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Knastbruder

Nachdem sie Lucy an der Schule abgesetzt hat, macht sich Lola auf die dreieinhalb Stunden dauernde Fahrt von Huntington Park zum Locust Ridge Prison. Die Landschaft besteht aus Wüste, Staub und Bergen. Außerhalb des Los Angeles County fließt der Verkehr gleichmäßig. Als das Radio Flakiss spielt, lässt Lola die Fenster runter. Ihre Haare flattern im Fahrtwind, fliegen ihr vor die Augen, peitschen ihre Wangen. An einer Tankstelle, die sie von ihren unzähligen Fahrten kennt und die, wie sie weiß, eine saubere Toilette hat, hält sie an und kauft eine Flasche Vitaminwasser und eine Tüte Salzmandeln. Den Weg kennt sie mittlerweile aus dem Effeff. Einmal pro Monat fährt sie die Strecke, es sei denn, Lucy hat etwas vor, bei dem Lola dabei sein muss.

Am Eingang durchläuft sie den üblichen Securitycheck. Sie hebt beide Hände über den Kopf und lässt den Wachmann sie abtasten. Mit der behandschuhten Hand fährt er ihr sogar durch die Haare, die nach der Fahrt zerzaust und verschwitzt sind. Er weiß, wie sie heißt, dennoch sagt er »Ma’am« zu ihr. Das ist keine respektvolle Anrede, sondern ein Signal, mit dem er ihr zu verstehen gibt, wer das Sagen hat und dass sie besser seinen Anweisungen folgt. Auch sie kennt seinen Namen, Rooney, sie spricht ihn damit an. Oft hat sie ihm auch schon von ihren Mandeln angeboten, aber er hat jedes Mal abgelehnt.

Der Besucherraum ist langgestreckt und hat eine niedrige Decke mit scheußlich grellen Leuchten. Vor einer Glasscheibe steht eine Stuhlreihe, dazwischen kleine Trennwände, die aber nur die Illusion eines vertraulichen Gesprächs vermitteln. Der Raum ist voller Augen und Ohren. Hier geht es nur um Hören und Sehen, nicht um Berühren. Es riecht nach Putzmittel und alten Donuts, zwei Gerüche, die zwar vertraut und vertrauenerweckend wirken können, aber nie verlockend. Lola bekommt davon ein flaues Gefühl im Magen.

Als sie den zugewiesenen Besucherplatz, die Nummer sechs, erreicht, sitzt Hector bereits hinter der Scheibe. Er hat die Hände in den Schoß gelegt, so dass sie die Handschellen nicht sieht. Sie weiß nicht, ob er sie absichtlich vor ihr verbirgt, um ihr den Anblick zu ersparen, oder ob er es unbewusst tut. Sie glaubt Letzteres, weil Hector wissen müsste, dass man sie nicht beschützen muss. Sie ist keine Frau, die weint, wie die Frau zwei Stühle weiter, eine ältere Schwarze in orthopädischen Schuhen. Dem Alter des Mannes nach, der ihr gegenübersitzt, sind sie Mutter und Sohn. Die meisten Gewaltverbrechen werden von Leuten in den Zwanzigern begangen, auch wenn Lola im Augenblick nicht einfällt, woher sie diese Statistik kennt. Vielleicht hat sie sich das auch nur ausgedacht. Dennoch schießt ihr die Frage durch den Kopf, wie lange die Frau schon hierherfährt, um den jungen Mann zu besuchen, den Lola für ihren Sohn hält. Wie lange weint eine Mutter um ihr verlorenes Kind?

»Hey«, sagt Hector. Seine Hände liegen jetzt auf der Ablage, weil er den Hörer genommen und sich zwischen Ohr und Schulter geklemmt hat. Er trägt tatsächlich Handschellen, und Lola verspürt einen Stich.

Sie verdrängt den Gedanken an den Zeigefinger, den sie ihm vor zwei Jahren nach einer missglückten Drogenübergabe zur Strafe abgeschnitten hat.

Lola nimmt ihren Hörer und klemmt ihn sich aus Solidarität ebenfalls zwischen Ohr und Schulter.

»Gut siehst du aus«, sagt sie wie bei jedem Besuch und meint es auch. Die zwei Jahre Gefängnis haben aus dem Jungen einen Mann gemacht. Das hätte Lola selbst gern getan, doch ihr ist es nicht gelungen. Seine langen glänzenden schwarzen Haare sind im Nacken zu einem kleinen Knoten geschlungen. Offen getragen, das weiß Lola, würden sie ihm in glatten seidigen Strähnen auf die Schultern fallen. Auf dem Gesicht sind schwarze Bartstoppeln. Unter dem orangen Gefängnisanzug zeichnet sich sein Bizeps ab. Seine Schultern sind breiter geworden. Die Augen, die einmal große braune Teiche waren, die Lola nach allem anbettelten, was er sich wünschte – Eiskrem, Verzeihung, Gnade, Abendessen –, haben sich zu schwarzen Schlitzen verengt. Ist das ein Zeichen, dass aus dem Jungen ein Mann geworden ist?

»Danke. Du auch«, sagt Hector, aber Lola weiß, dass das Kompliment nur so dahingesagt ist. Ihres auch, aber immerhin nimmt sie sich meist die Zeit, um zu prüfen, ob die Worte, die sie ausspricht, wahr sind. Hector dagegen sieht sie kaum an. Ob er befürchtet, wieder zum kleinen Jungen zu werden, wenn er ihr in die Augen sieht?

»Du siehst mich überhaupt nicht an«, bemerkt sie, weil das bei früheren Besuchen meist anders war. Lola mag verantwortlich sein, dass Hector hinter Gittern gelandet ist. Aber Hector hat vorher im Namen der Gang und in ihrem Namen so viel unverzeihliche Scheiße gebaut, dass die Einsicht, sie habe ihn geopfert, für ihn eine ungeheure Erleichterung war. Hector hatte sie die ganze Zeit nicht um Gnade, sondern um Strafe angebettelt.

»Oh«, sagt Hector. Sie sieht, dass durch seinen Körper ein Ruck geht. Er setzt sich aufrechter hin und richtet seine schwarzen Augenschlitze auf sie. Keine Entschuldigung. Er korrigiert nur die Haltung, nicht sein Verhalten. Lola begreift, dass das Gefängnis aus ihrem Bruder nicht nur einen Mann gemacht hat, sondern aus einem Zivilisten auch einen Soldaten.

Gut, denkt sie, denn gleich bekommt er seinen ersten Befehl in dieser Umgebung.

»Wie wirst du hier behandelt?«

»Alles okay.«

»Nicht gut?«

»Es ist ein Gefängnis«, sagt Hector. »Wir sitzen eine Strafe ab. Wir sind selbst schuld, dass wir hier drin sind.«

Und ich, denkt Lola, ich bin schuld, weil ich Darrel King mit einer zerschlagenen Bierflasche den Hals aufgeschlitzt habe. Aber nur, weil du mich in den Schlamassel reingeritten hast, Hector. Ich habe dein Leben gerettet.

Hector wird zehn Jahre einsitzen, vielleicht etwas kürzer. Dann ist er fast dreißig. Seine Zwanziger wird er verpassen, die Phase, in der weiße Jungs dummes Zeug anstellen dürfen und daraus lustige Geschichten mit Nutten, Koks und wilden Partys machen, für die allerdings alle anderen zahlen müssen.

»Macht dir wer Ärger?«

»Nope. Lola, um mich brauchst du dir keine Sorgen machen. Bei mir hier ist alles gut.«

Lola möchte ihn korrigieren. Ja, die Crenshaw Six haben jetzt mehr Macht als vor zwei Jahren. Sie haben mehr Ecken, mehr Stoff, mehr Geld und eine einflussreiche Weiße als Partnerin – sie ist sogar Staatsanwältin –, aber sie sind nicht die MS-13. Sie haben kein großes Netzwerk an Leuten im Gefängnis, das Schutz bietet und die Möglichkeit, Drogen zu verkaufen und sogar im Knast Geld zu verdienen. Hier ist seine Hautfarbe das Einzige, was Hector mit allen anderen verbindet. Macht ihn das automatisch zum Adoptivkind der MS-13 oder einer anderen Latino-Gang? Werden sie die Schwarzen in die Schranken weisen und die Aryan Nations hindern, Hector in der Dusche zusammenzuschlagen? Ist der Schutz ihres Bruders für sie selbstverständlich? Und selbst wenn, werden sie eines Tages vielleicht doch nicht zur Stelle sein, um ihn zu retten?

»Lola«, sagt Hector und beugt sich vor. »Mir geht’s wirklich gut.«

»Okay.« Lola schluckt den Kloß in ihrem Hals so schnell runter, dass es schmerzt.

»Hast du alles für die Party heute Abend?«

»Ich muss nur noch die Sandwiches abholen.«

»Ach ja, Sandwiches. Weißenfutter von so ’nem Deli in Santa Monica. Wie hieß der noch mal, Bay Cities?«

»Ja. Wer hat dir das erzählt?«

»Mom hat mir eine Mail geschrieben«, antwortet Hector. Als Hector nach Locust Ridge kam, legte sich Maria doch tatsächlich eine E-Mail-Adresse zu. Gegen Lolas Rat bei AOL. Lola hatte ihr gesagt, dass kein Mensch mehr AOL benutzt, aber Maria stellte stolz einen Scheck über fünfundzwanzig Dollar für einen Dienst aus, von dem Lola nicht gedacht hätte, dass man dafür noch zahlen konnte, klebte eine Briefmarke auf einen weißen Umschlag und ging damit höchstpersönlich zum Briefkasten an der Ecke. Als Lola ihre Mutter deswegen zur Rede stellen wollte, meinte Maria, sie solle sich aus ihren Angelegenheiten raushalten. Na prima, dachte Lola, dann zahl ich auch deine Miete nicht mehr und koche nicht für dich, und ich klopfe auch nicht jeden Morgen bei dir an die Tür, um sicherzugehen, dass du dir keine Überdosis verpasst hast. Doch Lola hielt ihren Mund, eine jahrhundertealte Sitte, die Töchter aller Kulturen zwingt, gegenüber ihren Müttern zu schweigen, und als es Abend wurde, bereitete sie für Maria Tacos al carbón zu.

»Weißt du, warum sie bei AOL ist? Ich hab ihr gesagt, dass kein Mensch mehr bei denen ist«, sagt Hector.

»Ja, hab ich ihr auch gesagt. Weißt du, dass sie sogar dafür zahlt?«

»Scheiße, echt?«

»Jeden Monat schickt sie denen ’nen Scheck. Wahrscheinlich sackt irgendein nigerianischer Prinz den ein.«

»Ja, wahrscheinlich.«

»Mom ändert sich nicht mehr«, sagt Lola und freut sich, dass sie und Hector über den ärgerlichen, aber harmlosen Internetservice ihrer Mutter sprechen und nicht über ihre potenziell tödliche Heroinsucht. Für einen Moment könnten sie Geschwister aus einem Vorort sein, die sich kopfschüttelnd und zugleich voll Zuneigung über eine Schrulle eines alternden Elternteils wundern.

»Hätte dich heute gar nicht erwartet«, bemerkt Hector. »Dachte, dass du mit der Party zu viel um die Ohren hast.«

»Nicht so viel, dass ich dich nicht besuchen könnte.« Was stimmt, Lola hat den Besuch heute lange geplant, auch bevor die Schwangere am Morgen mit ihrem Mordgesuch aufgetaucht ist. Clevere Terminplanung, denkt Lola, obwohl sie einräumen muss, dass Camilla nicht verlangt hat, dass sie den Mordbefehl heute schon gibt.

»Ist sonst noch was? Mit Mom?«

Und damit sind sie wieder Hector und Lola, Kinder einer Junkie-Mutter, die immer aufeinander aufpassen, falls Maria wieder einmal beschließt, all ihr Hab und Gut zu verpfänden und sich eine Nadel zwischen die Zehen zu setzen, weil die Venen in ihren Armen schon zu kaputt sind.

»Ja.«

Hectors Körper strafft sich.

»Nicht mit Mom«, beeilt sich Lola. »Es ist … Arbeit.«

Sie muss vorsichtig sein. Hier steht ein Wachmann in jeder Ecke, stockstill, um die Gespräche der Gefangenen mitzuhören. Noch nie hat sie einen Mordbefehl vor so vielen Gesetzeshütern gegeben, wenn Gefängniswärter denn dazuzählen.

»Worum geht’s?«

»Eine Frau ist zu mir gekommen«, sagt Lola und zwingt sich zu einem Lächeln, das sie in ihrem Gesicht einfriert, damit sie ihr Handy hochhalten und ihm das Display zeigen kann, ohne aufzufallen. Darauf sind Fotos von Lucy, und sie scrollt zu ihnen, während sie weiterspricht. »Sie hat Probleme mit ihrem Ehemann.«

Hector lacht über die Fotos von Lucy, die mit untergeschlagenen Beinen auf der Couch sitzt und versucht, einen Dickens-Roman zu lesen, den Lola auf dem Flohmarkt entdeckt hat. Lola will Lucy aber nicht in die Sache hineinziehen. Sie scrollt weiter.

»Diese Frau braucht Hilfe.«

»Wobei?«

»Ihr Mann ist auch hier drin. Vielleicht kennst du ihn sogar.« Lola kommt zu dem Foto, das ihr die geschlagene Frau gezeigt hat. Es war ein Abzug, und Lola hat ihn mit dem Handy fotografiert, als er auf dem Küchentisch lag. Keine SMS zwischen der Schwangeren und Lola.

Der Mann der Schwangeren hat einen Bauch, seine schwarzen Haare sind schütter und werden grau, er ist mindestens zwanzig Jahre älter als Camilla. Der Schnurrbart kann nicht von den dicken Wangen ablenken. In den schwarzen Augen blitzt so etwas wie Freude auf, der rechte Mundwinkel deutet ein Lächeln an. Er sitzt vor einem riesigen Geburtstagskuchen mit zu vielen Kerzen, als dass man sie zählen könnte. Lola hat das Foto lange betrachtet und sich gefragt, ob Camilla es gemacht hat, ob das Funkeln seiner Augen und das angedeutete Lächeln von Liebe zu ihr zeugen oder nur Besitzerstolz.

»Ja«, sagt Hector. Er beugt sich vor, und Lola bemerkt, dass sich ein Wachmann bewegt.

»Zurück«, zischt Lola durch zusammengebissene Zähne.

Hector gehorcht.

»Ich hab ihn schon mal gesehen«, sagt Hector jetzt mit mehr Überzeugung.

»Siehst du den Geburtstagskuchen?«

»Ja.«

»Keine neuen Kerzen mehr für ihn«, sagt Lola, ohne zu wissen, ob der Befehl in der Atemluft, die zwischen ihren Lippen hervorströmt, untergeht. Blas dem Arsch das Licht aus.

Sie erwartet, dass Hector zögert und nachdenkt. Doch stattdessen sagt er: »Ach darum geht’s.« Lola braucht einen Moment, um zu begreifen, dass das kein Kommentar ist, sondern die Bestätigung des Befehls.

Der Wachmann kommt aus der Ecke zu ihnen, der Lautsprecher schnarrt, dass die Besuchszeit zu Ende ist und die Gefangenen in die Zellen zurückmüssen.

Lola wischt die Fotos auf ihrem Handy weiter bis zu einem anderen Bild von Lucy. Sie fragt sich, ob der Wachmann sie für Hectors Freundin hält und Lucy für ihr gemeinsames Kind. Und sie fragt sich, ob Hectors wirkliche Freundin Amani ihn besucht hat oder ob sie so klug war, ihre verbotene Liebe zu vergessen, nachdem sich aus der schwierigen Lage eine unmögliche entwickelt hat.

»Wie geht’s Amani?«, fragt sie, als sie von dem harten Plastikstuhl aufsteht.

»Was?« Hector ist überrascht. Noch nie hat sich Lola nach der klugen jungen Schwarzen erkundigt, die harmlos wäre, wäre ihr Bruder nicht der Anführer einer feindlichen Gang … der Anführer einer feindlichen Gang, den Lola umgebracht hat, um ihrem Bruder das Leben zu retten.

»Amani. Hat sie dich schon mal besucht?«

»Nein«, sagt Hector. Und als bisher einzige freche Antwort fügt er hinzu: »Zufrieden?«

»Nein«, sagt Lola und staunt über ihre Antwort, weil sie weiß, dass es so besser ist für die beiden. Doch wenn sie ihren Bruder in Handschellen und mit gesenktem Kopf sieht und wenn sie an sein gebrochenes Herz denkt, dann kann sie nicht zufrieden sein, dass das, was sie sich in schlaflosen Nächten so sehr gewünscht hat, nun Wirklichkeit geworden ist.