V
»Warten Sie nicht auf mich«, fordere ich den Fahrer nach kurzem Überlegen auf.
Zwar möchte ich die Unterredung mit Demon so schnell wie möglich über die Bühne bringen, realistisch eingeschätzt wird es aber doch länger dauern. Warum auch immer.
Mit klopfendem Herzen steige ich aus dem Taxi und setze in derselben Bewegung meine Sonnenbrille auf.
Ich erinnere mich düster, dass ich auf dem College nach dem Kiffen tagelang extrem lichtempfindlich war. Ich habe sogar an meinen Vorlesungen mit Sonnenbrille teilgenommen.
Die College-Zeit war die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich mich halbwegs frei gefühlt habe.
So war mein Kleidungsstil deutlich anders als jetzt. Dort trug ich ausgefranste Jeansshorts und löchrige Strumpfhosen. Dazu ausgelatschte Schnürstiefel und abgetragene Unterhemden von meinen Brüdern. Und Lederarmbänder. Ständig diese Lederarmbänder.
Heute trage ich tussige Sandaletten und einen tussigen, sonnengelben Einteiler, von dem mir beim bloßen Ansehen die Augen schmerzen und der zugegeben ziemlich knapp sitzt. Nur mein zerzauster Haarknoten und mein ungeschminktes Gesicht zeugen davon, dass mir eigentlich recht egal ist, wie ich aussehe.
Die Tür zum El Paso ist erwartungsgemäß verschlossen und erst jetzt fällt mir ein, dass ich mir gar keine Gedanken darüber gemacht habe, wie ich vorgehen will, wenn genau dieser Fall eintritt.
Von daher stehe ich ratlos in der brennenden Sonne, sehe von meinem Taxi nur noch eine wortwörtliche Staubwolke und warte bloß darauf, dass eine verirrte Steppenhexe über die Straße weht.
Ja. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen, weil niemand so blöd ist wie ich und während der Mittagshitze vor die Tür tritt.
Demnach wird es auch keinem auffallen, wenn es einen Psychopathen gibt, der mich beobachtet und direkt die Gunst der Stunde nutzen wird, um mich zu verschleppen, zu foltern, zu vergewaltigen, abzumurksen und zu verstümmeln. Nicht zwangsläufig in der Reihenfolge.
»Was willst du hier?«, höre ich aus heiterem Himmel eine männliche Stimme von rechts.
Entgeistert fasse ich mir an die Brust und wirbele zu der Stimme herum. Es ist der Mann mit den Narben auf seiner linken Gesichtshälfte.
Jetzt, wo ich die vergangene Nacht mehrmals Revue passieren lassen habe und dafür so gut wie gar kein Auge zugemacht habe, bin ich mir inzwischen ziemlich sicher, dass Narbengesicht ebenfalls einer der Fünf Schatten ist.
»Ich ... ich bin hier, um meinen Verlobungsring zurückzuholen«, erkläre ich ihm.
»Wie bitte?« Er baut sich vor mir auf und betrachtet mich mit gerunzelter Stirn, während sich seine Augen hinter einer Fliegersonnenbrille verstecken. Seinen eiskalten Blick spüre ich dennoch auf mir.
Oh Gott. Vielleicht sollte ich nicht allzu sehr die verkaterte, gehirnamputierte Silicon Hills -Göre herauskehren, wenn ich möchte, dass der Mann mir Zutritt zum El Paso verschafft.
»Ähm. Demon hat mir ... meinen Verlobungsring weggenommen und gesagt, ich soll ... kann ihn mir heute wieder abholen.«
Mein Gegenüber verschränkt die Arme vor der Brust und schaut mit unbewegter Miene zu mir hinunter. »Hat sie das?«
»Ja.«
»Und weshalb sollte ich dir das glauben?«
»Weil ... ich bin eine von den ... Mädchen, die gestern Abend diesen ... bescheuerten Junggesellinnenabschied gefeiert haben.« Nervös puste ich eine Haarsträhne aus meinem Gesicht.
Super. Es ist so gut wie windstill und meine Haare fliegen mir trotzdem beim Reden in den Mund.
Er zeigt auf meinen Einteiler. »Und das ist dein Brautjungfernkleid?«
Ich unterdrücke ein Augenrollen. »Nein, die Hochzeit findet erst in ein paar Monaten statt.«
»Hmm«, macht er und fasst sich ans Kinn. »Und was hat das mit Demon zu tun?«
»Habe ich doch gesagt: Sie hat mir meinen Verlobungsring weggenommen.«
»Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»Weiß ich. Ich habe selbst keine Ahnung, warum sie das gemacht hat.«
»Hast du mit ihr rumgemacht?«, knallt er mir unvermittelt vor die Füße.
Ich weiche einen Schritt vor ihm zurück und merke, wie meine Wangen einen sehr gesunden Rotton annehmen. Narbengesicht betrachtet mich nach wie vor mit unbewegter Miene, er hat sich während der gesamten Unterhaltung überhaupt nicht gerührt.
»Ähm.«
»Ja oder nein?«
»Ja. Ein bisschen«, gebe ich kleinlaut zu und lasse den Kopf hängen.
»Gut. Dann kannst du reinkommen. Das erklärt zwar nicht, was das mit dem Verlobungsring auf sich hat, aber das müsst ihr unter euch klären.« Kopfschüttelnd tritt er an mir vorbei und schaut mit verdrießlicher Miene in eine Ecke rechts über der Eingangstür des Clubs.
Es ertönt ein leises Surren und er greift nach dem Türknauf und zieht die Tür auf.
So. Die Person, die dem Typen jetzt Zutritt verschafft hat, dürfte mich längst im Visier gehabt haben und hat mich einfach nicht hineingelassen. Sehr freundlich.
»Nach dir«, sagt er und weist mit der Hand in den düsteren Schlund des El Paso .
Ich lasse nicht auf mich warten, trete an ihm vorbei und passiere nach wenigen Schritten die verwaiste Garderobe. Meine Wangen werden noch heißer und ich schaue hochkonzentriert auf den Boden vor mir.
Ein paar Meter weiter und ich stehe vor der ersten Theke. Dort, wo gestern alles begonnen hat.
Der Club ist schummrig beleuchtet, aber außer mir und Narbengesicht hält sich hier niemand auf.
»Demon hat noch im Hinterhof zu tun. Ich sag ihr Bescheid, dass ihr gestriges One-Night-Stand da ist.«
Ich weiß nicht warum, aber aus irgendeinem Grund würde ich dem Vogel gerne weismachen, dass ich ganz sicher kein One-Night-Stand bin. Schon allein, weil Demon und ich nicht einmal richtig rumgemacht haben.
»Ah, der Hinterhof «, wiederhole ich spöttisch und deute ein wissendes Nicken an. Wahrscheinlich, weil der Kerl mich schon wieder von oben herab betrachtet und überhaupt keine Anstalten macht, zu Demon zu gehen und ihr Bescheid zu geben.
Erneut zieht er die Stirn kraus und nimmt sogar die Sonnenbrille ab. Ein stechendes Augenpaar fixiert meinen Blick. »Was soll dieses Getue jetzt?«
»Das ist kein Getue. Ich weiß, was sie da vergangene Nacht getan hat. Zu meinem Leidwesen war ich nämlich dabei.« Angespannt presse ich die Lippen zusammen.
Ich wüsste echt gern, warum ich es ihm so brühwarm auftische.
Vielleicht, weil ich das Bedürfnis habe, mit irgendwem darüber zu reden.
Zwei Sekunden lang starrt er mich an, doch plötzlich entspannt er sich merklich. »Soso. Na, dann findest du ja selbst dorthin.«
Okayyy. Zeuge eines von Demon ausgeführten Mordes geworden zu sein, ist also der Freifahrtschein für die Hinterräume hier im Club? Interessant.
»Danke«, sage ich nur und rausche an Narbengesicht vorbei. Keine Ahnung, welcher von Adlers Schatten er ist, aber er ist mir mindestens genauso unheimlich wie ... Demon.
Ist sie mir überhaupt unheimlich? War sie es je? Von welcher Natur war denn die Angst, die ich in ihrer Gegenwart empfunden habe?
Falls es Angst war und keine Beklemmungen, weil ich mich von Anfang an mehr oder weniger unbewusst zu ihr hingezogen gefühlt habe.
Wie schön, ich gebe es tatsächlich vor mir selbst zu, dass ich sie heiß finde. Ändert trotzdem nichts an der Gesamtsituation. Morgen Vormittag geht es zurück nach Austin.
Meine Sandalen klatschen gedämpft auf den Boden, als ich die Poledancebühne passiere und auf das Damen-WC zusteuere. Das lasse ich wiederum rechts liegen und drücke die Klinke zu der Tür hinunter, deren Zutritt mir eigentlich verboten ist.
Allerdings gebe ich noch einmal meiner Neugierde nach und schaue mir über die Schulter: Narbengesicht ist an Ort und Stelle stehengeblieben und schaut mir hinterher. Stirnrunzelnd, wenn ich das von hier aus richtig deute. Ich kann es nicht gut erkennen, weil ich meine Sonnenbrille immer noch nicht abgesetzt habe.
Verhalten trete ich durch die Tür und mein Blick fällt sogleich auf Demon, die auf dem Betonboden kniet und mit einer Waschbürste die Wand schrubbt. Sie befindet sich genau dort, wo wir die Leiche des Mannes namens Vasquez liegenlassen haben. Sie trägt gelbe Gummihandschuhe und fährt sich in dieser Sekunde mit dem Unterarm über die Stirn.
Die mit einem Holzkeil fixierte Feuerschutztür steht weit offen und lässt den grellen Sonnenschein hinein, aber auch die Mittagshitze.
»Hey«, mache ich und klinge dabei genauso schüchtern, wie ich mich fühle.
Überrascht schaut Demon zu mir auf und ein Lächeln ziert ihr sommersprossiges Gesicht. »Da bist du ja!«
Sie springt auf die Füße, streift die Handschuhe ab, lässt diese auf einen Eimer mit rosaschäumendem Wasser fallen und kommt auf mich zu.
Über einem weiten, weißen T-Shirt und einer hellblauen, tiefsitzenden Jeans hat Demon sich eine Art Grillschürze gebunden.
Eine Jeans, die so tief sitzt, dass ich jetzt übrigens genau weiß, von welcher Marke ihr Slip ist, da es fett auf dessen Bund gedruckt steht. Während sie auf dem Boden gekniet hat, war das wirklich unschwer zu erkennen. Und ich hätte niemals gedacht, dass es irgendwann so weit mit mir kommt, dass ich einer Frau auf den Arsch glotze.
Schweißperlen stehen Demon auf der Stirn, aber das ändert nichts daran, wie sehr ich mich an ihren Gesichtszügen erfreue. Gerade fällt mir auf, dass sie Grübchen hat, da steht sie auch schon dicht vor mir und mustert mich von oben bis unten.
Mir stockt der Atem, weil ich nicht weiß, wie ich mich ihr gegenüber verhalten soll.
»Wo kommst du denn so plötzlich her?«, fragt sie, anscheinend ohne sich darüber zu wundern, dass ihre Präsenz mir die Sprache verschlagen hat.
Wie selbstverständlich greift sie nach meiner Sonnenbrille und schiebt sie mir ins Haar. Ihre Finger wandern zurück zu meiner Wange und streichen die verirrte Haarsträhne von vorhin hinter mein Ohr.
»Alles klar?«, fragt sie, als ich die Hand hebe, und gegen die plötzliche Helligkeit anblinzle.
»Ja, ich bin nur ziemlich lichtempfindlich heute.«
Sie grinst. »Das ist ja was.«
Ihre Hand befindet sich nach wie vor an meiner Wange, sodass ich etwas in meinem Augenwinkel glitzern sehen kann: mein Ring. Sie trägt ihn noch immer an ihrem eigenen Ringfinger.
Blitzschnell packe ich ihr Handgelenk und sie fährt ertappt zusammen. Dummerweise ist sie stärker als ich und kann sich mir ohne Schwierigkeiten und mit einem teuflischen Blitzen in ihren dunklen Iriden entziehen.
»Bekomme ich den zurück?«, frage ich leise. Das Witzige ist, eigentlich widerstrebt es mir, diesen Ring zurückzuverlangen.
»Später, okay?«, antwortet sie ebenso leise und legt die Hand wieder an meine Wange. Sie nähert sich mir und macht eine auffordernde Kopfbewegung.
Sie will, dass ich sie küsse.
Und ich tue es. Zögerlich. Nur ein Hauch auf unseren Lippen.
»Schwitzig«, murmle ich.
»Ja.« Sie lacht.
Ich löse mich von ihr und zeige auf die fleckige Wand und den Fußboden. Mir wird bewusst, dass ich ganz anders auf diesen Mord reagiert habe, als angemessen gewesen wäre. Ist schließlich etwas pietätlos, dass ich genau an der Stelle stehe, wo vor ein paar Stunden ein Toter lag und die Frau küsse, die ihn umgelegt hat.
»Soll ich dir helfen?«, frage ich sie auch noch.
Was ist eigentlich nicht richtig mit mir?
»Ach, Quatsch.« Sie schüttelt den Kopf und löst die Schürze in ihrem Rücken, zieht sie aus und wirft sie neben den nassen Fleck am Boden. »Ich habe bloß keinen Bock auf Ramirez’ Gezeter, weil ich so eine Sauerei gemacht habe. Das Ende vom Lied wäre eh, dass Adler mich dazu verdonnert, den Tatort selbst zu reinigen, also mache ich es jetzt schon einmal notdürftig.« Sie sieht zu mir auf. »Bloß ist mir dein Besuch gerade ein bisschen wichtiger.«
»Wie nett.« Ich schenke ihr ein ironisches Lächeln. »Im Grunde bin ich nur hier, um den Ring zu holen.«
»Ach wirklich?« Sie zieht eine enttäuschte Schnute und ergreift meine beiden Handgelenke. »Ich dachte, wir machen uns einen schönen Tag und ... vielleicht bleibst du ja auch über Nacht, wenn wir uns gut verstehen?«
Oh, Gott. Spontan wird mir übel, weil sich auf einmal mein Magen zu verkrampfen scheint.
»Ähm«, mache ich, während meine Wangen kochend heiß werden.
»Kein Stress!«, lacht Demon und winkt ab. »Nichts liegt mir ferner, als dich zu überfordern.«
»Ja, genau. Lügnerin.«
Ohne ein weiteres Wort lässt sie ihre Finger in meine Handflächen gleiten und zieht mich rückwärtsgehend hinter sich her, zurück zu der Staff Only -Tür. »Ich werde erst einmal duschen und dann schauen wir mal, okay?«
Ich nicke und weiß einfach, dass ich sie wohl schon die ganze Zeit angucke wie ein Auto.
Sie lächelt und dreht mir den Rücken zu.
Erleichtert atme ich auf. Wenn Demon mich nicht ansieht, kann ich mich schon viel besser konzentrieren. »Vielleicht erklärst du mir ja dann, wieso du mir den Ring weggenommen hast. Dein Kollege mit dem Narbengesicht wollte mich nämlich zuerst gar nicht in den Club lassen, weil die Geschichte so absurd ist«, kommentiere ich und hab langsam echt Schwierigkeiten mit ihr Schritt zu halten.
»Snyper?« Abrupt bleibt sie stehen und schaut sich im Club um, doch der ist vollständig verlassen.
»Keine Ahnung, wie er heißt. Ich kenne die Namen der Schatten nicht auswendig. Wie kommt es eigentlich, dass mindestens zwei von euch hier sind, aber Vaughn Adler ist es nicht?«
»Ach.« Sie grinst mich spöttisch an. »Wer sagt denn, dass Vaughn nicht hier ist?«
»Du hast es gestern gesagt.«
»Habe ich das?« Sie grinst noch immer und ihre Augen glitzern.
»Ja, als ich dir erläutert habe, warum wir Coras Junggesellinnenabschied unbedingt hier feiern mussten.«
»Hmm.« Sie macht ein scheinbar nachdenkliches Gesicht. »Da muss ich wohl gelogen haben.«
»Und warum?«
»Ganz einfach.« Sie lacht dreckig. »Weil mich diese Cora schon bei ihrem bloßen Anblick genervt hat. Normalerweise wäre das eine perfekte Gelegenheit gewesen, um Ramirez auf die Palme zu bringen, indem ich Vaughn ein Mädchen vorstelle, das scharf auf ihn ist, aber diese Cora war ja total zum Abgewöhnen.« Erneut wirkt sie nachdenklich. »Andererseits hätte ich ihm mit ihr auch mal so richtig auf den Sack gehen können. Schade. Gelegenheit verpasst.«
»Ach. Und weil du sie so ätzend fandst, hast du sie geküsst, ja?« Ich löse mich von ihr und verschränke die Arme vor der Brust.
»Eifersüchtig?«
In diesem Moment scheint es mir wie Schuppen von den Augen zu fallen: »Du wolltest dich ursprünglich an Cora ranmachen und nicht an mich.«
»Möglich.« Ihr Grinsen wird immer breiter, während sich in meinem Magen ein brennender Klumpen zu bilden scheint, der mehr und mehr anwächst. Ich fürchte, dass ich gleich selbst in Flammen stehe und ...
Empört balle ich die Hände zu Fäusten. Nicht, weil ich wütend auf Demon bin, dass ich für sie nur eine weitere Ablenkung zu sein scheine, sondern, weil ich mir eingebildet habe, dass da irgendetwas zwischen mir und Demon zu sein scheint. Nichts Greifbares. Bloß das Gefühl, dass ... etwas Besonderes zwischen uns passiert ist, gerade passiert und passieren wird.
Heute Nacht habe ich noch ganz anders darüber gedacht, aber da ... war ich auch stoned.
»Ich mag es, wenn du eifersüchtig bist«, erklärt Demon in diesem Moment mit einem leisen Lachen, greift nach meinem Handgelenk und löst meine verschränkten Arme voneinander.
Sie tritt so nah an mich heran, dass ich wieder ihren blumigen Duft aufnehme.
Während Demon meinen Blick auffängt, streichen ihre Finger sanft über meine Schläfe. »Ich habe sie geküsst, um zu sehen, wie du reagierst, Evie.«
»Wie bitte?«
»Ich habe dich getestet. Ob es dir egal ist, ob es dich anwidert oder ob du ... in irgendeiner Weise gekränkt bist.«
»Und das konntest du im Halbdunkeln erkennen?«
»Du hast dich weggedreht, als ich dich angesehen habe.«
»Das hätte doch genauso gut bedeuten können, dass ich beschämt oder angewidert bin.«
»Ja, aber dein Blick hat mehr verraten als tausend Worte.«
»So. Hat er das? In der Sekunde, als wir Blickkontakt hatten? Du weißt doch gar nicht, was mir da durch den Kopf ging. Ich kann mich ja selbst kaum daran erinnern.«
»Du wolltest mit Cora die Plätze tauschen.«
»Gar nicht.«
»Doch. Du hast dich gefragt, wie es sich wohl anfühlt, mich zu küssen. Gib es zu.«
»Das sind nur Vermutungen, die du jetzt anstellst. Gestern Nacht hast du dir doch gar keine Gedanken darum gemacht. Außer, warum ich dich die ganze Zeit anstarre.«
»Ja, und bei der Gelegenheit habe ich mich gefragt, ob du wohl Interesse an mir hast.«
»Gestern klang es aber ganz anders. Du hast gedacht, dass ich irgendetwas ausgeheckt habe.«
»Ausgeheckt?«
»Ja?«
»Süß.«
»Geht so. Außerdem hast du gesagt, dass du mich gar nicht erst angebaggert hättest, wenn wir uns nicht in dem Hinterzimmer da begegnet wären.«
»Vielleicht habe ich da ja auch gelogen.«
»Lügst du immer so viel?«
»Möglich.«
»Du spielst mit mir. Und das ist gemein.«
Demon kommt mir noch näher, sodass sich unsere Münder fast berühren. »Sag mir nicht, dass ich mit dir spiele, wenn du diejenige bist, die einen Verlobten zu Hause in Austin sitzen hat.«
»Der sitzt nicht in Austin, sondern in Washington D.C. und ich habe ihn seit Wochen nicht gesehen.« Automatisch weiche ich ein paar Schritte vor ihr zurück, zumindest so weit, wie Demons Hand es zulässt, die meine Hand fest umklammert.
»Und weshalb ziehst du nicht nach D.C., wenn ihr euch so selten seht und du offenbar underfucked bist? Wieso machst du dich dann an mich ran?« Sie neigt ihren Kopf zur Seite und scheint genau meine Mimik zu studieren.
»Ich habe mich nicht an dich rangemacht. Das warst ja wohl du.«
»Gut, dann hast du dich eben auf mich eingelassen. Vielleicht hättest du es ja nicht getan, wenn du dich regelmäßig von deinem Verlobten ficken lassen würdest.«
Beleidigt beiße ich mir auf die Unterlippe und senke die Lider. »Er will nicht, dass ich zu ihm nach D.C. ziehe. Er hat da ... eine oder mehrere Freundinnen.«
»Ach so, du möchtest dich an ihm rächen.«
Ich schaue wieder auf und stiere sie erbost an. »Kannst du mir mal sagen, weshalb ich jetzt die Böse bin?«
»Wieso? Bin ich es etwa?«
»Ja! Du bist zumindest diejenige, die andere Menschen umbringt.«
»Und das macht mich automatisch böse? Zum einen ist das mein Job und zum anderen hat jeder Einzelne von denjenigen, deren Leben ich beende, den Tod verdient. Das habe ich dir gestern schon gesagt.«
»Ach. Du bist echt eine Auftragskillerin?«
»Auch.«
»Wenn ich dich dafür bezahlen würde, würdest du also auch Barry umbringen?«
Sie lacht leise. »Den würde ich sogar komplett kostenlos für dich umbringen.«
»Warum? Weil er es verdient hat?«
»Japp. Und weil du mich darum bittest.«
»Ich bitte dich gar nicht darum.«
»Nicht?«
»Nein.«
»Und warum ziehst du es in Betracht, ihn umbringen zu lassen?«
»Damit ich frei sein kann.«
»Sehr uneigennützig von dir. Du wirfst mir vor, dass ich Leben beende und dann kommst du daher und willst deinen Verlobten tot sehen, weil du zu feige bist, ihm zu sagen, dass du ihn nicht heiraten wirst.«
Erneut beiße ich mir auf die Unterlippe. »Vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt gehe.«
Sie schüttelt den Kopf. »Oh, nein. Du bleibst. Ich bin noch nicht fertig mit dir.«
In meinem Bauch kribbelt es und mein Herz macht einen Satz. »Wie meinst du das?«
»Ich will wissen, woher du mich kanntest. Du hast Snyper nicht erkannt, der im Grunde der Prominenteste von uns Schatten ist, und wusstest seinen Namen nicht. Als ich Chase erwähnte, hast du ebenfalls nicht reagiert und dann sagen dir die Namen Noyce und Thorne wahrscheinlich noch weniger. Aber von mir hast du gehört?«
»Ja ...« Gute Frage, eigentlich. »Ich glaube, weil du zu den Adlers gehörst.«
»Die anderen Schatten gehören auch zu den Adlers«, weist sie mich unverwandt zurecht und ich wundere mich, wieso das Thema einen empfindlichen Nerv bei ihr trifft.
»Ja, aber ... du wurdest in die Familie hineingeboren«, versuche ich mich herauszuwinden.
»Und wieso erklärt das dein Interesse an mir?«
»Welches Interesse denn?«
»Na, dein allgemeines Interesse. Offenbar existierte das schon, bevor wir uns kennengelernt haben.« Sie tritt einen Schritt näher an mich heran und die Hand, die meine eben noch fest in ihrem Griff hatte, streicht sacht meinen Unterarm hinauf, bis zu meinem Ellenbogen und wieder zurück.
Es kitzelt, ist aber trotzdem angenehm. Weil Demon es tut. Bei Barry wäre ich weggezuckt und hätte ihn angemotzt.
»Das ... ich kann es dir nicht sagen.« Ich senke den Blick und betrachte ihre Hand dabei, wie sie noch immer meinen Arm streichelt.
»Du kannst es nicht sagen oder du willst es nicht sagen?« Ihre Lippen berühren meine Wangen und wandern hinunter, bis zu meinem Mund. Sie umfasst mit beiden Händen mein Gesicht und bringt mich dazu, sie anzusehen.
»Ich weiß es nicht, Demon.« Bevor sie mir diese Fragen gestellt hat, habe ich nie darüber nachgedacht, warum ich mich über sie informiert habe. Vor allem kann ich nicht einmal sagen, wann ich es getan habe und in welchem Zusammenhang. Ich weiß nur, dass ich es getan habe.
»Sag bloß, du warst schon immer von mir fasziniert? «
Ganz toll, meinen Wortlaut von letzter Nacht hat sie sich offenbar genau gemerkt.
»Mag sein«, antworte ich ihr ausweichend und versuche genauso ihrem Blick auszuweichen.
Doch ihr Griff um meine Wangen verfestigt sich. »Willst du es nicht zugeben?« Ich kann genau den amüsierten Unterton in ihrer Stimme hören.
»Ich kann nichts zugeben, dessen ich mir bis eben gar nicht bewusst war«, gebe ich schnippisch zurück.
Sie küsst mich sanft auf den Mund. »Du bist so süß. Normalerweise würde ich davon ausgehen, dass du irgendwelche hinterhältigen Absichten hast, aber in deinem Fall bin ich mir fast sicher, dass ... du wirklich so überfordert mit der Gesamtsituation bist, wie du vorgibst zu sein.«
»Fast?« Ich schaue auf in ihre dunklen Augen.
»Na ja. Ich bin von Haus aus ziemlich misstrauisch.«
»Ach so. Und deine misstrauische Seite geht davon aus, dass ich in irgendeiner Weise ... von dir profitieren oder dich ausnutzen will?«
»Genau.« Sie küsst mich erneut. Diesmal etwas fordernder.
»Nur leider habe ich absolut keine Ahnung, wieso ich das tun sollte«, nuschle ich auf ihre Lippen.
»Vielleicht, weil du über mich an kostenloses Gras kommst.«
Erst jetzt kapiere ich, dass Demon die ganze Sache tatsächlich nicht ernst zu nehmen scheint.
»Na ja, an Gras, das du aus den Jacken Verstorbener klaust.«
»Besser als gar kein Gras, oder?« Sie nimmt wieder meine Hand, lächelt mich verheißungsvoll an und zieht mich zu einer Tür, die sich hinter einer der Theken befindet, auf der ebenfalls Staff Only geschrieben steht.
»Eigentlich komme ich gut ohne Rauschgift zurecht«, beteuere ich, während ich wenigstens ein bisschen widerstrebend hinter ihr her stolpere. Ich befürchte nämlich, dass unsere Zweisamkeit erneut darauf hinausläuft, dass Demon mich dazu überredet, mit ihr etwas zu rauchen.
»Ganz ehrlich, ich glaube, in meiner Gegenwart solltest du häufiger kiffen. Du bist ja sowas von verkrampft.«
Sie stößt die Tür auf, hinter der sich ein Vorratsraum befindet. Zu unserer Rechten geht eine Tür zu einem Kühlraum ab und am hinteren Ende erkenne ich eine hölzerne Wendeltreppe, die in eine obere Etage führt.
Richtig. Ich habe mir gar keine Gedanken über die oberen Stockwerke des Hauses gemacht.
Die beste Gelegenheit, Demons letzte Stichelei zu übergehen: »Du wohnst hier?«
Vor der Treppe bleibt sie abrupt stehen und schaut mich über die Schulter an. »Oder wenigstens Yoga.«
»Hä?«
»Ich sagte, du solltest wenigstens Yoga machen.«
»Ich mache Yoga.«
»Und dann bist du so verkrampft?«
»Ich bin nicht verkrampft, ich ... ich fühle mich nur ... ich bin einfach nur verwirrt.«
»Meinetwegen?«
»Ja, deinetwegen. Es geht alles so schnell, irgendwie. Und dabei sind wir uns völlig fremd. Und außerdem bin ich verlobt. Ich weiß nicht, wie oft ich das noch sagen muss, bis diese Tatsache ein schlechtes Gewissen bei zumindest einem von uns hervorruft.«
Auf der Hälfte der Treppe hält Demon inne und beißt sich auf die Unterlippe. »Du weißt, dass ich gewissenlos bin.«
»Bist du das?«
»So ziemlich.« Sie hebt die Hand und lässt ihre Fingerspitzen über meine Wange gleiten. »Es ist doch nur noch für heute. Ab morgen lasse ich dich in Frieden.«
»Wir fahren morgen ohnehin zurück nach Austin.«
»Siehst du. Dann werden wir uns nie wiedersehen und das alles hier ist niemals passiert.«
Ich nicke. »Okay.«