Lolas Kopfschmerz am nächsten Morgen ist so stechend, dass sie ihren verbundenen Arm völlig vergisst. Es ist früh, der Wecker hat noch nicht geklingelt. Bald muss sie Lucy wecken.
Das Klopfen war leise, aber Lola hat einen leichten Schlaf. Das ist seit ihrer Kindheit so, sie hat gelernt, gerade im Schlaf besonders wachsam zu sein.
Sie zieht sich ein Sweatshirt über und schlüpft in Schuhe, weil es noch kühl ist.
Vor der Tür steht Jorge mit einer Papiertüte voll Orangen.
»Hola, Boss«, sagt er.
»Ganz schön früh.«
»Weiß ich. Ich wollte dich sprechen, bevor du Lucy zur Schule bringst.«
»Und was ist das?« Lola deutet mit dem Kinn auf die Früchte.
»Orangen.«
»Das seh ich selber.«
»Von meiner Cousine.«
»Ach so«, sagt Lola. Niemals hätte sie von der verprügelten Ehefrau Geld angenommen. Die Gefallen, die Lola ihren Leuten tut, sind kostenlos, jedenfalls kosten sie kein Geld. Zurückbezahlt wird, wenn Lola etwas von ihnen will. Manchmal sind es Informationen. Manchmal verlangt sie, dass sie jemanden aus der eigenen Familie verraten. Keiner weiß vorher, was Lola erwartet oder wann. Vertraut mir, sagt sie zu ihnen, glaubt mir, und ich werde euch den richtigen Weg zeigen. Seit zwei Jahren macht sie das so, und noch nie hat jemand Nein gesagt.
»Sie ist wirklich dankbar, dass du bereit warst, sie zu treffen.«
»Hm-mm.« Lola ist in Gedanken bei den Dingen, die zu tun sind, sobald sie ihre Tochter weckt und für die Schule zurechtmacht: pinkeln, Hände waschen, Rührei machen, Butter und Marmelade auf den Toast schmieren, Kühlakku fürs Mittagessen nicht vergessen.
»Ihr Mann, der ist wie aus einem schlechten Film«, sagt Jorge.
»Ja, klar«, sagt Lola. »Aber das ist schon in Arbeit.«
»Wie?«
»Ihr Mann. Das ist bereits erledigt«, sagt Lola. Auch wenn das Stück Scheiße von einem Ehemann Hectors Klinge erst noch kennenlernen wird.
»Wie hast du das denn angestellt?«
Sie sieht Jorge scharf an. Er darf Befehle empfangen, er darf auch seine Meinung sagen, wenn er gefragt wird, aber er darf ihre Methoden nicht in Zweifel ziehen.
»Es ist nur … sie wollte, dass ich dir erst Orangen bringe. Gut Wetter machen, ehe sie dich trifft.«
»Was?«
»Ah, da kommt sie ja. Marisol!« Jorge ruft nach einer Frau, die mit riesigem Babybauch in einem Baumwollkleid über Lolas Hof watschelt. Sie hat ebenso schwarze Haare und dunkle Haut wie die, die Lola gestern am Küchentisch gegenübergesessen war, aber jetzt fällt es Lola auf – die Frau, die angeblich auch im neunten Monat schwanger war, ist nicht gewatschelt. Sie musste trotz Gluthitze nicht stehen bleiben und Atem schöpfen.
»Tut mir leid«, schnauft die Frau von unten herauf. »Mir wird manchmal einfach schwindlig.«
»Das ist deine Cousine?«
»Ja, klar. Marisol. Die Tochter von meinem Onkel, dem Arsch. Und genauso einen Arsch hat sie auch selbst geheiratet. Jetzt muss er weg.«
»Ist ihr Mann im Gefängnis?«
»Im Gefängnis? Scheiße, nein. Der schlägt Frauen, keine Cops. Mit so Kleinkram gibt sich doch kein Gericht ab.«
Lola schweigt. Jorge tritt von einem Fuß auf den anderen, während Lola merkt, wie sie Sodbrennen bekommt.
»Damit will ich natürlich nicht sagen, dass das okay ist! Ich find’s echt scheiße, dass die Gerichte die Kerle damit durchkommen lassen.« Lolas kurzes Schweigen hat Jorge zu einer kleinen Brandrede veranlasst. Während sie glaubt, dass er ehrlich meint, was er sagt, sieht sie auch, dass es ihm nicht behagt, hier vor Lolas Wohnungstür, in aller Öffentlichkeit, seine Meinung kundzutun. Jorge ist Soldat. Er gehorcht ihren Befehlen. Er bringt sie zum Lachen. Seine Meinung behält er für sich.
»Jorge«, sagt Lola schließlich. Er verstummt und lässt erleichtert die Schultern hängen. Er will nicht unbedingt die Gesellschaft verändern. Das überlässt er lieber ihr.
»Gestern Vormittag kam eine Frau zu mir, die hat behauptet, deine Cousine zu sein.«
Jorge liegt eine Frage auf der Zunge, aber er verkneift sie sich.
»Maria hat sie angeschleppt«, sagt Lola, weil sie weiß, dass Jorge fragen wollte, wie jemand ungeladen zu Lola gelangen kann. Das Bekenntnis fühlt sich gut an. Sie möchte, dass Jorge sie Idiotin nennt. Ihr sagt, dass sie es besser hätte wissen müssen. Weil es stimmt, weil sie es hätte wissen müssen. Aber die Frau war sehr dick, will sie erwidern, ihr Bauch war riesig, und sie hat behauptet, dass ihr Mann sogar ein Neugeborenes schlagen würde.
»Oh Scheiße.« Mehr sagt Jorge nicht. Er schweigt, weil er weiß, was Lola über ihre Mutter denkt.
»Diese Frau – sie hat sich Camilla genannt – hat behauptet, Probleme mit ihrem Mann zu haben. Und dass er im Gefängnis war.«
»War?«
»Ist. Vielleicht.« Lola atmet ein paar Mal durch. Sie muss aufhören zu stottern. »Er sollte bald auf Bewährung raus. Sie hat mich gebeten, mich darum zu kümmern, dass er nicht rauskommt.«
»Welches Gefängnis?«
»Locust Ridge.«
»Oh Scheiße.« Wieder.
»Wir wissen nicht, wer sie wirklich ist und warum der Mann getötet werden soll. Wir müssen Hector informieren. Die Sache abblasen.«
Im selben Moment tritt die ächzende und schnaufende Marisol auf die oberste Betonstufe. Zu ihrem lila Baumwollkleid trägt sie Flipflops. Sie beugt sich vor und ihre geschwollenen Knöchel verschwinden hinter dem riesigen Ballonbauch.
»Tut mir … leid … Lola … Ich mein … Miss Vasquez«, japst Marisol.
Lola ist klar, dass sie sofort überlegen sollte, wie sie ihren Bruder erreicht, auch wenn heute kein Besuchstag ist. Aber der Anblick dieser Frau weckt in ihr den Wunsch, sie hereinzubitten und mit einem Glas eiskalter Limonade auf die Couch zu legen. Was sie auch macht.
Sobald Lola Marisol zur Couch geführt und ihr einen umgedrehten Wäschekorb unter die Füße geschoben hat, geht sie mit Jorge in die Küche.
»Worum geht’s bei ihr?«, fragt Lola.
»Ihr Mann schlägt sie. Und das Baby wird er auch schlagen, wenn es einen Mucks macht. Das ist alles. Genau wie bei der anderen Frau, nur ohne Gefängnis.«
»Ich kümmere mich drum.«
»Natürlich«, sagt Jorge. »Das ist mit zwanzig Dollar erledigt. Du hast einen Baseballschläger und Männer mit Waffen. Damit kriegst du ihn im Handumdrehen aus dem Viertel.«
»Also. Wie erreichen wir Hector?«
»Gar nicht. Nächster Besuchstag ist erst in zwei Tagen.«
»E-Mail?«
»Er darf seine Mails einmal pro Woche lesen.«
»Okay, immerhin. Könnte klappen.«
»Am Sonntag.«
Heute ist Mittwoch. Wen auch immer Jorges falsche Cousine tot sehen wollte, bis Sonntag sollte es schon passiert sein.
Lola überlegt kurz, mit einhundertfünfzig Sachen nach Locust Ridge zu brettern und in einem herzzerreißenden Melodram die vor Liebe zu ihrem Bruder halb wahnsinnige Schwester zu geben, was nichts anderes ist als ein kühl berechnender Plan zur Rettung eines Verbrechers, den sie nicht einmal kennt. Aber jetzt ist Rushhour, der Verkehr kriecht nur im Schneckentempo aus Los Angeles hinaus. Und selbst wenn sie noch einigermaßen früh nach Locust Ridge käme, die Wachleute würden nicht im Traum daran denken, ihr einen Gefallen zu tun.
Sie muss ihren Joker ziehen.
»Jorge«, sagt sie, während sie ein Prepaid-Handy aus einem Versteck unter der Küchenspüle kramt. »Geh und hol Maria, bitte.«
»Bin schon unterwegs, Boss.«
Er ist schon weg, als sie die Nummer wählt.
Andrea geht beim ersten Klingeln ran. Sie ist ein wenig außer Atem. Es klingt, als hätte sie Lola bei etwas erwischt, das sie nicht tun sollte … Leuten Drogen verkaufen, die sie eigentlich beschützen sollte. Während der Arbeitszeit im Fitnessstudio sein. Oder auf dem Sofa in ihrem Büro Sex haben.
»Ich bin’s«, sagt Lola.
»Hallo.« Andrea ist vorsichtig, allerdings nicht, weil sie Lolas Stimme nicht erkennt, sondern weil sie es tut. Seltsamerweise ist es für Lola eine Genugtuung, dass eine Staatsanwältin in L.A. sie erkennt, ohne dass sie ihren Namen nennen muss.
»Ich muss unbedingt meinen Bruder sehen.«
»Aber selbstverständlich«, sagt Andrea. »Zu den Besuchszeiten.«
»Glaubst du, das weiß ich nicht?«
»Davon gehe ich nicht aus«, sagt Andrea.
Erst jetzt begreift Lola, dass jemand bei Andrea im Büro sein muss. Jemand, den sie nicht einfach wegschicken kann, um sich ihren illegalen Nebentätigkeiten zu widmen.
»Ich muss ihm eine Nachricht zukommen lassen. Oder … ihn rausholen.«
Andreas Schweigen lässt Lola weiterreden.
»Er könnte in Gefahr sein. Wenn … wenn ich ihn nicht rechtzeitig erreiche.«
»Wegen einer Beerdigung?«
»Was? Nein …« Zu gern würde Lola dieses Gespräch selbst lenken. Aber sie braucht Andrea, um Zugang zu ihrem Bruder zu erhalten. Das geht nicht ohne die Macht einer Staatsanwältin. Sie sind zwar gleichberechtigte Partnerinnen, aber wenn es um den bürokratischen Apparat des kalifornischen Justizsystems geht, sitzt Andrea immer am längeren Hebel.
»Selbstverständlich können Sie wegen des Tods Ihrer Mutter einen kurzen Hafturlaub beantragen.«
In diesem Augenblick kommt Maria mit einer Plastiktüte voll Avocados in die Küche. Dass Lola ein Telefon am Ohr hat, ist ihr egal.
»Aus dem Gemeinschaftsgarten«, sagt Maria.
Bis vor sechs Monaten stand ein abbruchreifes Haus mit verbarrikadierten Fenstern und penetrantem Methgeruch auf dem Grundstück neben Lolas Wohnanlage. Dann verursachte eine Fehleinschätzung eines Amateurchemikers ein Feuer, das Haus brannte nieder, und die Besitzer, die Lola nie kennengelernt hatte, landeten entweder im Gefängnis oder in Särgen. Lola gestaltete den Grund um, mit fremden Händen zwar, aber wenigstens bezahlte sie die Arbeiter. Jetzt gibt es nebenan einen Gemeinschaftsgarten statt einer beschissenen Methküche.
»Wessen Tod?«
»Den Ihrer Mutter«, wiederholt Andrea.
Bei dem Gedanken leckt sich Lola die Lippen, dann sieht sie die Furcht in Marias Blick und fühlt sich sofort schuldig.
»Wer ist tot?«, fragt Maria.
»Niemand. Rein hypothetisch.«
»Was brauch ich dafür?«, sagt Lola zu Andrea.
»Den Totenschein. Eine amtlich beglaubigte Kopie.«
Lola denkt an Ramon, ihren Aufräumer. Zu seinen Aufgaben im Los-Liones-Kartell gehörte nicht nur, Tote verschwinden zu lassen, sondern auch Lebende. Dazu hat Ramon für Kriminelle oder für Flüchtlinge und ihre Familie meisterhafte Pässe gestaltet. Er verhalf Leuten zur Flucht vor Rache, Gefängnis und Schmerz. In gewisser Weise ist er ein Künstler. Er kann Totenscheine fälschen, obwohl Lola nicht weiß, ob sie ihn Marias Namen daraufsetzen lassen sollte. Das würde sich zu gut anfühlen.
»Geht auch die Großmutter?«, murmelt Lola ins Telefon.
»Geht genauso«, sagt Andrea.
»Kann ich dir den Schein geben?«
»Ich kann veranlassen, dass er an die richtige Dienststelle überstellt wird.« Lola spürt, dass ihre Partnerin nicht mehr sagen möchte, solange eine andere Person im Raum ist. »Ich muss Schluss machen«, sagt Andrea. »Aber ich melde mich.« Schon hat sie aufgelegt.
»Ich bin mir nicht sicher mit diesen Avocados. Sie riechen ein bisschen metallisch.« Maria schnuppert an einer der dunkelgrünen Früchte.
»Dann wirf sie weg.«
»Das wär doch Verschwendung!«
»Willst du lieber eine Lebensmittelvergiftung?«
»Hmmm.« Maria versucht, die Bemerkung ihrer Tochter zu verarbeiten.
»Mom. Setz dich.« Lola deutet auf einen Küchenstuhl.
Maria gehorcht, ehe sie nachfragt: »Ist was passiert?«
»Die Frau, die du hergebracht hast.«
»Jorges Cousine?«
»Sie war nicht Jorges Cousine. Seine Cousine ist die Schwangere, die bei mir im Wohnzimmer sitzt.«
»Oh.« Maria wirkt weder überrascht noch zerknirscht. Lola will, dass ihre Mutter eine Reaktion zeigt. Am liebsten hätte sie, dass sie sich schlecht fühlt.
»Du hast sie hergebracht. Du hast dich für sie eingesetzt.«
»Ich hab dir nur gesagt, was sie mir gesagt hat«, erwidert Maria.
Die beiden Frauen starren sich an, und Lola denkt plötzlich, dass sie zu ihrer Mutter durchgedrungen ist.
»Okay. Alles klar«, sagt sie und hofft, dass Maria an ihrem Ton erkennt, dass es überhaupt nicht okay ist. Doch ihre Mutter nickt zustimmend. Maria findet offensichtlich nicht, dass sie einen Fehler gemacht hat. »Aber denk bitte nach. Was hat sie sonst noch gesagt?«
»Nur dass sie schwanger ist.«
»Mom!«
»Dass sie zu Fuß hergelaufen ist.«
»Sie ist schwanger und zu Fuß hergelaufen? Wie weit?«
»Na ja, sehr weit kann’s nicht gewesen sein. Sie sah doch ziemlich schwanger aus.«
»Ja, so sah sie aus. Aber alles andere war gelogen. Sie ist zu Fuß gegangen und war nicht außer Atem, oder?«
»Nein«, räumt Maria ein.
Lola war nie schwanger, ihre Mutter schon, wenigstens zwei Mal. Wie ist es, möchte sie fragen, wenn man ein Kind in sich trägt? Wie hast du dich gefühlt? Spürt eine Frau, die selbst ein Kind ausgetragen hat, etwa nicht, wenn eine andere ihr eine Schwangerschaft bloß vorspielt? Solltest du das nicht besser wissen als ich? Hätte ich’s nicht besser wissen sollen?
Stattdessen fragt Lola: »Erinnerst du dich noch an was anderes?«
Maria kneift die Augen zusammen wie ein Kind, das eine Überraschung erwartet. Aber als sie sie ein paar Sekunden danach aufreißt, sagt sie nur: »Tut mir leid. Mehr weiß ich nicht.«
Lola nickt, und ihre Mutter sieht darin ein Signal zum Aufbruch. Sie ist schon an der Wohnzimmertür, als sie sich umdreht und die Taschen ihrer Jeans abklopft. Die Hose ist schmal geschnitten, trotzdem schlottert sie Maria um die Beine. Nach dem jahrelangen Heroingebrauch kann ihr Körper Nahrung nur noch schlecht verwerten.
»Sie hat das da fallen lassen.«
Als Lola das kleine Stück Papier sieht, ist sie stinksauer, weil Maria erst Mist gebaut hat und jetzt womöglich die Situation wieder rettet. Aber vielleicht ärgert sich Lola auch nur über sich selbst, weil sie ihrer Mutter vertraut hat. Sie nimmt den Fetzen Papier und betrachtet ihn. Es ist die Quittung aus einem Schnapsladen ein paar Blocks weiter. Lola liest, was die Frau gekauft hat. Billigen Wodka. Strohhalme. Einen Schokoriegel.
Als sie auf die unterste Zeile blickt, beginnt ihr Herz zu klopfen. Sie liest die Summe, erst danach lenkt sie den Blick auf die Bezahlart. Kreditkarte.
»Sehr gut.«
»Was?«
»Sie hat mit Kreditkarte bezahlt«, erklärt Lola.
Maria linst über Lolas Schulter. »Sie hat Wodka gekauft. Eine Schwangere.«
»Miststück«, sagt Lola. Das ist das schlimmste Schimpfwort, das Lola für ihre Mutter einfällt. Aber wie immer merkt Maria gar nicht, dass sie damit gemeint ist, und selbst wenn sie es merken würde, würde es Lola abstreiten.
»Die Kreditkartennummer ist ja gar nicht zu lesen. Da stehen nur kleine x«, bemerkt Maria.
»Die letzten vier Zahlen sind schon da«, sagt Lola und ist froh, dass ihr nur ein kleines Puzzlestück fehlt, um das große Ganze zu sehen.