegenüber dem Türsteher der Bar, in der Abby gearbeitet hat. Anschließend nimmt das Gespräch zwei Richtungen. Zunächst geht es um Sie. Die Kerle können nicht verstehen, wie ein bescheidener kleiner Kreditnehmer dazu kommt, diese Frage zu stellen. Das sind zwei verschiedene Welten. Daraus entsteht die Theorie, Sie seien ein von einer anderen Organisation entsandter Provokateur.«
»Und die andere Linie betrifft Trulenko selbst«, meldete sich Abby zu Wort. »Er wird zweimal erwähnt. Erst wird sein Status überprüft, dann folgt eine Gefahrenanalyse. Die negativ ausfällt. Alles sicher. Aber eine Stunde später fangen sie an, sich Sorgen zu machen.«
»Weil sie mich nicht erwischt haben«, sagte Reacher. »Als du mich von der Straße reingeholt hast. Sie wussten, dass ich noch dort draußen unterwegs war.«
Vantresca fuhr fort: »Um die Bewachung zu verstärken, haben sie vier Crews von ihren normalen Aufgaben abgezogen. Die bereits eingeteilten Wachen sollten sich zurückziehen und als Trulenkos Leibgarde fungieren. Das nennen sie Situation B, die einen bestimmten Grad von Abwehrbereitschaft bezeichnet. Sie ist offenbar geplant, vermutlich geübt und vielleicht schon mehrmals ausgerufen worden.«
»Okay«, sagte Reacher. »Eine Crew besteht woraus ? Aus zwei Männern in einem Wagen ?«
»Anscheinend.«
»Das wären insgesamt acht Leute. Die wie viele andere Wachen verstärken ? Wie viele befanden sich im Alltag ohne Bedrohungspotenzial im Einsatz ? Vermutlich nicht mehr als vier, wenn sie dann problemlos als seine Leibgarde fungieren können. Also ziehen vier sich zurück, und acht weitere bilden den äußeren Verteidigungsring.«
»Sie gegen zwölf Kerle.«
»Nicht, wenn ich die richtige Stelle finde, an der ich durch den Verteidigungsring schlüpfen kann.«
»Also bestenfalls vier Kerle.«
»Dazu kommt’s vorerst nicht – es sei denn, die acht Männer hätten genaue Anweisungen erhalten, wo sie ihren Wachdienst antreten sollen. Eine Adresse wäre nützlich.«
Vantresca gab keine Antwort.
Reacher sah zu Abby hinüber.
Sie sagte: »Wohin sie kommen sollen, ist genau angegeben.«
»Aber ?«
»Das ist ein unglaublich schwieriges Wort. Ich hab’s überall nachgeschlagen. Ursprünglich muss es einen Bienenstock, ein Nest oder einen Bau bezeichnet haben. Oder eine Mischung aus allen dreien. Oder etwas dazwischen. Für etwas, das gesummt oder gebrummt oder gekrabbelt hat. Wie viele alte Wörter war es biologisch ungenau. Heutzutage wird es anscheinend nur als Metapher benutzt. Wie in einem Film, in dem der verrückte Wissenschaftler in seinem Labor gezeigt wird – von blinkenden Maschinen und knisternder Elektrizität umgeben. So wird es gebraucht.«
»Wie ein Nervenzentrum.«
»Genau.«
»Die Message lautet also: ›Meldet euch im Nervenzentrum‹.«
»Sie wissen offenbar, wo das ist.«
»Die Kerle, mit denen ich gesprochen habe, wussten’s nicht«, sagte Reacher. »Ich habe sie gefragt, und sie haben glaubhaft verneint. Diese Information hat nicht jeder. Folglich müssen die angeforderten Crews hochgestellte Leute gewesen sein. Eingeweihte.«
»Klingt logisch«, meinte Vantresca. »Die bewährtesten Leute. Nur die Besten für Situation B.«
»Genau, wie ich gesagt habe«, entgegnete Reacher. »Die einzig mögliche Route führt direkt zur Spitze hinauf.«
Barton sagte: »Verrückt.«
Als Nächstes machten Vantresca und Abby sich nach demselben System wieder Seite an Seite am Küchentisch arbeitend über die albanischen Textnachrichten her. Vantresca besaß nur Grundkenntnisse des Albanischen, aber weil diese Texte förmlicher und präziser abgefasst waren als die ukrainischen, ging die Arbeit schneller voran. Und es gab viel weniger zu tun. Alle relevanten Dinge hatten sich in den letzten Stunden ereignet. Zum Teil waren sie vertraut. Reacher galt wieder als ein von außen entsandter Provokateur. Anderes war neu. Den weißen Toyota hatte man bei der Ankunft gesehen. Reacher und Abby waren beim Aussteigen beobachtet worden, nachdem sie ihn in einem heruntergekommenen Viertel abgestellt hatten. Eine zierliche, schlanke Frau mit schwarzer Kurzhaarfrisur und ein größerer hässlicher Blonder. Sofort melden !
»Das ist miserabel ausgedrückt, finde ich«, kritisierte Abby. »Eigentlich meinen sie auf attraktive Weise zerklüftet. Nicht hässlich.«
Reacher sagte: »Stock und Stein brechen mein Gebein, doch Worte bringen keine Pein.«
»Diese vielleicht schon«, sagte Vantresca. Er war am Ende des Videos angelangt. Bei dem letzten albanischen Text. Er sagte: »Sie suchen aktiv nach Ihnen. Sie geben sogar Ihre ungefähre Position an. Sie vermuten Sie in einem aus zwölf Straßenblocks bestehenden Rechteck.«
»Und sind wir dort ?«
»Nicht weit von seinem geografischen Zentrum entfernt.«
»Das ist nicht gut«, meinte Reacher. »Sie scheinen über reichlich Informationen zu verfügen.«
»Sie haben den Vorteil großer Ortskenntnis. Sie haben überall die Finger drin; sie haben viele Augen hinter vielen Fenstern und viele Autos auf vielen Straßen.«
»Sie scheinen eine Menge über sie zu wissen.«
»Wie ich gesagt habe, höre ich alles Mögliche. Jeder hat eine Story, weil jeder es früher oder später mit denen zu tun bekommt. Ganz gleich, in welcher Branche man tätig ist, das gehört östlich der Center Street zu den Geschäftskosten. Die Leute gewöhnen sich daran. Sie kennen gar nichts anderes mehr. Zehn Prozent, die hat in alten Zeiten die Kirche verlangt. Wie Steuern. Solange man zahlt, was übrigens jeder tut, läuft alles ganz zivilisiert ab. Trotzdem sind das gruselige Leute.«
»Klingt nach persönlicher Erfahrung.«
»Vor einigen Monaten war ich einer Journalistin aus Washington, D. C., hier bei der Arbeit behilflich. Meine Firma ist als privater Sicherheitsdienst registriert. Meine Nummer steht in allen einschlägigen Verzeichnissen. Ich wusste nicht genau, worüber sie zu schreiben gedachte. Damit wollte sie nicht rausrücken. Über organisiertes Verbrechen, habe ich angenommen. Über unsere Albaner und Ukrainer. Vielleicht sogar mehr über die Ukrainer. Aber irgendwie hat sie östlich der Center Street etwas Falsches gesagt und es mit den Albanern zu tun bekommen. Die haben mit ihr diskutiert. Eine Handvoll Albaner und sie ganz allein im Nebenzimmer eines Restaurants. Sie ist rausgekommen und hat mich gebeten, sie direkt zum Flughafen zu fahren. Ohne Umweg über ihr Hotel. Sie wollte nicht einmal ihre Sachen abholen, so verängstigt war sie. Sie hat die erste Maschine genommen und ist nie mehr zurückgekommen. Können die Albaner das durch bloßes Reden erreichen, können sie mühelos jede Menge Leute dazu bringen, auf zwei Fremde zu achten. Reine Einschüchterung. So bekommen sie ihre Informationen.«
»Auch das ist nicht gut«, sagte Reacher. »Ich will diesem Haus kein Unglück bringen.«
Barton und Hogan äußerten sich nicht dazu, weder zustimmend noch ablehnend.
»In ein Hotel können wir nicht gehen«, sagte Abby.
»Vielleicht doch«, widersprach Reacher. »Das könnte ein Mittel sein, das Verfahren zu beschleunigen.«
»Du bist aber noch nicht so weit«, erklärte Hogan.
Barton sagte: »Bleibt über Nacht. Schließlich seid ihr schon hier. Die Nachbarn können nicht durch die Wände sehen. Wir haben morgen Mittag einen Gig. Wollt ihr weiter, könnt ihr hinten im Van mitfahren. Dann sieht euch keiner.«
»Wo findet der Gig statt ?«
»In einer Lounge westlich der Center Street. Näher an Trulenko dran als jetzt.«
»Hat die Lounge einen Türsteher ?«
»Immer. Am besten steigt ihr eine Ecke vorher aus.«
»Oder auch nicht, wenn wir das Verfahren beschleunigen wollen.«
»Wir müssen dort arbeiten, Mann. Für uns ist das ein guter Gig. Tu uns einen Gefallen und beschleunige das Verfahren woanders, wenn du unbedingt willst. Was ich nicht hoffe. Weil das verrückt ist.«
»Abgemacht«, sagte Reacher. »Wir fahren morgen mit. Besten Dank im Voraus. Und dafür, dass wir hier übernachten dürfen.«
Vantresca verließ zehn Minuten später das Haus. Barton sperrte hinter ihm ab. Hogan setzte seine Kopfhörer ab und zündete sich einen Joint so dick wie Reachers Daumen an. Reacher und Abby gingen nach oben, in das Zimmer mit dem aufgestellten Gitarrenverstärker als Nachttisch. Drei Blocks entfernt kam eine neue Textnachricht nicht bei dem albanischen Handy in dem nicht mehr benutzten Briefkasten aus Stahlblech an. Eine Minute später passierte das Gleiche mit dem ukrainischen Smartphone.
Dinos rechte Hand hatte den Namen Shkumbin erhalten, der einen Fluss im Herzen seines schönen Heimatlandes bezeichnete. Im Englischen war dieser Name jedoch schwer zu artikulieren. Die meisten Leute sprachen ihn wie Scum Bin – Mülltonne – aus, manche auch spöttisch, diese aber nur einmal. Wenn sie nach monatelanger Behandlung beim Kieferorthopäden wieder reden konnten, bemühten sie sich äußerst bereitwillig, die erste Silbe seines Namens richtig auszusprechen.
Irgendwann hatte Shkumbin es jedoch satt, sich die Knöchel aufzuschürfen, und er nahm den Namen seines toten Bruders an – teils aus Zweckmäßigkeit, teils als Tribut an ihn. Nicht den seines älteren toten Bruders, der Fatbarth, der Glückliche, geheißen hatte: ein schöner Name, der aber wieder im Englischen schwer auszusprechen war. Stattdessen nannte er sich nach seinem jüngeren toten Bruder Jetmir, der, dem ein gutes Leben beschieden sein wird, ein bisschen schrill und futuristisch, auch wenn das ein traditioneller Segenswunsch war und sogar etwas kommunistisch klingend wie ein Testpilot der Roten Armee in einem sowjetischen Comic oder ein heldenhafter Kosmonaut auf einem Propagandaplakat. Allerdings schien solches Zeug die Amerikaner nicht mehr zu interessieren. Längst vergangene Geschichte.
Als Jetmir den Konferenzraum hinter dem Büro des Holzlagerplatzes betrat, waren die übrigen Mitglieder des Inneren Rats schon versammelt. Alle außer Dino, den man nicht informiert hatte. Noch nicht. Dies war ihre zweite Besprechung ohne ihn. Ein großer Schritt. Eine Besprechung ließ sich vielleicht wegerklären. Bei zweien war das exponentiell schwieriger.
Jetmir sagte: »Das verschwundene Mobiltelefon war noch mal fast zwanzig Minuten online. Es hat nichts gesendet und nichts empfangen. Danach war es nicht mehr zu orten, als hätten sie’s in einem tiefen Keller versteckt, aber zwischendurch ist es wieder kurz auf der Straße aufgetaucht. So als wäre jemand nur rasch zum Laden an der Ecke gegangen.«
»Kennen wir seine Position ?«, fragte einer der anderen.
»Wir haben eine ziemlich gute Triangulation, aber das betreffende Viertel ist dicht besiedelt. Mit einem Geschäft an jeder Ecke. Aber der Punkt liegt genau dort, wo er zu vermuten war. Fast in der Mitte des Gebiets, das wir festgelegt haben.«
»Wie nahe der Mitte ?«
»Die zwölf Blocks, von denen wir ursprünglich ausgegangen sind, können wir vergessen. Das Suchgebiet lässt sich auf die inneren vier Blocks begrenzen. Vielleicht auf sechs, um ganz sicherzugehen.«
»In einem Keller ?«
»Oder sonst wie abgeschirmt.«
»Vielleicht haben sie den Akku rausgenommen. Und dann wieder eingesetzt.«
»Aber wozu ? Ich hab euch gesagt, dass kein Anruf raus- oder eingegangen ist.«
»Okay, dann ein Keller.«
»Oder ein Gebäude mit einem massiven Stahlgerüst. Irgendwas in dieser Art. Legt euch nicht vorzeitig fest. Schickt jeden Mann hin, den ihr entbehren könnt. Sucht das ganze Gebiet gründlich ab. Überflutet das Viertel. Achtet auf Licht hinter Vorhängen. Haltet Ausschau nach verdächtigen Autos und Fußgängern. Klingelt Leute heraus und stellt Fragen, wenn’s nötig ist.«
Zur selben Zeit saß Jetmirs ukrainischer Kollege jenseits der Center Street ebenfalls in einer Besprechung des Inneren Rats in dem Raum hinter dem Taxiunternehmen, gegenüber dem Leihhaus, neben der Firma, die Gerichtskautionen stellte. Hier war der Boss jedoch anwesend. Gregory saß wie immer am Kopfende des Tisches, leitete die Besprechung. Er hatte sie selbst einberufen, als er darüber informiert wurde, dass Aaron Shevick einen seiner Kerle krankenhausreif geschlagen hatte.
Er sagte: »Dieser letzte Vorfall kommt mir völlig anders vor. Es hat keinen Täuschungsversuch gegeben. Er hat nicht erwartet, dass wir die Albaner dafür verantwortlich machen würden. Stattdessen ist er ganz offen aufgetreten, von Mann zu Mann. Anscheinend hat er den Befehl erhalten, seine bisherige Taktik zu ändern. Um eine neue Phase einzuleiten. Das war ein Fehler, denke ich. Sie haben mehr über sich preisgegeben, als sie über uns erfahren werden.«
»Das Smartphone«, sagte seine rechte Hand.
»Exakt«, stimmte Gregory zu. »Dass er ihm die Pistole abgenommen hat, war zu erwarten. Das hätte jeder getan. Aber wieso sollte er ihm das Handy wegnehmen ?«
»Das muss zu ihrer neuen Strategie gehören. Sie werden versuchen, einen Cyberangriff gegen uns zu führen. Um uns weiter zu schwächen. Sie werden versuchen, unser Computersystem über unsere Mobiltelefone anzugreifen.«
»Wer auf dieser Welt besäße die Fähigkeiten und Erfahrungen, das Selbstbewusstsein und die Arroganz, um überhaupt hoffen zu dürfen, damit Erfolg haben zu können ?«
»Nur die Russen«, meinte seine rechte Hand.
»Exakt«, sagte Gregory wieder. »Diese neue Taktik hat ihre Identität verraten. Jetzt wissen wir Bescheid. Die Russen wollen uns verdrängen.«
»Nicht gut.«
»Ich frage mich, ob sie auch ein albanisches Handy erbeutet haben.«
»Vermutlich. Die Russen teilen sich nicht gern ein Territorium mit anderen. Ich bin sicher, dass sie uns beide ersetzen wollen. Das wird ein schwerer Kampf. Sie sind verdammt viele.«
Danach herrschte langes Schweigen.
Dann fragte Gregory: »Können wir sie schlagen ?«
Seine rechte Hand sagte: »Unser Computersystem können sie nicht hacken.«
»Das habe ich nicht gefragt.«
»Nun, was wir auch aufbieten … sie bieten das Doppelte an Männern, Geld und Material auf.«
»Schlimme Zeiten«, sagte Gregory.
»Allerdings.«
»Die erfordern verzweifelte Maßnahmen.«
»Welche denn ?«
»Wenn die Russen das Doppelte von dem aufbieten können, was wir haben, müssen wir ihre Übermacht ausgleichen. Ganz einfach. Natürlich nur vorübergehend. Bis die jetzige Krise überwunden ist.«
»Wie ?«
»Wir müssen ein kurzzeitiges Verteidigungsbündnis eingehen.«
»Mit wem ?«
»Mit unseren Freunden östlich der Center Street.«
»Mit den Albanern ?«
»Die sitzen im selben Boot.«
»Würden die sich darauf einlassen ?«
»Wenn’s gegen die Russen geht, brauchen sie uns so dringend wie wir sie. Mit vereinten Kräften dürften wir ihnen Paroli bieten können. Verbünden wir uns nicht, gehen wir einzeln unter. Vereint stehen wir, getrennt fallen wir.«
Wieder Schweigen.
»Das wäre ein großer Schritt«, warf jemand ein.
»Richtig«, sagte Gregory. »Sogar bizarr und verrückt. Aber notwendig.«
Danach sprach keiner mehr.
»Okay«, sagte Gregory. »Ich mache mich gleich morgen früh auf den Weg, um mit Dino zu reden.«
Die Uhr in Reachers Kopf zeigte 3.50 Uhr an, als er lange vor Tagesanbruch aufwachte. Er hörte ein Geräusch. Ein Auto auf der Straße vor und unter dem runden Fenster. Abklingendes Motorengeräusch, als der Fahrer das Gas wegnahm, und leiser werdendes Abrollgeräusch von Reifen. Ein Wagen, der bremste und zum Stehen kam.
Er wartete. Neben ihm schlief Abby: warm und weich und entspannt. Das alte Haus knirschte und knackte. Unter der Tür zum Flur war ein heller Streifen zu sehen. Die nackte Glühbirne über der Treppe brannte noch. Vielleicht brannte auch im Erdgeschoss noch Licht. In der Küche oder im Wohnzimmer. Vielleicht war Barton oder Hogan noch auf. Oder beide, die noch quatschten. Morgens um zehn vor vier. Für Musiker eine normale Zeit.
Unten auf der Straße lief der Automotor im Leerlauf. Das leise Pfeifen des Keilriemens, das Surren des Ventilators, das Auf und Ab der Kolben. Dann ein neues Geräusch, dumpfes Klicken.
Der Wählhebel eines Automatikgetriebes war in Parkstellung gedrückt worden.
Der Motor wurde abgestellt.
Wieder Stille.
Eine Tür ging auf.
Eine Ledersohle klatschte auf den Asphalt. Die Federn eines Autositzes knarrten leise, als sie entlastet wurden. Ein zweiter Schuh wurde neben den ersten gestellt. Jemand stand mit einem kleinen Ächzen auf.
Die Tür wurde geschlossen.
Reacher glitt aus dem Bett. Er fand sein Hemd. Fand seine Socken. Schnürte seine Stiefel. Schlüpfte in seine Jacke. Das Gewicht in den Taschen war beruhigend.
Unten im Erdgeschoss wurde laut an die Haustür geklopft. Ein hallendes, hölzernes Geräusch. Um zehn vor vier Uhr morgens. Reacher horchte. Hörte nichts, sozusagen weniger als nichts. Jedenfalls weniger als zuvor. Wie ein Loch in der Luft. Das negative Geräusch zweier Männer, die zuvor munter gequatscht hatten und jetzt schlagartig verstummt nach draußen lauschten. Barton und Hogan, die noch wach waren. Für Musiker eine normale Zeit.
Reacher wartete. Wimmelt ihn irgendwie ab, dachte er. Zwingt mich nicht dazu runterzukommen . Er hörte einen von ihnen aufstehen. Eine schlurfende Seitwärtsbewegung. Jemand war ans Fenster getreten, spähte vermutlich durch einen Vorhangspalt hinaus.
Er hörte eine Stimme leise sagen: »Albaner.«
Hogans Stimme.
Barton fragte ebenso leise: »Wie viele ?«
»Nur einer.«
»Was will er ?«
»An dem Tag, an dem sie Wahrsagen gelehrt haben, war ich leider krank.«
»Was sollen wir machen ?«
Wieder das Klopfen, bum, bum, bum, hallend und hölzern. Reacher wartete. Hinter ihm bewegte Abby sich, dann fragte sie: »Was ist los ?«
»Vor der Haustür steht ein albanischer Söldner. Ziemlich sicher auf der Suche nach uns.«
»Wie spät ist es ?«
»Acht Minuten vor vier.«
»Was machen wir jetzt ?«
»Barton und Hogan sind unten. Sie waren noch nicht im Bett. Vielleicht können sie ihn irgendwie abwimmeln.«
»Dann ziehe ich mich wohl besser an.«
»Bedauerlich, aber wahr.«
Abby zog sich so schnell an wie er: Hose, T-Shirt, Schuhe. Dann warteten sie. Das Klopfen erklang zum dritten Mal. Bum, bum, bum. Ein Geräusch, das man nicht ignorieren konnte. Sie hörten, wie Hogan sich erbot, an die Tür zu gehen. Sie hörten, wie Barton dankbar annahm. Sie hörten Hogans Schritte, als er die Diele durchquerte: energisch, nachdrücklich, entschlossen. Der U. S. Marine. Der Schlagzeuger. Reacher wusste nicht, was im Augenblick mehr zählte.
Sie hörten, wie die Haustür geöffnet wurde.
Sie hörten Hogan fragen: »Was ?«
Dann eine fremde Stimme. Leiser, weil der Mann nicht im Haus, sondern draußen vor der Tür stand, und wegen seiner Tonlage, die zugleich leutselig und spöttisch klang. Fast freundlich, aber doch nicht richtig.
Die Stimme fragte: »Alles in Ordnung bei Ihnen ?«
»Wieso fragen Sie das ?«, wollte Hogan wissen.
»Ich habe Licht gesehen«, sagte die Stimme. »Ich war in Sorge, Sie könnten nachts durch ein Unglück oder eine Kalamität geweckt worden sein.«
Sie hörte sich gedämpft an, aber trotzdem war dies die Stimme eines großen, starken Mannes mit breiter Brust und Stiernacken, eine befehlsgewohnte Stimme voller Arroganz und Überheblichkeit. Der Kerl war es gewöhnt, seinen Willen durchzusetzen. Er verfügte über die Art Stimme, die niemals bitte sagte und niemals Nein hörte.
Wimmel ihn ab, dachte Reacher. Zwing mich nicht dazu runterzukommen.
Hogan sagte: »Hier ist alles okay. Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Kein Unglück. Keine Kalamität.«
»Echt nicht ? Sie wissen, dass wir helfen, wo wir können.«
»Danke, wir brauchen keine Hilfe«, entgegnete Hogan. »Das Licht hat gebrannt, weil nicht alle Leute zur selben Zeit schlafen. Leicht zu verstehen, denke ich.«
»Hey, das weiß ich alles«, sagte der Albaner. »Bin selbst zu nachtschlafender Zeit unterwegs, um in der Nachbarschaft für Sicherheit zu sorgen. Tatsächlich könnten Sie mir dabei helfen, wenn Sie möchten.«
Hogan gab keine Antwort.
Der Kerl fragte: »Wollen Sie mir nicht dabei helfen ?«
Noch immer keine Antwort.
»Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus«, sagte der Mann. »Das ist auch hier der Fall. Sie helfen uns jetzt, wir helfen Ihnen in der Zukunft. Könnte wichtig sein. Könnte genau das sein, was Sie brauchen. Könnte ein großes Problem lösen. Kommen Sie uns andererseits in die Quere, könnten wir Ihnen später Schwierigkeiten bereiten. In Zukunft, meine ich. Auf alle mögliche Weise. Womit verdienen Sie zum Beispiel Ihr Geld ?«
»Wie helfen ?«, fragte Hogan.
»Wir suchen einen Mann und eine Frau. Er ist älter, sie ist jünger. Sie ist zierlich und schwarzhaarig, er ist groß und hässlich.«
Schick ihn weg, dachte Reacher. Zwing mich nicht dazu runterzukommen.
»Warum suchen Sie die beiden ?«, erkundigte sich Hogan.
Der Kerl vor der Haustür sagte: »Wir glauben, dass sie in großer Gefahr schweben. Wir müssen sie warnen. Zu ihrem eigenen Besten. Wir versuchen zu helfen. Das ist unsere Art.«
»Wir haben sie nicht gesehen.«
»Bestimmt nicht ?«
»Hundertprozentig.«
»Sie könnten noch etwas tun«, sagte der Kerl.
»Was denn ?«
»Rufen Sie uns an, wenn Sie sie sehen. Tun Sie das für uns ?«
Hogan äußerte sich nicht dazu.
»Das ist nicht zu viel verlangt, oder ?«, sagte der Kerl. »Sie haben Lust, uns mit einem zehn Sekunden langen Anruf zu helfen, oder eben nicht. Beides ist in Ordnung. Wir leben in einem freien Land. Wir nehmen das zur Kenntnis und machen weiter.«
»Okay«, meinte Hogan. »Wir rufen an.«
»Danke. Tag und Nacht, jederzeit. Aktualität ist wichtig.«
»Okay«, sagte Hogan noch mal.
»Eine letzte Sache.«
»Ja ?«, fragte Hogan.
»Sie könnten noch was tun, um mir zu helfen.«
»Und zwar ?«
»Ich werde diese Adresse als unverdächtig melden, wie wir in unserer Branche sagen. Die Zielpersonen sind offenbar nicht hier, nur gewöhnliche Leute, die ihren gewöhnlichen Beschäftigungen nachgehen, und so weiter und so fort.«
»Gut«, sagte Hogan.
»Aber in unserer Branche nehmen wir solche Dinge sehr ernst. Wir haben ein Faible für Zahlen. Irgendwann wird man mich fragen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass diese Einschätzung zutrifft.«
»Hundertprozentig«, wiederholte Hogan.
»Klar sagen Sie das, aber am Ende des Tages ist das nur eine Aussage eines Interessierten.«
»Mehr gibt’s nicht«, sagte Hogan.
»Stimmt genau«, sagte der Kerl. »Mir wäre wirklich viel geholfen, wenn ich durch Ihr Haus gehen und mich selbst überzeugen dürfte. Dann könnten wir uns auf diesen Augenschein verlassen. Damit wäre der Fall abgeschlossen. Wir müssten Sie nicht noch mal belästigen. Vielleicht bekämen Sie eine Einladung zu unserem Picknick am Unabhängigkeitstag. Als jemand, der nun zur Familie gehört. Ein zuverlässiger, hilfsbereiter Mensch.«
»Dies ist nicht mein Haus«, erklärte Hogan. »Ich habe hier nur ein Zimmer. Ich glaube nicht, dass ich dazu berechtigt bin.«
»Vielleicht der andere Gentleman im Wohnzimmer ?«
»Sie müssen unser Wort akzeptieren, und Sie müssen jetzt gehen.«
»Ihnen macht Sorgen, dass Sie ein bisschen Gras geraucht haben ?«, fragte der Kerl. »Liegt’s daran ? Das konnte ich schon auf der Straße riechen. Aber das kümmert mich nicht. Ich bin kein Cop und nicht hier, um Sie hochzunehmen. Ich vertrete die hiesige Nachbarschaftshilfe. Wir arbeiten schwer für die Gemeinschaft und erzielen eindrucksvolle Ergebnisse.«
»Sie müssen unser Wort akzeptieren«, wiederholte Hogan.
»Wer ist sonst noch im Haus ?«
»Niemand.«
»Sie waren den ganzen Abend allein ?«
»Wir hatten ein paar Leute eingeladen.«
»Was für Leute ?«
»Freunde«, sagte Hogan. »Wir hatten chinesisches Essen und etwas Wein.«
»Übernachten sie hier ?«
»Nein.«
»Wie viele Freunde ?«
»Zwei.«
»Zufällig ein Mann und eine Frau ?«
»Nicht der Mann und die Frau, die Sie suchen.«
»Woher wissen Sie das ?«
»Weil sie’s nicht sein können. Sie sind gewöhnliche Leute. Wie Sie vorhin gesagt haben.«
»Wissen Sie bestimmt, dass sie nicht hier übernachten ?«
»Ich hab sie weggehen sehen.«
»Okay«, sagte der Kerl. »Dann haben Sie nichts zu befürchten. Ich schaue mich nur rasch im Haus um. Ich weiß sofort Bescheid. Ich hab einige Erfahrung mit solchen Dingen. Daheim in Tirana war ich Kriminalbeamter. Meiner Erfahrung nach ist’s fast ausgeschlossen, dass jemand in einem Haus gewesen ist, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen – auch darauf, wer er ist und weshalb er hier war.«
Hogan wusste keine Antwort.
Reacher und Abby hörten Schritte in der Diele direkt unter ihnen. Der Kerl war hereingekommen.
Abby flüsterte: »Ich kann nicht glauben, dass er ihn hereingelassen hat ! Dieser Typ sucht natürlich alles ab. Er begnügt sich nicht mit einem flüchtigen Blick. Und Hogan ist darauf reingefallen.«
»Hogan macht seine Sache gut«, meinte Reacher. »Als ehemaliger U. S. Marine versteht er etwas von Taktik. Er hat uns genügend Zeit verschafft, damit wir uns anziehen, das Bett machen und das Fenster öffnen können. Dann brauchen wir nur noch aufs Dach hinauszuklettern, sodass der Kerl uns nicht findet und befriedigt abzieht, ohne dass es zu einer Konfrontation kommt. Der beste Kampf ist der, der gar nicht erst stattfindet. Das verstehen sogar Marines.«
»Aber wir klettern nicht aufs Dach hinaus. Wir stehen bloß herum. Wir halten uns nicht an den Plan.«
»Vielleicht gibt es eine andere Methode.«
»Zum Beispiel ?«
»Vielleicht mehr Army als Marine Corps.«
»Zum Beispiel ?«, fragte sie noch mal.
»Warten wir erst mal ab, was passiert«, antwortete er.
Unter ihnen war zu vernehmen, wie der Kerl mit schweren Schritten die Diele durchquerte.
Sie hörten ihn fragen: »Sie sind Musiker ?«
»Ja.«
»Sie spielen in unseren Klubs ?«
»Ja.«
»Nicht mehr, wenn Ihre Einstellung sich nicht bessert.«
Keine Antwort. Sekundenlang herrschte Stille. Dann war zu hören, wie der Kerl in die Küche ging.
»Chinesisches Essen«, konstatierte er. »Jede Menge Boxen. Sie haben die Wahrheit gesagt.«
»Mit Wein«, erklärte Hogan. »Wie ich’s Ihnen gesagt habe.«
Sie hörten ein Klirren. Zwei leere Flaschen, die hochgehoben oder angestoßen oder sonst wie inspiziert oder unter die Lupe genommen wurden.
Wieder eine Pause.
Dann hörten sie den Kerl fragen: »Hey, was ist das ?«
Abby und Reacher hatten das Gefühl, aus ihrem Zimmer werde schlagartig die Luft abgesaugt.
Totenstille.
Bis der Mann seine eigene Frage beantwortete.
Sie hörten ihn sagen: »Ein Zettel, auf dem das albanische Wort für hässlich steht.«
Reacher und Abby traten aus dem Schlafzimmer auf den oberen Treppenabsatz hinaus. Unten in der Küche herrschten Stille und eine nervöse Spannung, die fast mit Händen zu greifen war. Reacher stellte sich besorgte Blicke vor – von Barton zu Hogan, von Hogan zu Barton.
Abby flüsterte: »Wir sollten runtergehen und ihnen helfen.«
»Geht nicht«, sagte Reacher. »Sieht der Kerl uns hier, dürften wir ihn nicht mehr weglassen.«
»Warum nicht ?«
»Er würde Meldung erstatten. Diese Adresse käme auf ihre Schwarze Liste. Barton hätte alle möglichen Probleme zu erwarten. Dürfte garantiert nie wieder in ihren Klubs spielen. Hogan auch nicht. Mitgefangen, mitgehangen. Aber die beiden müssen essen.«
Reacher schwieg eine Weile.
Abby fragte: »Wie meinst du das, dass wir ihn nicht mehr weglassen dürften ?«
»Da gibt es verschiedene Optionen.«
»Wir sollen ihn hier festhalten, meinst du ?«
»Vielleicht hat das Haus einen Keller.«
»Was sind die anderen Optionen ?«
»Oh, es gibt alle möglichen. Ich bin für alles offen, was funktionieren könnte.«
Abby sagte: »Das ist meine Schuld, fürchte ich. Ich hätte den Zettel nicht liegen lassen dürfen.«
»Du hast mich in Schutz genommen. Das war nett von dir.«
»Trotzdem ein Fehler.«
»Nicht mehr zu ändern«, meinte Reacher. »Sieh nach vorn. Vergeude keine mentale Energie.«
Unter ihnen kam das Gespräch wieder in Gang.
Sie hörten den Mann fragen: »Sie lernen eine neue Sprache ?«
Keine Antwort.
»Vielleicht wär’s besser, nicht mit Albanisch anzufangen. Und vor allem nicht mit diesem speziellen Wort, das hauptsächlich auf dem Land benutzt wird. Es hat subtile Bedeutungen, wissen Sie. Ein altertümliches Wort, das heutzutage nicht mehr oft gebraucht wird. Tatsächlich eher selten.«
Keine Reaktion.
»Warum haben Sie’s sich auf einem Zettel notiert ?«
Keine Antwort.
»Ich glaube nicht einmal, dass Sie das waren. Dies ist eine Frauenschrift, denke ich. Wie ich Ihnen erzählt habe, kenne ich mich mit solchen Dingen aus. Ich war Kriminalbeamter in Tirana. In Bezug auf Spurensicherung bleibe ich gern auf dem Laufenden. Vor allem in meiner neuen Heimat. Die Frau, die das hier geschrieben hat, ist zu jung, um in der Schule noch Schönschrift gelernt zu haben. Sie ist unter vierzig.«
Keine Reaktion.
»Vielleicht ist sie Ihre Freundin, die zum Abendessen eingeladen war. Weil der Zettel zwischen den Kartons auf dem Küchentisch gelegen hat. Sozusagen in derselben archäologischen Schicht. Also aus derselben Zeit.«
Hogan sagte nichts.
Der Kerl fragte: »Ist Ihre Freundin, die zum Abendessen eingeladen war, unter vierzig ?«
Hogan antwortete: »Anfang dreißig, glaub ich.«
»Und sie war hier, um chinesisch zu essen und etwas Wein zu trinken ?«
Keine Antwort.
»Und vielleicht auch, um etwas Gras zu rauchen und über Leute zu quatschen, die Sie beide kennen, bevor Sie über Ihr Leben und den Zustand der Welt im Allgemeinen diskutiert haben.«
»Oder so ähnlich«, sagte Hogan.
»Und mittendrin ist sie plötzlich aufgesprungen, hat sich einen Zettel gesucht und darauf in einer Fremdsprache, die kaum ein Amerikaner kennt, ein einzelnes Wort mit subtilen Bedeutungen notiert. Können Sie mir das erklären ?«
»Sie ist eine clevere Person. Vielleicht hat sie über etwas Spezielles geredet. Vielleicht war dies das genau richtige Wort, wenn es so selten und subtil ist. Das tun clevere Leute, sie streuen Wörter aus anderen Sprachen ein. Vielleicht hat sie’s für mich aufgeschrieben. Damit ich’s mir später ansehen kann.«
»Möglich«, sagte der Mann. »Bei anderer Gelegenheit hätte ich vielleicht mit den Schultern gezuckt und die Sache auf sich beruhen lassen. Es hat schon seltsamere Dinge gegeben. Aber ich mag keine Zufälle. Vor allem nicht vier auf einmal. Der erste Zufall ist, dass sie nicht allein hier war. Sie hatte einen Partner dabei. Der zweite Zufall ist, dass ich dieses ungewöhnliche Wort in den letzten zwölf Stunden mehrmals gesehen habe. In Textnachrichten auf meinem Handy. In der Personenbeschreibung des von uns Gesuchten. Wie ich anfangs gesagt habe: ein Mann und eine Frau. Sie zierlich und schwarzhaarig, er groß und hässlich.«
Oben auf dem Treppenabsatz flüsterte Abby: »Dies nimmt ein schlimmes Ende.«
Wie eine erfahrene Bedienung, die Prügelei vorausahnt.
»Wahrscheinlich«, sagte Reacher.
Unter sich hörten sie den Mann sagen: »Der dritte Zufall ist, dass heute Nacht ein Smartphone, auf dem diese Nachrichten gespeichert waren, gestohlen wurde. Später war es wieder zwanzig Minuten lang eingeschaltet, ohne etwas zu senden oder zu empfangen. Aber zwanzig Minuten sind Zeit genug, jede Menge Text zu lesen. Und sich schwierige Wörter zu notieren, um sie später nachschlagen zu können.«
Hogan sagte: »Ganz ruhig, Mann. Hier hatte keiner ein geklautes Handy«
»Der vierte Zufall ist, dass das gestohlene Handy von einem großen hässlichen Kerl wie in der Personenbeschreibung gestohlen wurde. Das wissen wir mit Sicherheit. Darüber gibt es einen präzisen Bericht. In diesem Fall ist der Kerl allein in Erscheinung getreten, aber wir wissen, dass er eine zierliche schwarzhaarige Frau als Komplizin hat. Die zweifellos Ihr Gast zum Abendessen war, weil sie das Wort auf den Zettel geschrieben hat. Ein Wort, das sie zweifellos von dem gestohlenen Handy kennt. Denn woher sollte sie’s sonst haben ? Wieso sollte sie sich ausgerechnet für dieses eine Wort interessieren ?«
»Keine Ahnung, Mann«, sagte Hogan. »Vielleicht reden wir von verschiedenen Leuten.«
»Er ist losgezogen, hat das Handy geklaut und ihr gebracht. Hat er in ihrem Auftrag gehandelt ? Ist sie sein Boss ? Hat er ihre Anweisungen befolgt ?«
»Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden, Mann.«
»Spielen Sie bloß nicht den Ahnungslosen«, sagte der Kerl. »Sie sind dabei ertappt worden, dass Sie Feinden der Gemeinschaft Unterschlupf gewährt haben. Das wirft ein schlechtes Licht auf Sie.«
»Wenn Sie meinen«, sagte Hogan.
»Wollen Sie von hier wegziehen ?«
»Eigentlich nicht.«
Danach herrschte lange Schweigen.
Als der Mann wieder sprach, lag eine neue Bedrohung in seiner Stimme. Das Ergebnis einer neuen Überlegung. Er fragte: »Sind sie gegangen oder gefahren ?«
»Wer ?«
»Der Mann und die Frau, denen Sie Unterschlupf gewährt haben.«
»Wir haben keinem Menschen Unterschlupf gewährt. Wir hatten Freunde zum Abendessen da.«
»Gegangen oder gefahren ?«
»Wann ?«
»Als sie nach dem Essen das Haus verlassen haben. Als sie nicht hier übernachtet haben.«
»Sie sind zu Fuß weggegangen.«
»Wohnen sie in der Nähe ?«
»Nicht direkt«, sagte Hogan vorsichtig.
»Dann hatten sie also eine ziemliche Strecke zurückzulegen. Wir überwachen die Straßenblocks der näheren Umgebung sehr genau. Trotzdem haben wir kein Paar auf dem Nachhauseweg gesehen.«
»Vielleicht hatten sie ihr Auto gleich um die Ecke abgestellt.«
»Wir haben auch kein Paar auf der Heimfahrt gesehen.«
»Vielleicht haben Sie sie verpasst.«
»Nein, wir hätten sie sehen müssen.«
»Dann kann ich Ihnen nicht helfen, Mann.«
Der Kerl sagte: »Ich weiß, dass sie hier waren. Ich sehe, was sie gegessen haben. Ich habe den Zettel mit dem vom gestohlenen Smartphone abgeschriebenen Wort. Heute Nacht werden die Straßenblocks in der näheren Umgebung scharf überwacht. Die beiden sind nirgends entdeckt worden. Folglich sind sie noch hier. Ich glaube, dass sie sich in diesem Augenblick im Obergeschoss aufhalten.«
Wieder längeres Schweigen.
Dann sagte Hogan: »Sie nerven echt, Mann. Gehen Sie meinetwegen rauf, und schauen Sie sich um. Drei Zimmer, alle leer. Sehen Sie sich um, und verlassen Sie dieses Haus. Die Einladung zu Ihrem Picknick können Sie sich sparen.«
Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock flüsterte Abby: »Wir könnten noch immer aus dem Fenster klettern.«
»Das Bett ist nicht gemacht«, sagte Reacher ebenso leise. »Und wir brauchen das Auto des Typs, denke ich. Wir dürfen ihn ohnehin nicht laufen lassen.«
»Wofür brauchen wir sein Auto ?«
»Für etwas, das mir gerade eingefallen ist.«
Unter ihnen war zu hören, wie der Mann die Diele durchquerte. Schwere Schritte näherten sich dem Fuß der Treppe. Unter dem Gewicht des Mannes gab der alte Holzboden knarrend nach. Reacher ließ seine Pistole in der Tasche. Ein nächtlicher Schuss hätte die Nachbarn aufgeschreckt. Zu viele Komplikationen. Der Albaner sah das offenbar ähnlich. Seine rechte Hand wurde sichtbar, als sie nach dem Geländer griff. Keine Waffe. Dann auch die linke Hand. Keine Waffe. Aber er hatte große Pranken. Glatt und hart, breit und verfärbt, mit kräftigen dicken Fingern.
Der Mann trat auf die unterste Stufe. Feste Lederschuhe. Eine weite Übergröße. Säulenförmige Beine. Massige Schultern in einem zu engen Jackett. Über eins achtzig groß, bestimmt hundert Kilo schwer. Kein schmächtiger Südländer. Ein ehemaliger Kriminalbeamter aus Tirana. Vielleicht gab es dort eine Mindestgröße. Vielleicht ließen sich damit bessere Erfolge erzielen.
Der Mann kam die Treppe herauf. Reacher wich in das Zimmer zurück, um nicht gleich sichtbar zu sein. Er wollte vortreten und Hallo sagen, wenn der Kerl oben ankam. Von dort aus konnte er am tiefsten fallen. Wieder die ganze Treppe hinunter. Die größte Strecke. Besser, als nur zu Boden zu gehen. Effizienter. Jede Stufe knarrte. Reacher wartete.
Der Kerl kam oben an.
Reacher trat aus dem Zimmer.
Der Kerl starrte ihn an.
Reacher sagte: »Erzählen Sie mir von dem seltenen, subtilen Wort.«
In der Diele unter ihm sagte Hogan: »O Scheiße.«
Der Kerl auf der obersten Stufe blieb stumm.
Reacher sagte: »Erzählen Sie mir von den vielfältigen Bedeutungen. Abstoßend, möchte ich wetten, unschön, reizlos, unerfreulich, grausig, widerlich, unansehnlich, abscheulich, widerwärtig, gemein. Lauter moderne Bedeutungen. Aber wenn dieses Wort wirklich alt ist, hat es hauptsächlich mit Angst zu tun. Lebewesen, die man fürchtete, nannte man hässlich. Der unheimliche Waldbewohner war niemals schön.«
Der Kerl äußerte sich nicht dazu.
Reacher fragte: »Habt ihr Jungs Angst vor mir ?«
Keine Antwort.
Reacher befahl: »Holen Sie Ihr Handy aus der Tasche und legen Sie’s vor Ihre Füße.«
Der Kerl sagte: »Nein.«
»Und Ihre Autoschlüssel.«
»Nein.«
»Ich nehme sie Ihnen sowieso weg«, sagte Reacher. »Wie und wann, hängt von Ihnen ab.«
Wieder dieser Blick. Fest, ruhig, amüsiert, raubtierhaft, leicht verrückt.
Zu diesem Zeitpunkt musste der Mann sich zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden. Er konnte sich eine clevere Antwort einfallen lassen oder auf die ganze Diskussion verzichten und gleich zum Angriff übergehen. Reacher war tatsächlich nicht klar, wofür er sich entscheiden würde. Unten hatte er so geklungen, als hörte er sich gern reden. Der ehemalige Kriminalbeamte hielt gern Hof. Er verbreitete sich gern darüber, wie er das Verbrechen bekämpft hatte. Andererseits mussten auf Worte irgendwann Taten folgen. Das wusste er auch. Irgendwann würde er Farbe bekennen müssen. Warum nicht gleich damit anfangen ?
Der Kerl stürmte von der obersten Stufe los: auf kräftigen Beinen, Schultern hochgezogen, Kopf gesenkt, um Reacher mit einer Schulter zu rammen, ihn von den Beinen zu holen. Aber Reacher war zu mindestens fünfzig Prozent bereit und verpasste dem Kerl einen bösartigen Aufwärtshaken mitten ins Gesicht, sodass hundertzehn Kilo in einer gigantischen Explosion von kinetischer Energie auf hundert Kilo trafen: Faust gegen Gesicht mit solcher Wucht, dass der Mann auf dem Rücken gelandet wäre. Nur gab es dort keinen Fußboden, sodass er mit rudernden Armen und Beinen sich rückwärts überschlagend die Treppe hinunterpolterte und am Fuß der Treppe benommen liegen blieb.
Aber nicht lange.
Weil er sich mehr oder weniger sofort wieder aufrappelte. Er blinzelte zweimal, schwankte leicht und richtete sich zu voller Größe auf. Wie ein Monster in einem alten Horrorfilm, das von einer Artilleriegranate an der Brust getroffen wird und mit einer blutenden Pfote geistesabwesend über seinen versengten Pelz wischt, während es weiter unversöhnlich nach oben starrt.
Reacher machte sich auf den Weg die Treppe hinunter. In der Diele an ihrem Fuß war nicht viel Platz. Barton und Hogan waren durch die offene Tür ins Wohnzimmer zurückgewichen. Der Albaner stand felsenfest und stolz aufgerichtet da. Seine Nase blutete. Schwierig zu sagen, ob sie gebrochen war. Schwierig zu beurteilen, ob sie schon vorher schief gewesen war. Der Kerl war kein heuriger Hase. Er hatte ein hartes Leben hinter sich. Kriminalbeamter in Tirana.
Der Kerl trat einen Schritt vor.
Reacher machte den letzten Schritt von der Treppe. Sie wussten beide Bescheid. Früher oder später entschied rohe Gewalt. Der Kerl täuschte eine linke Gerade an und schlug eine fast ansatzlose Rechte, die auf Reachers Körpermitte zielte, weil das der kürzeste Weg zum Ziel war. Doch Reacher sah sie kommen und drehte sich weg, sodass der Schlag seinen Brustkorb unter dem Arm traf. Das war schmerzhaft, tat aber nicht so weh wie ein Treffer aufs Sonnengeflecht. Das Wegdrehen war ein reiner Reflex, eine blinde Panikreaktion seines autonomen Nervensystems, das Ergebnis eines plötzlichen Adrenalinschubs, ohne Finesse, ohne Steuerung, ohne Präzision, nur ein augenblicklich abgerufenes Maximum an verfügbarem Drehmoment, das erheblich war. Das bedeutete, dass nun ein Übermaß an gespeicherter Energie eine Zehntelsekunde lang wie ein Kolben auf seinem Totpunkt verharrte, bevor sie sich exakt in Gegenrichtung entlud – diesmal jedoch räumlich und zeitlich koordiniert, bewusst und gezielt eingesetzt. Beim Zurückdrehen seiner Körpermasse beschrieb der Ellbogen einen Bogen, beschleunigte dabei aus eigenem Antrieb und traf den Kopf des Kerls seitlich etwas vor dem Ohr: ein kolossaler Schlag wie mit einem Baseballschläger oder einer Eisenstange. Die meisten Schädel wären unter seiner Wucht zerbrochen. Die wenigsten Kerle hätten diesen Schlag überlebt. Den Albaner warf er nur gegen den Türrahmen und ließ ihn in die Knie gehen.
Von denen er jedoch gleich wieder hochkam. Während er sich mit durchgedrückten Knien aufrichtete, tastete er mit ausgestreckten Armen die Luft vor sich ab, als suchte er dort Halt, als schwämme er durch eine zähflüssige Masse. Reacher trat vor und schlug erneut zu: mit demselben Ellbogen, aber in Gegenrichtung, mit der Vorhand, nicht mit der Rückhand, ein Treffer über dem linken Auge, Knochen auf Knochen, der den Kerl zurücktorkeln ließ. Aber er blinzelte nur, erholte sich rasch, ging wieder zum Angriff über und wollte einen Kopftreffer anbringen, der jedoch sein Ziel verfehlte, weil Reacher sich in den Schlag duckte und ihn mit der linken Schulter abfing. Dieses Mal machte auch Reacher nicht mehr halt, sondern traf den Kerl aus geduckter Haltung hochschnellend mit einer rechten Geraden, die seine Oberlippe aufplatzen ließ.
Der Albaner taumelte rückwärts, klammerte sich an den Türrahmen und fiel dann sozusagen um ihn herum ins Wohnzimmer, als wäre er senkrecht über ihn gestolpert und könnte seinen Sturz nach hinten nicht mehr aufhalten. Reacher folgte ihm und verfolgte, wie der Mann zu Boden ging. Er prallte von der riesigen Box mit den acht Lautsprechern ab und blieb auf dem Rücken liegen.
Er steckte eine Hand unter sein Jackett.
Reacher blieb stehen.
Tu’s nicht, dachte er. Reaktion. Komplikationen. Mir ist’s egal, welche Art Übereinkunft ihr zu haben glaubt. Die Mühlen der Justiz mahlten langsam, wie Mrs. Shevick wusste. Sie konnte nicht so lange warten.
Laut sagte er: »Tu’s nicht.«
Der Kerl achtete nicht auf ihn.
Die Pranke glitt unter dem Jackett höher, die Handfläche platt gedrückt, die Finger nach dem Pistolengriff tastend. Vermutlich eine Glock, wie sie der andere Typ gehabt hatte. Ziehen, zielen und abdrücken. Oder lieber nicht. Die Hand des Kerls war noch in Bewegung; sie musste den Griff sicher umfassen, die Waffe ziehen und damit zielen, während er von den Kopftreffern benommen auf dem Rücken lag. Mit anderen Worten langsam, aber trotzdem viel schneller, als Reacher seine Pistole hätte zücken können, weil sich die Hand des Kerls schon unter seinem Jackett befand, während Reachers Hände noch unterhalb der Taille zu einer beschwichtigenden Geste ausgestreckt waren, als wollte er sagen: Brrr, beruhig dich, tu’s nicht !
Weit von seinen Taschen entfernt.
Nicht, dass er eine Pistole einsetzen wollte.
Nicht, dass er das musste.
Er sah eine bessere Alternative. Etwas improvisiert. Keineswegs perfekt. Aber sie würde ihren Zweck erfüllen. Das stand außer Zweifel. Zu den Vorteilen gehörten rasche Einsatzbereitschaft, auf die Geschwindigkeit und Effizienz folgen würden. Das war die gute Nachricht. Bestimmt von Nachteil war, dass er damit gegen die geltende Etikette verstoßen würde. Bestimmt professionell und persönlich empörend. Wie Männer im Mittleren Westen mit ihren Cowboyhüten. Manche Dinge fasste man einfach nicht an.
Manchmal musste es jedoch sein.
Reacher riss Bartons Fender aus ihrem Stand, hielt sie am Hals gepackt und schmetterte den Korpus auf die Kehle des Albaners. Als stieße er einen Spaten tief in weiche Erde. Die gleiche Bewegung, die gleiche Art zu zielen, die gleiche senkrecht nach unten wirkende Wucht.
Der Albaner bewegte sich nicht mehr.
Reacher stellte die Gitarre in den Ständer zurück.
»Entschuldigung«, sagte er. »Hoffentlich ist sie nicht beschädigt.«
»Keine Sorge«, sagte Barton. »Das ist eine Fender Precision. Die hält was aus. Ich hab sie in einem Leihhaus in Memphis, Tennessee, für vierunddreißig Dollar gekauft. Sie hat bestimmt schon Schlimmeres mitgemacht.«
Die Uhr in Reachers Kopf zeigte 4.08 Uhr an. Der Kerl auf dem Fußboden atmete noch, aber leise pfeifend und irgendwie hektisch, fast hechelnd. Daran war vermutlich der Knopf für den Tragegurt schuld, der unten aus dem Korpus herausragte und den Kehlkopfknorpel beschädigt haben musste. Die Augen des Kerls waren nach oben verdreht. Seine Finger scharrten leise auf dem Fußboden, als versuchte er, Halt zu finden oder etwas zu ertasten.
Reacher ging neben dem Mann in die Hocke, durchsuchte ihn und nahm ihm Pistole, Smartphone, Geldbörse und Autoschlüssel ab. Die Pistole war eine weitere Glock 17, relativ alt und abgenutzt, aber gut gepflegt. Das Mobiltelefon in Standardausführung sah wie jedes beliebige Smartphone aus. Die Geldbörse aus schwarzem Leder hatte sich der Körperform ihres Besitzers angepasst; sie enthielt mehrere Hundert Dollar in bar, ein Bündel Kreditkarten und einen Führerschein mit dem Foto des Typs und seinem Namen: Gezim Hoxha. Er war siebenundvierzig. Wie die Autoschlüssel zeigten, fuhr er einen Chrysler.
Hogan fragte: »Was willst du mit ihm machen ?«
Abby sagte: »Wir können ihn nicht laufen lassen.«
»Hier kann er nicht bleiben.«
Barton sagte: »Er braucht einen Arzt.«
»Nein«, sagte Reacher. »Auf dieses Recht hat er verzichtet, als er an die Tür geklopft hat.«
»Das ist brutal, Mann.«
»Würde er mich ins Krankenhaus fahren ? Oder einen von euch ? Ihr braucht euch nur vorzustellen, was er an meiner Stelle täte. Außerdem können wir ihn nicht einliefern. Krankenhäuser stellen zu viele Fragen.«
»Die können wir beantworten. Wir haben legal gehandelt. Er hat sich hier reingedrängt. Wir waren berechtigt, ihn abzuwehren.«
»Versucht mal, das einem Cop zu erklären, dem jede Woche ein Hunderter zugesteckt wird. Das könnte gewaltig schiefgehen. Könnte jahrelang dauern. So viel Zeit haben wir nicht.«
»Er könnte sterben.«
»Das sagst du, als ob’s was Schlechtes wäre.«
»Nun, ist’s das etwa nicht ?«
»Ich würde ihn gegen die Tochter der Shevicks eintauschen. Wenn ich Menschenleben bewerten sollte. Außerdem ist er noch nicht gestorben. Vielleicht nicht in Bestform, aber er hält sich.«
»Was hast du mit ihm vor ?«
»Wir müssen ihn irgendwo verstecken. Nur vorübergehend. Aus den Augen, aus dem Sinn. Irgendwo unterkriegen, bis wir die Entscheidung getroffen haben.«
»Welche Entscheidung ?«
»Ob er eine langfristige Perspektive hat.«
Kurzes Schweigen.
Dann fragte Barton: »Wo könnten wir ihn verstecken ?«
»Im Kofferraum seines Wagens«, antwortete Reacher. »Dort ist er gut und sicher aufgehoben. Vielleicht nicht allzu komfortabel, aber ein steifer Hals dürfte jetzt sein kleinstes Problem sein.«
»Er könnte sich befreien«, erklärte Hogan. »Moderne Autos haben einen Sicherheitsmechanismus. Einen kleinen Hebel, der im Dunkeln leuchtet. Damit lässt sich der Kofferraum von innen öffnen.«
»Aber kein Gangsterauto«, sagte Reacher. »Den haben sie bestimmt ausgebaut.«
Er packte den Kerl unter den Armen, während Hogan die Beine nahm. So trugen sie ihn in die Diele hinaus, während Abby vorauslief und die Haustür öffnete. Sie streckte den Kopf ins Freie und schaute nach links und rechts, bevor sie einen Daumen hochreckte, um zu signalisieren, dass alles in Ordnung war. Reacher und Hogan schleppten den Mann nach draußen und über den Gehsteig. Am Randstein parkte eine schwarze Limousine mit niedrigem Dach und hoher Gürtellinie, sodass die Fenster Reacher an die Sehschlitze eines gepanzerten Fahrzeugs erinnerten. Abby griff in Reachers Tasche, fand die Fernbedienung und drückte darauf. Der Kofferraumdeckel sprang auf. Reacher legte erst den Oberkörper des Kerls ab. Anschließend faltete Hogan auch seine Beine hinein. Reacher kontrollierte die innere Umgebung des Schlosses. Nirgends ein leuchtender Hebel. Ausgebaut.
Hogan trat zurück. Reacher blickte auf den Mann hinunter. Gezim Hoxha. Siebenundvierzig. Ehemals Kriminalbeamter in Tirana. Er drückte den Kofferraumdeckel zu und gesellte sich zu den beiden anderen. Ehemals Militärpolizist in der United States Army.
Hogan sagte: »Das Auto kann nicht hier stehen bleiben. Nicht direkt vor dem Haus. Vor allem nicht mit ihrem Boy im Kofferraum. Irgendwann fahren sie hier vorbei, entdecken und kontrollieren ihn.«
Reacher nickte.
»Abby und ich müssen ihn fahren«, sagte er. »Anschließend stellen wir ihn irgendwo ab.«
»Ihr wollt mit ihm im Kofferraum herumfahren ?«
»Not kennt kein Gebot.«
»Wohin wollen wir ?«, fragte Abby.
»Als der Kerl im Kofferraum davon gesprochen hat, dass Leute Auftrittsverbot in ihren Klubs bekommen könnten, hab ich gedacht: Yeah, das ist allerdings ein Problem, weil sie essen müssen. Dann ist mir eingefallen, dass ich das schon mal zu dir gesagt habe. Als wir in der Tankstelle waren, um an der Imbisstheke ein paar Sachen für die Shevicks zu besorgen. Du hast gefragt, ob ihnen das recht sei. Ich habe geantwortet, dass sie essen müssen. Ihre Schränke sind leer. Vor allem jetzt. Ich wette, dass sie nicht mehr aus dem Haus gegangen sind, seit die Ukrainer davor parken. Ich kenne diese Leute. Sie sind schüchtern und verlegen, trauen sich nicht an dem fremden Auto vorbei. Keiner von ihnen würde den anderen allein gehen lassen, aber zu zweit würden sie sich auch nicht aus dem Haus wagen, weil sie Angst hätten, dass die Ukrainer ihre Abwesenheit ausnutzen würden, um alles durchzuwühlen. Deshalb vermute ich, dass sie gestern gehungert und auch heute nichts zu essen haben. Wir müssen ihnen ein paar Lebensmittel bringen.«
»Was ist mit dem Auto vor dem Haus ?«
»Wir kommen von hinten. Durch den Garten eines Nachbarn. Das letzte Stück legen wir zu Fuß zurück.«
Als Erstes fuhren sie zu dem riesigen Supermarkt an der Ausfallstraße. Wie die meisten solcher Märkte war er durchgehend geöffnet: kalt, leer, weitläufig, höhlenartig, gleißend hell beleuchtet. Sie schoben einen Einkaufswagen von der Größe einer Badewanne durch die Gänge und füllten ihn mit allem, was ihnen für die Shevicks geeignet erschien. An der Kasse zahlte Reacher mit Geld aus Gezim Hoxhas Geldbörse. Das erschien ihm als das Mindeste, was der Kerl unter den gegebenen Umständen tun konnte. Ihre Einkäufe packten sie sorgfältig in sechs gleich schwere Tragetaschen. Wenn sie das letzte Stück zu Fuß zurücklegten, würden sie vielleicht eine längere Strecke gehen, vielleicht über Tore und Zäune klettern müssen.
Sie sperrten den Chrysler auf und stellten die Tragetaschen nebeneinander auf den Rücksitz. Aus dem Kofferraum kam kein Laut. Kein Lebenszeichen. Nichts, gar nichts. Abby wollte nachsehen, wie es dem Mann ging.
»Was ist, wenn’s ihm schlecht geht ?«, fragte Reacher. »Was willst du dagegen tun ?«
»Vermutlich nichts.«
»Also hat’s keinen Zweck, nach ihm zu sehen.«
»Wie lange lassen wir ihn darin liegen ?«
»Bis ihn jemand findet. Das hätte er sich alles früher überlegen müssen. Ich sehe nicht ein, dass ich plötzlich für sein Wohlergehen verantwortlich sein soll, nur weil er sich dafür entschieden hat, mein Wohlergehen zu gefährden. Das kann nicht funktionieren. Sie haben angefangen. Sie können nicht erwarten, dass ich Gesundheitsvorsorge für sie betreibe.«
»Du könntest als Sieger großmütig sein. Das hat mal irgendjemand gesagt.«
»Rückhaltlose Offenheit«, sagte Reacher. »Ich hab dir erzählt, was für eine Art Mensch ich bin. Atmet der Kerl im Kofferraum noch ?«
»Weiß ich nicht«, sagte Abby.
»Aber es ist möglich ?«
»Ja, natürlich.«
»Da bin ich ein großmütiger Sieger. Normalerweise lege ich sie um, liquidiere ihre Familien und pisse auf die Gräber ihrer Vorfahren.«
»Ich weiß nie, wann du mich nur auf den Arm nehmen willst.«
»Das stimmt wohl.«
»Soll das heißen, dass du mich jetzt nicht auf den Arm nehmen wolltest ?«
»Das soll heißen, dass Großmut nicht meine Stärke ist.«
»Du bringst einem alten Ehepaar mitten in der Nacht Lebensmittel.«
»Das ist etwas anderes als Großmut.«
»Trotzdem eine nette Geste.«
»Weil ich eines Tages wie sie sein könnte. Aber niemals wie der Kerl im Kofferraum.«
»Also eine reine Stammesgeschichte«, meinte Abby. »Deine Art Leute gegen alle anderen.«
»Meine Art Leute gegen die falsche Art.«
»Wer gehört zu deinem Stamm ?«
»Fast niemand«, sagte Reacher. »Ich führe ein einsames Leben.«
Sie fuhren mit dem Chrysler in die Stadt zurück, bogen nach links ab, ließen die Stadtmitte hinter sich und gelangten in den Osten, in dem die Shevicks lebten. Dann lag die alte GI -Siedlung vor ihnen. Reacher hatte das Gefühl, sie inzwischen gut genug zu kennen. Er rechnete sich aus, dass sie eine Parallelstraße benutzen konnten, ohne dass die Ukrainer irgendwas mitbekamen. Sie würden um den Block fahren und vor dem Nachbarhaus der Shevicks, das mit ihrem Rücken an Rücken stand, auf der Straße parken. So würden der Lincoln und der Chrysler nur dreißig, vierzig Meter voneinander entfernt stehen. Die Tiefe zweier kleiner Grundstücke. Mit zwei Häusern dazwischen.
Zur Straße hin hatte das Haus fünf Fenster. Hinter einem waren die Vorhänge zugezogen. Vermutlich das Schlafzimmer. Dort schliefen Leute.
Abby fragte: »Was ist, wenn sie uns sehen ?«
Reacher antwortete: »Sie schlafen.«
»Was ist, wenn sie aufwachen ?«
»Spielt keine Rolle.«
»Dann rufen sie die Cops.«
»Eher nicht. Bei einem Blick aus dem Fenster sehen sie ein Gangsterauto. Da machen sie die Augen zu und hoffen, dass es bald wieder wegfährt. Würde jemand sie morgens danach fragen, hätten sie es zweckmäßigerweise vergessen. ›Welches Auto ?‹, würden sie fragen.«
Reacher stellte den Motor ab.
Er sagte: »Ein Hund wäre ein größeres Problem. Er könnte zu kläffen anfangen. Andere Hunde in der Nachbarschaft könnten einstimmen. Die Ukrainer könnten aussteigen, um nachzusehen. Vielleicht aus reiner Langeweile.«
»Wir haben Steaks gekauft«, sagte Abby. »Wir haben rohes Fleisch in unseren Tragetaschen.«
»Riechen Hunde besser, als sie sehen – oder ist’s genau umgekehrt ?«
»Sie riechen und sehen ziemlich gut.«
»Ungefähr ein Drittel aller US -Haushalte besitzen einen Hund. Genau gesagt etwas über sechsunddreißig Prozent. Also haben wir eine über sechzigprozentige Chance, dass alles gut geht. Außerdem bellt er vielleicht gar nicht. Vielleicht bleiben die Nachbarshunde still. Vielleicht denken die Ukrainer gar nicht daran, etwas zu kontrollieren. Zu warm, zu behaglich. Vielleicht schlafen sie sogar. Ich finde, dass wir’s ruhig riskieren sollen.«
»Wie spät ist es ?«, fragte Abby.
»Gleich zwanzig nach fünf.«
»Ich denke gerade daran, dass man jeden Tag etwas tun sollte, das einem Angst macht. Aber ich bin um halb sechs Uhr morgens schon bei der zweiten Sache.«
»Die hier zählt nicht«, meinte Reacher. »Nur ein Spaziergang im Park. Vielleicht buchstäblich. Vielleicht ist ihr Garten schön angelegt.«
»Weil wir gerade bei zwanzig nach fünf sind – die Shevicks schlafen bestimmt auch noch.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie im Augenblick gut schlafen. Sollte ich mich irren, kannst du sie anrufen, um sie zu wecken, sobald wir dort sind. Du sagst ihnen, dass wir vor ihrer Terrassentür stehen und sie nach vorn hinaus kein Licht machen sollen. Wir wollen bei unserem Besuch nicht gestört werden.«
Sie stiegen aus und blieben einen Augenblick lang schweigend stehen. Die Nacht war grau und von Nebel feucht. Aus dem Kofferraum drang weiter kein Laut. Kein Kicken, keine Faustschläge, kein Schreien. Nichts. Sie sammelten die sechs Tragetaschen vom Rücksitz ein und teilten sie auf. Je zwei für Reacher, je eine für Abby. Keiner von ihnen überladen oder einseitig belastet. Startbereit.
Sie betraten den Vorgarten des Nachbarhauses.
Es war zu finster, um beurteilen zu können, ob der Garten schön angelegt war, aber Geruchs- und Tastsinn sowie unabsichtliche Körperkontakte sagten ihnen, dass er mit den normalen Dingen an den normalen Orten konventionell bepflanzt war. Als Erstes kam robuster, elastischer Rasen, vielleicht eine genmanipulierte Züchtung, der sich taunass und glitschig anfühlte. Dann folgte ein Bereich mit knirschendem Feinkies oder gemahlenen Muscheln, vielleicht ein Gartenweg, der auf einer Seite von einer Fundamentbepflanzung aus Koniferen gesäumt wurde, an deren Zweigen ihre Tragtüten im Vorbeigehen raschelten.
Danach kam ein Stück Zaun mit einem Gartentor, das in der Saison bestimmt einmal alle zwei Wochen geöffnet wurde, wenn der Rasen vor dem Haus gemäht werden musste. Trotzdem war es schlecht geölt und quietschte. Als Reacher es aufstieß, war im ersten Drittel ein lautes Holz-auf-Holz-Geräusch zu hören, das wie ein Mittelding aus einem Jaulen und Bellen, einem Schreien und Ächzen klang. Kurz, aber ziemlich laut.
Sie warteten.
Keine Reaktion.
Kein Hund.
Sie zwängten sich durch die nur teilweise geöffnete Tür, schlüpften mit Lebensmitteln voraus und Lebensmitteln hinter sich seitlich durch den Spalt. Dann überquerten sie den Rasen hinter dem Haus. Vor ihnen im Dunkel war der Zaun zum Nachbargrundstück zu erahnen, der zugleich der rückwärtige Zaun der Shevicks war. Nur eben spiegelbildlich. Theoretisch. Wenn sie sich am richtigen Ort aufhielten.
»Alles gut«, flüsterte Abby. »Hier sind wir richtig. Irrtum ausgeschlossen. Man braucht nur Felder wie auf einem Schachbrett abzuzählen.«
Reacher stellte sich auf die Zehenspitzen, um über den Holzzaun sehen zu können. Vor sich hatte er die undeutlich erkennbare Rückseite eines Ranchhauses mit Bitumendach und heller Holzverkleidung. Sehr ähnlich, aber doch anders. Und das richtige Haus. Das bewies die Stelle, wo der Rasen bis ans Gebäude reichte. Dort waren die Familienfotos gemacht worden. Der Soldat und seine junge Frau auf nackter Erde stehend, dasselbe Paar mit einem Säugling auf einjährigem Rasen, dasselbe Paar acht Jahre später mit der achtjährigen Maria Shevick, das Gras inzwischen üppig und dicht. Dasselbe Rasenstück. Dieselbe Wand dahinter.
In der Küche brannte Licht.
»Sie sind auf«, sagte Reacher.
Der Zaun war schwierig zu überklettern, weil er sich in schlechtem Zustand befand. Vernünftigerweise hätten sie ihn durchbrechen oder eine Bresche hineinschlagen müssen, was sie aus ethischen Gründen verwarfen. Stattdessen vergeudeten sie mehr als die Hälfte ihrer Energie damit, ihr Gleichgewicht zu bewahren, während der Zaun unter ihnen in wellenförmigen Bewegungen schwankte. Sie spürten, dass es einen Punkt geben würde, an dem der Zaun einstürzte, vielleicht auf gesamter Gartenbreite. Abby machte den Anfang und schaffte es hinüber. Dann reichte er ihr mühsam die sechs Tragetaschen mit Lebensmitteln, eine nach der anderen, indem er sie hoch über den Zaun hob und auf der anderen Seite so weit hinunterließ, dass Abby sie ihm problemlos abnehmen konnte. Dabei grub sich das obere Zedernholzbrett jedes Mal schmerzhaft in seine Achsel.
Nun kam Reacher an die Reihe, der doppelt so schwer und dreimal so unbeholfen war wie Abby. Der Zaun gierte und schwankte einen Meter in eine Richtung, dann einen Meter in die andere. Aber er schaffte es, ihn zu stabilisieren, und rollte sich dann rasch ab: ein unelegantes Manöver, nach dem er – mit dem wie durch ein Wunder noch stehenden Zaun hinter sich – in einem Blumenbeet auf dem Rücken landete.
Sie trugen die Lebensmittel zur Küchentür und klopften ans Glas. Potenzielle Herzschlaggefahr für die Shevicks, aber sie überlebten. Es gab ein paar leise Aufschreie, hilflose Gesten, hektisches Atmen und leichte Verlegenheit wegen der Bademäntel, aber das renkte sich alles rasch wieder ein. Sie starrten die von Lebensmitteln überquellenden Tragetaschen mit sichtbar gemischten Gefühlen an. Beschämung und verletzter Stolz und leere Mägen. Reacher brachte sie dazu, Kaffee zu kochen. Abby räumte den Kühlschrank ein und füllte ihren Vorratsschrank.
Maria Shevick sagte: »Wir waren noch auf, weil wir einen Anruf aus dem Krankenhaus bekommen haben. Wir haben ihnen gesagt, dass sie uns jederzeit erreichen können. Das steht in der Krankenakte, glaub ich. Sie haben angerufen, weil sie einen weiteren Scan planen. Gleich morgen früh. Sie sind noch immer aufgeregt.«
»Wenn wir zahlen«, meinte Aaron.
»Wie viel diesmal ?«, fragte Reacher.
»Elftausend.«
»Bis wann ?«
»Spätestens heute bei Geschäftsschluss.«
»Unter den Sofapolstern haben Sie bestimmt schon nachgesehen ?«
»Einen Hosenknopf hab ich gefunden. Der hat schon ewig lange gefehlt. Maria hat ihn wieder angenäht.«
»Der Tag hat gerade erst begonnen«, erklärte Reacher. »Bis Geschäftsschluss kann noch viel passieren.«
»Wir wollten diesmal darauf verzichten«, sagte Aaron. »Was hätten wir schließlich davon ? Fällt er gut aus, sind wir natürlich glücklich. Fällt er schlecht aus, wollen wir’s gar nicht wissen. Wir waren unsicher, was wir für unsere elftausend Dollar bekommen würden. Aber dann haben die Ärzte gesagt, dass sie wissen müssen, wie groß die Fortschritte sind, um ihre Medikation entsprechend anpassen zu können. Alles andere wäre gefährlich nachlässig.«
»Wie zahlen Sie normalerweise ?«
»Per Sofortüberweisung.«
»Nehmen sie auch Bargeld ?«, fragte Reacher. »Cash lässt sich am schnellsten auftreiben, wenn die Zeit knapp wird.«
»Aber woher soll das Geld kommen ?«
»Jeder Tag bringt neue Möglichkeiten. Schlimmstenfalls könnten wir ihren Wagen verkaufen. Vielleicht dem Ford-Händler. Wie man hört, muss er seinen Bestand aufstocken.«
»Ja, sie nehmen Bargeld«, meinte Shevick. »Wie ein Spielkasino. Sie haben eine Kassiererin hinter Panzerglas.«
»Okay«, sagte Reacher. »Gut zu wissen.«
Er trat auf den dunklen Flur hinaus und hielt sich im Hintergrund, während er auf die Straße hinausspähte. Der Lincoln stand noch immer da. Dieselbe Limousine. Groß und schwarz, nun mit Tau bedeckt. In seinem Inneren zwei schemenhaft erkennbare Gestalten. Köpfe und Schultern, im Dunkel zusammengesackte Köper. Zweifellos mit Pistolen in Schulterholstern. Jeder bestimmt mit einer Geldbörse in der Tasche. Wahrscheinlich wie bei ihrem Gegenspieler aus Tirana mit Geldscheinen vollgestopft. Vermutlich mit ein paar Hundert Dollar. Aber leider wohl nicht mit elftausend.
Reacher kam wieder in die Küche. Maria Shevick reichte ihm eine Tasse Kaffee. Sein erster Kaffee des Tages. Sie lud die beiden ein, zum Frühstück zu bleiben. Sie würde es zubereiten, und sie konnten es gemeinsam am Küchentisch einnehmen. Wie bei einer improvisierten Party. Reacher hätte am liebsten abgelehnt. Die mitgebrachten Lebensmittel waren für das alte Ehepaar bestimmt, nicht für zufällige Gäste. Außerdem wollte er von hier verschwinden, bevor die Sonne aufging. Solange es noch dunkel war. Vor ihm lag ein stressiger Tag. Es gab viel zu tun. Aber die Frühstücksidee schien den Shevicks viel zu bedeuten, und weil Abby nichts dagegen hatte, willigte er widerstrebend ein. Viel später fragte er sich, wie ganz anders dieser Tag verlaufen wäre, wenn er Nein gesagt hätte. Aber er grübelte nicht lange darüber nach. Nicht mehr zu ändern. Vergeudete Energie. Nach vorn blicken.
Maria Shevick briet Spiegeleier mit Schinken, machte Toast und kochte eine zweite Kanne Kaffee. Aaron schleppte den Hocker vom Toilettentisch im Schlafzimmer als vierte Sitzgelegenheit heran. Maria hatte recht, das Frühstück entwickelte sich tatsächlich zu einer kleinen Party. Wie ein Geheimnis im Dunkeln. Abby erzählte einen Witz über einen Krebskranken. Einen Augenblick lang war zweifelhaft, wie die beiden Alten darauf reagieren würden. Aber ihr Instinkt als Performerin erwies sich als untrüglich. Nach einer Sekunde Schweigen prusteten Aaron und Marie los, konnten sich kaum wieder beruhigen. Maria schlug mit einer Hand so kräftig auf den Tisch, dass ihr Kaffee überschwappte, und Aaron bekam wieder Knieschmerzen, so heftig trampelte er mit den Füßen.
Reacher beobachtete, wie die Sonne aufging. Der Himmel wurde erst grau, dann golden. Der Garten vor dem Fenster nahm Form an. Aus dem Dunkel tauchten vage Umrisse auf: der Zaun, über den sie geklettert waren, die dunkle Masse des mit Bitumenschindeln gedeckten Dachs des Nachbarhauses.
»Wer wohnt dort ?«, fragte er. »Durch wessen Garten sind wir gegangen ?«
»Tatsächlich die Frau, die uns von Fisnik erzählt hat«, antwortete Aaron. »Von ihr haben wir gehört, wie der Cousin der Frau des Neffen eines anderen Nachbarn sich in einer Bar Geld von einem Gangster geliehen hat. Ich glaube, dass sie wenig später auch bei ihm war. Jedenfalls konnte sie plötzlich ihr Auto reparieren lassen. Wovon sie lebt, wissen wir nicht.«
Maria kochte eine dritte Kanne Kaffee. Hol’s der Teufel, dachte Reacher. Die Sonne stand bereits über dem Horizont. Er blieb sitzen und leerte noch eine Tasse Kaffee. Dann kam die Unterhaltung irgendwie wieder auf Geld zurück, und plötzlich schienen alle dieselbe Uhr ticken zu hören. Der Geschäftsschluss an diesem Tag rückte näher.
»Aber Cash bleibt die ganze Nacht lang gültig«, sagte Reacher. »Hab ich recht ? Diese Sache mit dem Geschäftsschluss gilt nur für Banken. Solange ihre Kasse geöffnet ist, haben wir Zeit, bis sie zum Screening gefahren wird.«
»Aber woher soll das Geld kommen ?«, fragte Aaron noch mal. »Elftausend sind kein Pappenstiel.«
»Hoffen wir aufs Beste«, entgegnete Reacher.
Abby und er verließen das Haus auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren – diesmal jedoch mit leeren Händen und schon bei Tageslicht, daher viel schneller, aber nicht weniger unkompliziert.
Ihr Auto war weg.
Der schwarze Chrysler mit niedrigem Dach und hoher Gürtellinie, getönten Scheiben und geschlossenem Kofferraumdeckel. Er stand nicht mehr da. Sein Platz am Randstein war leer.
Abby sagte: »Der Kerl hat sich befreit.«
»Ich sehe nicht, wie das möglich gewesen sein soll«, entgegnete Reacher.
»Was sonst könnte passiert sein ?«
»Meine Schuld«, sagte Reacher. »Ich habe die öffentliche Reaktion falsch eingeschätzt. Die Frau hat bei einem Blick aus dem Fenster ein Gangsterauto gesehen und ist nicht nervös geworden. Stattdessen hat sie das Hauptquartier der Bande angerufen. Vielleicht war sie dazu verpflichtet. Vielleicht hat das zu ihrem Deal mit Fisnik gehört. Sie behaupten, überall ihre Spione zu haben. Vielleicht gehört diese Frau auch dazu. Sie hat angerufen, und sie sind sofort hergekommen, um sich den Wagen anzusehen.«
»Haben Sie den Kofferraum geöffnet ?«
»Davon müssen wir ausgehen. Und auch davon, dass der Kerl noch lebt und ausgepackt hat. Was bedeutet, dass Barton und Hogan in Gefahr sind. Wahrscheinlich schlafen sie noch. Du solltest sie sofort anrufen.«
»Wenn sie schlafen, sind ihre Handys ausgeschaltet.«
»Versuch’s trotzdem.«
Das tat sie.
Ihre Handys waren ausgeschaltet.
»Was ist mit dem Sprachtalent ?«, fragte Reacher. »Dem Panzerkommandeur. Hast du seine Nummer ?«
»Vantresca ?«
»Ja.«
»Nein.«
»Okay«, sagte Reacher, »dann gehen wir zu Fuß. Uns bleibt nichts anderes übrig. Die zierliche, schlanke Schwarzhaarige und der große hässliche Kerl. Am helllichten Tag. Überall Spione. Das wird vermutlich kein Spaziergang durch den Park mehr, eher dein zweiter Schrecken des Tages.«
»Wieder zurück zu Frank Bartons Haus ?«
»Wir müssen sie irgendwie warnen.«
»Ich kann’s unterwegs weiter versuchen. Aber die beiden schlafen bis zehn. Du weißt, wie das ist. Ihr Gig beginnt um Mitternacht.«
»Augenblick !«, sagte Reacher. »Du müsstest Vantresca googeln können. Er hat erzählt, dass er als Unternehmensberater für Gebäudesicherheit arbeitet – und dass seine Nummer in den nationalen Verzeichnissen steht.«
Abby begann zu suchen. Sie tippte und wischte und scrollte.
Sie sagte: »Ich hab ihn !«
Dann: »Hier steht nur seine Festnetznummer im Büro. Da ist er bestimmt noch nicht.«
»Versuch’s trotzdem.«
Das tat sie. Sie schaltete den Lautsprecher ein und ließ das Smartphone flach auf der Hand liegen. Sie hörten eine Serie von Klickgeräuschen, als würde der Anruf von einer Stelle zur nächsten weitergeleitet.
Sie meinte: »Vielleicht lässt er nach Büroschluss eingehende Gespräche auf sein Handy umleiten.«
Genau das war der Fall. Vantresca meldete sich. Er klang genauso, wie sie ihn in Erinnerung hatten: aufgeweckt, wachsam und gut gelaunt. Er sagte: »Vantresca Security, was kann ich für Sie tun ?«
Reacher sagte: »Guy, hier ist Reacher. Der ehemalige Militärpolizist. Abby und ich haben deine Telefonnummer aus dem Internet.«
»Ja ?«
»Aber dies ist kein offizieller Anruf, okay ? Nichts für den Gefechtsbericht.«
»Okay.«
»Außerdem geht’s darum, etwas sofort zu tun und erst hinterher Fragen zu stellen.«
»Was zu tun ?«
»Fahr los und überzeug dich davon, dass mit deinem Kumpel Joe Hogan alles in Ordnung ist. Und mit Frank Barton.«
»Was sollte nicht in Ordnung sein ?«
»Frag bitte erst hinterher.«
»Aber das gleich jetzt ?«
»Die Albaner stehen unter Umständen kurz davor, rauszukriegen, wo wir letzte Nacht waren. Vielleicht wissen sie’s schon. Hogan und Barton sind telefonisch nicht zu erreichen. Wir hoffen, dass das nur daran liegt, dass sie noch schlafen.«
»Okay, bin unterwegs.«
»Hol sie dort raus, auch wenn ihnen nichts fehlt. Diese Sache kann jederzeit eskalieren.«
»Wo sollen sie unterkommen ?«
»Sie können in meine Wohnung«, erklärte Abby. »Die überwacht keiner mehr.«
»Wie lange müssen sie abtauchen ?«
»Einen Tag«, sagte Reacher. »Das zeichnet sich jetzt schon ab. Also brauchen sie nicht viel einzupacken.«
Vantresca legte auf. Abby steckte ihr Smartphone ein. Reacher verteilte die Dinge in seinen Taschen neu, bis sie sich wieder im Gleichgewicht befanden. Abby knöpfte ihre Jacke zu. Dann gingen sie los. Eine kleine Frau und ein großer Mann. Am helllichten Tag. Überall Spione.
Gregory hatte gesagt, er würde morgens als Erstes mit Dino reden, und was Gregory sagte, meinte er auch. Er stand früh auf und zog sich wieder so an wie bei seinem Besuch von neulich: enges Hemd, enge Hose. Nichts zu verbergen. Keine Pistole, kein Messer, kein Mikrofon, keine Bombe. Nicht bequem, aber notwendig. Bei Tagesanbruch war die Luft noch zu kalt für diese Aufmachung. Er wartete auf etwas mehr Wärme und ein paar Schatten. Er wollte tagsüber sichtbar unterwegs sein. Alles eine Frage der Präsentation. Ein Mann voller Energie und Lebenskraft, frisch wie der junge Tag, der aktiv war und frühzeitig die Kontrolle übernahm. Kein Nachtgespenst, das aus der Dunkelheit gekrochen kam und sich zur Unzeit auf den Weg machte.
Auch heute fuhr er zu dem Parkhaus in der Center Street. Von dort aus ging er zu Fuß weiter. Auch dieses Mal wurde er auf dem ganzen Weg beschattet und seine Annäherung telefonisch gemeldet. Als er sein Ziel erreichte, standen dort wieder dieselben sechs Männer, die auf dem Gehsteig vor dem Tor des Holzlagerplatzes einen Halbkreis bildeten. Wie Schachfiguren. Die gleiche Abwehrformation.
Auch dieses Mal trat einer der Männer vor: Jetmir. Das war wie zuvor halb eine Blockade, halb ein Angebot, dem Besucher zuzuhören.
Gregory erklärte ihm: »Ich muss mit Dino reden.«
Jetmir fragte: »Worüber ?«
»Ich hab einen Vorschlag zu machen.«
»Zu welchem Thema ?«
»Das geht vorläufig nur ihn an.«
»Zu welchem Thema ganz allgemein ?«
»Zu einer Angelegenheit, an der wir gemeinsam dringend interessiert sind.«
»Gemeinsam«, sagte Jetmir. »Ein Begriff, der in letzter Zeit rar geworden ist.«
Eine Unverschämtheit, wenn man ihren Rangunterschied bedachte. Er stand nur eine Stufe tiefer – aber dies war die höchste Stufe von allen.
Aber Gregory reagierte nicht darauf.
Er sagte: »Wir sind beide getäuscht worden, glaube ich.«
Jetmir überlegte einen Moment.
»In welcher Beziehung ?« fragte er.
»Der Fuchs ist gescholten worden, aber in Wirklichkeit war der Hund an allem schuld. Ich nehme an, dass es in eurer Kultur eine Volkssage dieser Art gibt. Oder eine ähnliche Redensart.«
»Wer ist der Hund ?«, fragte Jetmir.
Gregory machte eine abwehrende Handbewegung.
»Das geht nur Dino etwas an«, antwortete er.
»Nein«, entgegnete Jetmir. »Wenn du bedenkst, was in letzter Zeit passiert ist, wirst du verstehen, dass Dino im Augenblick wenig Lust hat, mit dir zusammenzutreffen. Nicht ohne eine eingehende Vorbesprechung des Themas mit mir und eine Empfehlung meinerseits. Ich bin sicher, dass du unter solchen Umständen ebenso handeln würdest. Dafür hast du schließlich deinen Stab. Bei Dino ist das nicht anders.«
Gregory sagte: »Bestell ihm, dass nicht wir angefangen haben, eure Männer umzulegen – und dass ich nicht glaube, dass ihr angefangen habt, unsere Leute umzulegen. Frag ihn, ob er sich mit dieser Theorie anfreunden kann.«
»Und wenn er’s kann ?«
»Frag ihn, was das bedeutet.«
»Was bedeutet es denn ?«
»Das muss als Vorschau genügen. Jetzt lasse ich um einen Termin bei Dino bitten.«
»Wer hat dann unsere Kerle umgelegt ? Und eure ? Soll das heißen, dass jemand unter falscher Flagge Krieg gegen uns beide gleichzeitig führt ?«
Gregory schwieg.
»Ich möchte eine klare Antwort«, sagte Jetmir. »Glaubst du, dass sich ein Außenstehender eingemischt hat ?«
»Ja«, sagte Gregory.
»Dann sollten wir miteinander reden. Dino hat mich mit dieser Sache beauftragt.«
»Die liegt oberhalb deiner Gehaltsklasse. Bei allem Respekt. Es gibt einen Grund dafür, dass Stäbe Bosse haben.«
»Dino ist nicht da«, erklärte Jetmir.
»Wann kommt er wieder ?«
»Er war schon früh hier. Jetzt ist er fort.«
»Das ist mein Ernst«, sagte Gregory. »Die Sache ist äußerst dringend.«
»Dann rede mit mir. Dino würde dich sowieso an mich verweisen. Bisher vergeudest du nur Zeit.«
Gregory fragte: »Haben sie euch Handys abgenommen ?«
Jetmir machte eine lange Pause.
Dann antwortete er: »Das fragst du, weil sie offenbar Handys von euch erbeutet haben, was auf einen unmittelbar bevorstehenden Hackerangriff schließen lässt, der das Feld potenzieller Gegner erheblich eingrenzt.«
»Wir glauben, dass letztlich nur die Einzigen infrage kommen, die sich das trauen würden.«
»Dino wird sagen, dass ihr Ukrainer immer von den Russen besessen seid. Das ist allgemein bekannt. Ihr traut ihnen einfach alles zu.«
»Und wenn’s diesmal wahr wäre ?«
»Keiner von uns könnte die Russen schlagen.«
»Nicht allein.«
»Ist das dein Vorschlag ? Gut, ich sorge dafür, dass Dino ihn erfährt.«
»Das ist mein Ernst«, wiederholte Gregory. »Die Sache ist äußerst dringend.«
»Keine Sorge, ich nehme sie ernst. Dino meldet sich bei dir, sobald er kann. Vielleicht kommt er selbst zu euch rüber. Zu dem Taxiunternehmen.«
»Wo er mit der gleichen Höflichkeit empfangen wird, die ich hier genießen durfte.«
»Vielleicht gewöhnen wir uns daran, einander zu vertrauen«, meinte Jetmir.
»Das wird sich zeigen«, sagte Gregory
»Vielleicht werden wir sogar Freunde.«
Darauf gab Gregory keine Antwort. Er wandte sich ab, ließ die Albaner stehen und verschwand. Nach Westen, in Richtung Center Street. Jetmir blieb noch einige Zeit vor Ort und beobachtete ihn. Dann machte er kehrt, benutzte die in das Tor eingelassene Fußgängertür und ging über den Lagerplatz mit seinem Harzgeruch und dem Kreischen von Sägeblättern zu der großen Wellblechhalle.
Unterwegs klingelte sein Handy. Schlechte Nachrichten. Ein bewährter Mann der Nachtschicht, ein gewisser Gezim Hoxha, war in einer schäbigen alten Siedlung draußen am Stadtrand halb tot im Kofferraum seines Wagens aufgefunden worden. Der Tipp war von einer alten Kundin gekommen, die anrief, weil sie dafür beim nächsten Kredit auf günstigere Konditionen hoffte. Vorerst hatte man noch keine Verdächtigen identifiziert. Eine große Suchaktion war jedoch schon angelaufen. Auf den Straßen kreuzten bereits zusätzliche Wagen. Viele Dutzend Leute hielten die Augen offen.
Reacher und Abby verließen die GI -Siedlung der Shevicks auf demselben Weg, auf dem sie hergekommen waren. Sie blieben außer Sicht der Ukrainer in ihrer Limousine und benutzten bis zum letzten Augenblick Seitenstraßen – bis sie schließlich nach rechts auf die Hauptstraße abbiegen mussten, die an der Tankstelle mit der Esstheke vorbei in Richtung Stadtmitte führte. Bis dahin fühlten sie sich verhältnismäßig gut, doch ab diesem Punkt kamen sie sich vor wie auf einem Präsentierteller. Die Sonne schien hell. Die Luft war klar. Deckung gab es nirgends. Sie waren in einer gewöhnlichen Stadtlandschaft unterwegs. Links von ihnen ragte ein zweigeschossiges Klinkergebäude mit staubigen Fenstern und verkratzten Türen auf. Dann ein Gehsteig mit Betonplatten, ein Randstein aus Granit, die asphaltierte Fahrbahn, wieder ein Randstein aus Granit und ein Gehsteig mit Betonplatten. Auf der anderen Straßenseite ebenfalls ein zweistöckiger Klinkerbau mit staubigen Fenstern und verkratzten Türen. Nirgends eine Deckung, die breiter als ein Hydrant oder ein Laternenpfahl gewesen wäre.
Nur eine Frage der Zeit.
Abbys Smartphone klingelte. Der Anrufer war Vantresca. Sie schaltete den Lautsprecher ein und trug ihr Mobiltelefon auf der flachen Hand liegend vor sich her. So sah sie wie eine altägyptische Figur aus einem Pharaonengrab aus.
»Ich war bei Barton und Hogan«, berichtete Vantresca. »Den beiden fehlt nichts. Sie sitzen hier bei mir im Auto und haben mir erzählt, was letzte Nacht passiert ist. Seither ist niemand bei ihnen aufgetaucht.«
Reacher fragte: »Wo seid ihr jetzt ?«
»Wir fahren gleich los zu Abbys Wohnung. Barton weiß, wo sie liegt.«
»Nein, hol uns bitte erst ab.«
»Die beiden haben gesagt, dass ihr über ein Auto verfügt.«
»Das haben die Eigentümer sich leider zurückgeholt. Mitsamt dem Kerl im Kofferraum. Deswegen hab ich mir Sorgen um Barton und Hogan gemacht.«
»Bei ihnen war niemand«, wiederholte Vantresca. »Jedenfalls bis jetzt nicht. Der Kerl hat anscheinend noch nicht ausgepackt. Vielleicht ist er nicht in der Lage dazu. Barton hat mir von der Fender Precision erzählt.«
»Ein stumpfes Werkzeug«, meinte Reacher. »Aber jetzt geht’s darum, dass wir zu Fuß unterwegs sind. Wir können jeden Augenblick entdeckt werden und brauchen einen Treffpunkt für eine Notevakuierung.«
»Wo seid ihr genau ?«
Das war eine schwierige Frage. In ihrer Umgebung gab es keine lesbaren Straßenschilder. Sie waren entweder verblasst oder rostig oder fehlten ganz. Vielleicht von einer Trambahn im Jahr des Untergangs der Titanic umgefahren. Im Jahr der Einweihung von Fenway Park. Abby wischte auf ihrem Smartphone herum. Ohne das Telefongespräch zu unterbrechen, rief sie einen Stadtplan auf. Mit Hinweisen, Pfeilen und pulsierenden blauen Kreisen. Sie las Vantresca Straße und Querstraße vor.
»Fünf Minuten«, sagte Vantresca. »Vielleicht auch zehn. Der Berufsverkehr hat schon eingesetzt. Wo genau soll ich euch abholen ?«
Eine weitere gute Frage. Sie konnten nicht an der Ecke stehen, als warteten sie auf ein bestelltes Taxi. Nicht, wenn sie auf keinen Fall gesehen werden wollten. Reacher schaute sich um. Ihre Umgebung wirkte trist. In den Gebäuden gab es einige kleine Geschäfte, die noch geschlossen waren. Alle etwas schmuddelig aussehend. Läden von der Art, in denen nach zehn Uhr Gestalten mit grauen Gesichtern verschwanden, nachdem sie sich noch mal verstohlen umgesehen hatten. Reacher kannte sich mit Städten aus. Einen Block weiter entdeckte er auf dem Gehweg einen beschrifteten schwarzen Aufsteller, der vermutlich zu einem Coffeeshop gehörte. Er würde um diese Zeit geöffnet haben, aber dort konnten sie nicht warten. Ein Coffeeshop in dieser Straße würde keinen Türsteher haben, aber vielleicht einen Sympathisanten an der Kaffeemaschine, der sich einen Zinsabschlag auf seinen nächsten Kredit verdienen wollte.
»Dort drüben«, sagte Reacher.
Er zeigte auf ein schmales Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Seine Fassade war mit leicht schräg stehenden Balken abgestützt, als wäre sie einsturzgefährdet. Zwischen den Stützbalken war ein schwarzes Nylonnetz gespannt. Vermutlich schrieb die Baubehörde das vor. Vielleicht fürchtete die Stadtverwaltung, herabfallende Ziegel könnten Fußgänger verletzen oder vorbeifahrende Autos beschädigen. Jedenfalls bot das Netz sich als einigermaßen brauchbares praktisches Versteck an: Man konnte dahinterschlüpfen und sich von der Straße aus fast unsichtbar im Halbdunkel verbergen.
Vielleicht zu sechzig Prozent unsichtbar. Das Nylonnetz wirkte dicht.
Vielleicht zu vierzig Prozent. Die Sonne schien hell.
Besser als nichts.
Abby gab die Information weiter.
»Fünf Minuten«, sagte Vantresca wieder. »Vielleicht auch zehn.«
»Was für einen Wagen fährst du ?«, fragte Reacher. »Wir wollen uns nicht für die falschen Leute aus unserem Versteck zwängen.«
»Ein S-Type R Baujahr 2005 in Schwarzmetallic.«
»Du erinnerst dich, was ich über euch Panzerleute gesagt habe ?«
»Wir glorifizieren die Maschine.«
»Ich hab überhaupt nichts verstanden.«
»Das ist ein ziemlich alter Jaguar«, erklärte Vantresca. »Die Sportversion des neu aufgelegten Retro-Modells von Ende der neunziger Jahre. Mit überarbeiteten Ventilstößeln und aufgebohrtem Motor. Und natürlich mit Turbolader.«
»Hilft mir nicht weiter«, entgegnete Reacher.
Vantresca sagte: »Eine schwarze Limousine.«
Er legte auf. Abby steckte ihr Smartphone ein. Sie machten sich auf den Weg, um die Straße schräg zu überqueren und zu dem abgestützten Gebäude zu gelangen.
Ein Wagen brauste um die Ecke.
Schnell.
Eine schwarze Limousine.
Zu früh. Fünf Sekunden, keine fünf Minuten.
Und kein alter Jaguar.
Ein neuer Chrysler. Mit niedrigem Dach, hoher Gürtellinie und getönten Scheiben wie Schießscharten. Wie Sichtluken in der Flanke eines Panzerwagens.
Der schwarze Chrysler kam auf sie zu, wurde für kurze Zeit langsamer und beschleunigte dann wieder. Das wirkte wie ein Stolpern. Als müsste die Limousine zweimal hinsehen, um ihren Augen zu trauen. Als könnte der Wagen selbst nicht glauben, was er sah. Eine zierliche schlanke Frau und einen großen hässlichen Mann. Plötzlich vor ihm auf der Straße. Mitten vor der Windschutzscheibe. In voller Lebensgröße. Eindeutig das Paar, auf das sie achten sollten.
Die Limousine bremste scharf, kam zum Stehen. Fahrer- und Beifahrertür wurden aufgestoßen. Sechs, sieben Meter entfernt. Zwei Männer. Zwei Pistolen. Die Waffen waren Glock 17. Beide Kerle waren Rechtshänder. Kleiner als Gezim Hoxha, aber deutlich größer als der Durchschnitt. Keine kleinwüchsigen Südosteuropäer. Das stand verdammt fest. Beide trugen schwarze Jeans und schwarze T-Shirts. Und Sonnenbrillen. Beide waren unrasiert. Anscheinend hatte man sie aus dem Bett geholt und auf Patrouille geschickt, als Hoxhas Chrysler aufgefunden worden war.
Die Männer traten einen Schritt vor. Reacher blickte nach links, blickte nach rechts. Nirgends eine Deckung, die breiter als ein Hydrant oder ein Laternenmast gewesen wäre. Er steckte die rechte Hand in die Tasche mit der H&K, von der er sicher wusste, dass sie funktionierte. Und die er ebenso sicher nicht benutzen wollte. Schüsse auf offener Straße in der Stadt würden eine Reaktion auslösen. Im unschuldigen Morgensonnenschein noch zehnmal schlimmer als nachts. Tagsüber waren mehr Polizeibeamte im Dienst. Sie würden alle ausrücken. Dutzende von Streifenwagen mit eingeschalteten Blinkleuchten und heulenden Sirenen. Es würde Fernsehhubschrauber und Handyvideos geben. Und Berge von Papierkram, unzählige Stunden in einem Vernehmungsraum mit Cops und einem am Fußboden festgeschraubten Tisch. Die Auswertung von Abbys Smartphone würde Barton, Hogan und Vantresca mit in diese Sache hineinziehen – von den Shevicks ganz zu schweigen. Das Chaos wäre perfekt. Seine Auflösung konnte wochenlang dauern. So viel Zeit wollte Reacher nicht opfern, so viel Zeit hatten die Shevicks nicht mehr.
Die Männer mit den Glocks taten den nächsten Schritt. Wegen der offen stehenden Autotüren kamen sie weit ausholend näher: mit schlurfenden Schritten, die Pistolen mit beiden Händen vor dem Körper haltend, die Augen zum Zielen über Kimme und Korn zusammengekniffen.
Noch ein Schritt. Und noch einer. Dann bewegte der Kerl rechts von Reacher, der den Wagen gefahren hatte, sich langsam weiter, während sein Partner stehen blieb. Der Beifahrer. Ein durchsichtiges Manöver. Wie von Schäferhunden. Einer der beiden sollte hinter Reacher und Abby gelangen, um sie vor sich herzutreiben, bis sie, vor dem zweistöckigen Klinkergebäude angelangt, nicht mehr weiterkonnten. Eine auf der Hand liegende instinktive Taktik.
Voraussetzung dafür war allerdings, dass Reacher und Abby erst stehen blieben, dann kehrtmachten und zuletzt über die Straße zurückstolperten.
Was nicht passieren würde.
»Abby, mach einen Schritt rückwärts«, flüsterte Reacher. »Mit mir.«
Er machte einen Schritt. Sie machte einen. Das veränderte den Winkel für den Fahrer. Der Abstand wurde größer. Er hatte weiter zu gehen.
»Noch mal«, sagte Reacher.
Er machte einen Schritt rückwärts. Sie machte einen.
»Stopp !«, befahl der Fahrer. »Oder ich schieße.«
Tust du’s wirklich ?, fragte Reacher sich. Das war hier die Frage. Der Kerl musste mit denselben Unannehmlichkeiten rechnen wie Reacher selbst: Dutzende von Streifenwagen mit eingeschalteten Blinkleuchten und heulenden Sirenen. Fernsehhubschrauber und Handyvideos. Berge von Papierkram. Unzählige Stunden in einem Vernehmungsraum mit Cops und einem am Fußboden festgeschraubten Tisch. Und das Ganze mit höchst ungewissem Ausgang. Unvermeidlich. Die Sache konnte so oder so ausgehen. Garantien gab es keine. Nicht die Wähler erschrecken ! Außerdem würde es bald einen neuen Polizeichef geben. Und der Kerl musste aus beruflichen Gründen vorsichtig sein. Für ihn war Reacher ein von außen gekommener Agitator, der dringend befragt werden musste. Wir wollen wissen, wer du bist. Konnte er nach seiner Gefangennahme noch befragt werden, würde es Bonuspunkte geben. War er dagegen tot oder lag im Koma oder war tödlich verwundet, hatten die Kerle Strafen zu erwarten. Weil die Toten und im Koma Liegenden nicht reden konnten, während die tödlich Verwundeten nicht lange genug durchhielten, wenn sie gewaltsam vernommen wurden.
Würde der Mann also schießen ? Nach Reachers Überzeugung eher nicht. Wahrscheinlich nicht. Aber nicht ganz auszuschließen. War er bereit, sein Leben darauf zu verwetten ? Vermutlich ja. Das hatte er schon früher getan. Alles auf eine Karte gesetzt und gewonnen. Auch nach zehntausend Generationen funktionierte sein Instinkt noch immer zuverlässig. Er hatte alles riskiert und war lebend davongekommen. Außerdem sah er die Sache relativ gleichmütig. Niemand lebte ewig.
Aber war er bereit, auch Abbys Leben zu verwetten ?
Der Fahrer sagte: »Zeigt mir eure Hände.«
Dann wäre das Spiel aus gewesen. Damit hätten sie den Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gab. Der ohnehin schon nahe war. Die Verhältnisse hatten sich zu ihren Ungunsten verändert. Fahrer und Beifahrer standen jetzt in einem Winkel von etwa sechzig Grad zueinander. Eine gute Position für wirkungsvolles Kreuzfeuer. Der wahrscheinliche Ablauf war leicht vorherzusagen. Reacher würde aus der Jackentasche schießen und den Fahrer treffen. Einer ausgeschaltet. Kein Problem. Aber die Sechzig-Grad-Wende zu dem Beifahrer hinüber würde langsam und unbeholfen ausfallen, weil seine Hand noch in der Tasche steckte, sodass der andere Zeit hätte, zwei bis drei Schüsse abzugeben, die Abby oder Reacher oder beide treffen oder ganz danebengehen konnten. Vermutlich Letzteres, glaubte er, in der realen Welt. Der Kerl war bereits nervös. Wenn er dann abdrückte, würde er verwirrt sein und unter Schock stehen. Auch unter besten Bedingungen gingen die meisten Schüsse aus Faustfeuerwaffen daneben.
Aber würde er Abbys Leben darauf verwetten ?
»Zeigt mir eure Hände !«, wiederholte der Fahrer.
Abby fragte: »Reacher ?«
Zehntausend Generationen rieten ihm: Bleib am Leben und sieh zu, was die nächste Minute bringt.
Reacher nahm die Hand aus der Tasche.
»Jacke ausziehen«, wies ihn der Fahrer an. »Ich kann das Gewicht von hier aus sehen.«
Reacher zog seine Jacke aus. Er ließ sie auf den Asphalt fallen. Die Pistolen in den Taschen schepperten laut. Die ukrainischen H&K, die albanischen Glocks. Sein gesamtes Arsenal.
Beinahe.
Der Fahrer befahl: »Und jetzt ins Auto.«
Der Beifahrer setzte sich rückwärts in Bewegung. Reacher nahm an, dass er ihnen wie der Portier eines Luxushotels die hintere Tür aufhalten werde. Aber das tat er nicht. Stattdessen öffnete er den Kofferraum.
»Gut genug für Gezim Hoxha«, sagte der Fahrer.
Abby fragte: »Reacher ?«
»Keine Sorge, uns passiert nichts.«
»Wie ?«
Reacher gab keine Antwort. Er legte sich als Erster diagonal in den Kofferraum, und Abby füllte auf der Seite liegend den Raum vor ihm aus, als lägen sie aneinandergekuschelt im Bett. Nur waren sie das nicht. Der Beifahrer knallte den billig blechern klingenden Kofferraumdeckel zu. Um sie herum wurde es schwarz. Kein selbst leuchtender Notfallhebel. Ausgebaut.
In diesem Augenblick telefonierte Dino mit Jetmir. Er beorderte ihn in sein Büro, auf der Stelle, augenblicklich. Die Sache musste dringend sein. Jetmir traf binnen drei Minuten ein und nahm vor Dinos Schreibtisch Platz. Dieser studierte das Display seines Smartphones. Er las die vielen Nachrichten über Gezim Hoxha, der am Rand einer alten Siedlung halb tot in seinem Auto aufgefunden worden war.
»Hoxha und mich verbindet eine lange Geschichte«, berichtete Dino. »Ich hab ihn schon gekannt, als er Kriminalbeamter in Tirana war. Er hat mich sogar mal verhaftet und war der gemeinste Kerl in ganz Albanien. Ich hab ihn immer gemocht. Ein solider, zuverlässiger Mann. Darum hab ich ihn auch gern eingestellt.«
»Er ist ein guter Mann«, meinte Jetmir.
»Er kann nicht reden«, sagte Dino. »Vielleicht nie wieder. Sein Kehlkopf ist verletzt.«
»Wir müssen aufs Beste hoffen.«
»Wer war das ?«
»Das wissen wir nicht.«
»Wo ist’s passiert ?«
»Keine Ahnung«.
»Was ist genau passiert ?«
»Er ist bei Tagesanbruch aufgefunden worden«, erklärte Jetmir. »Der Überfall muss schon früher stattgefunden haben – vielleicht eine bis zwei Stunden früher.«
»Ich verstehe nur eines nicht«, sagte Dino. »Gezim Hoxha ist ein Mann mit wertvollen Erfahrungen als Kriminalbeamter in Tirana. Deshalb spielt er in unserer Organisation eine große Rolle. Ich habe ihn persönlich eingestellt, und er ist schon sehr lange bei uns und hat uns gut gedient, sodass er zu unseren wichtigsten Leuten gehört. Hab ich recht ?«
»Ja.«
»Wieso war er dann mitten in der Nacht mit irgendeinem Auftrag unterwegs ?«
Jetmir gab keine Antwort.
Dino fragte: »Habe ich ihm einen Auftrag erteilt, den ich vergessen habe ?«
»Nein«, sagte Jetmir. »Das glaube ich nicht.«
»Hast du ihm etwas aufgetragen ?«
Achtet auf Licht hinter Vorhängen. Klopft an Haustüren und stellt Fragen, wo’s angebracht ist .
»Nein«, sagte Jetmir.
»Das kapiere ich nicht«, meinte Dino. »Ich laufe nicht nachts in der Stadt herum. Dafür habe ich meine Leute. Hoxha hätte im Bett liegen sollen. Wieso war er unterwegs ?«
»Das weiß ich nicht.«
»Du solltest es aber wissen. Du bist mein Stabschef.«
»Ich könnte herumfragen.«
»Das hab ich schon getan«, entgegnete Dino. Sein Tonfall veränderte sich. »Wie sich herausstellt, waren heute Nacht jede Menge Kerle unterwegs. Offenbar wegen einer Sache, die so ernst ist, dass ein erfahrener Mann wie Hoxha dabei schwer verletzt wurde. Der große Aufwand und die vielen eingesetzten Leute lassen auf eine wichtige Sache schließen. Bestimmt eine, von der ich hätte wissen sollen. Zumindest im Diskussionsstadium. Eine Sache, die ich persönlich hätte genehmigen müssen, wie’s bei uns üblich ist.«
Jetmir äußerte sich nicht dazu.
Dino machte eine lange Pause.
Zuletzt sagte er: »Außerdem höre ich, dass Gregory heute Morgen hier war. Er hat uns einen weiteren Staatsbesuch abgestattet. Ich frage mich natürlich, wieso ich darüber nicht informiert wurde.«
Jetmir sagte noch immer nichts. Stattdessen lief die unvermeidliche Fortsetzung dieses Gesprächs in seinem Kopf ab: schnell, stark verkürzt, wie Blitzschach. Ein wogendes Hin und Her. Dino würde unaufhörlich, erbarmungslos weiterbohren, bis der Verrat in all seinen vernichtenden Einzelheiten offengelegt war. Vielleicht wusste er schon alles. Ich könnte herumfragen. Das hab ich schon getan . Also wusste er zumindest einiges …
Jetmir lief ein eisiger Schauder über den Rücken. Er fürchtete plötzlich, alles könnte zu spät sein. Dann erholte er sich und dachte, es sei vielleicht noch nicht zu spät. Er wusste es einfach nicht. Im Zweifelsfall war es immer besser, auf Nummer sicher zu gehen. Ein uralter Instinkt. Zehntausend Generationen bewirkten, dass er unter seine Jacke griff, eins, und seine Pistole zog, zwei, und Dino ins Gesicht schoss, drei. Aus zwei Metern Entfernung über den Schreibtisch hinweg. Dinos Kopf flog zurück. Blut und Gehirnmasse und Knochensplitter klatschten an die Wand hinter ihm.
In dem kleinen holzgetäfelten Raum klang der Schuss aus Jetmirs Neun-Millimeter-Pistole sehr laut. Kolossal laut. Wie eine Bombe. Danach herrschte sekundenlang hallende Stille, bis Leute hereingestürmt kamen. Alle möglichen Leute. Buchhalter aus den benachbarten Büros, Kerle aus dem Führungszirkel, mit Sägemehl eingestaubte Lagerarbeiter, Türsteher, Abkassierer, Schlägertypen … fast alle mit schussbereiten Pistolen, alle schreiend und durcheinanderlaufend wie in einem Film, wenn der Präsident einem Attentat zum Opfer gefallen ist. Verwirrung, Tollheit, Chaos, Panik.
In diesem Augenblick fuhr der schwarze Chrysler mit Reacher und Abby im Kofferraum durchs Tor des Holzlagerplatzes.