9

Reinigung

Als sie am Samstagabend kurz vor acht die Stadtgrenze von Los Angeles erreicht, ist Lola froh, den Trip nach Locust Ridge bald hinter sich zu haben. Sie und der dicke Mexikaner, der als ihr Bruder ausgegeben wurde, haben kaum mehr geredet als ein paar Bemerkungen über die Temperatur in ihrem Honda Civic: Erst war es zu heiß, dann zu kalt. Als Lola auf dem Freeway auf über hundertzwanzig beschleunigte, weil wenig Verkehr war, nannte er ihr seinen Namen.

»Ich heiße Allen«, hatte er gesagt. »Ich habe Familie. Bitte töten Sie mich nicht. Ich bin nur ein Platzhalter.«

Lola weiß, dass das alles wahrscheinlich stimmt, aber auf der Basis von »wahrscheinlich« kann sie kaum eine Entscheidung treffen. Erst jetzt, nachdem sie Allen in der Erdgeschosswohnung abgeliefert hatte, in der ihre Männer ihn rund um die Uhr bewachen werden, hat sie Zeit, um über ihre nächsten Schritte nachzudenken.

Die kleine Ladenzeile gegenüber einer der zwei Straßenecken von Ricky liegt fast völlig im Dunkeln. In anderen Teilen von Los Angeles leuchten die Neonschilder über Ladenzeilen auch nachts, weil die Besitzer der Läden, seien es Sonnenstudios oder Subway-Filialen, gern ein paar Dollar in die Hand nehmen, um bei angetrunkenen Autofahrern und den an Bushaltestellen wartenden Arbeitern für ihr Geschäft zu werben. Aber hier in Huntington Park ist Lola die Besitzerin. Die Ladenzeile gehört ihr. Alle Geschäfte darin gehören ihr. Damit verdient sie auch ohne Leuchtwerbung Geld.

Aus dem Waschsalon, dem einzigen Geschäft darin, das vierundzwanzig Stunden geöffnet hat, fällt nur trübes Licht auf den Parkplatz. Drinnen trägt eine müde aussehende Frau tropfende schmuddelige T-Shirts und Unterwäsche von einer Waschmaschine zu einem Trockner. Als Lola an den freien Stellplätzen vorbeigeht, deren abgefahrene weiße Begrenzungslinien auf dem rissigen Asphalt aussehen wie abblätternder Zuckerguss auf einem Schokokuchen, macht sie sich in Gedanken eine Notiz, einen Techniker zu schicken, der bei allen Waschmaschinen den Schleudergang prüft.

Sie ist hierhergekommen, damit das Rivera-Kartell sie findet.

Lola setzt sich auf eine Bank am Rand des Parkplatzes, nicht weit von einem Nissan Sentra mit so dunkel getönten Scheiben, dass sie unmöglich vorschriftsmäßig sein können. Innen hört sie ein Radio quäken, aber keine Musik, sondern eine Männerstimme. Ein Comedian? Ein Politkommentator? Sie hört nur Gebrabbel.

Hat das Rivera-Kartell wegen ihr diesen Wagen geschickt?

Sie hofft es.

Auf der anderen Straßenseite sieht sie ihre Jungs. Zwei, Jamie und Rodrigo, wechseln sich damit ab, auf der Bank ihr gegenüber zu sitzen und zu stehen. Jetzt sitzt Jamie und Rodrigo steht. Sie sollen nicht auf und ab laufen, nicht die geringste Nervosität zeigen, aber Ricky ist nicht da, um auf sie aufzupassen und sie daran zu erinnern, dass sie nichts tun sollten, was ihre Angst verrät.

Der Nissan muss sie nervös machen. Vermutlich glauben sie, dass es für einen verdeckten Ermittler kein besseres Auto gibt als eines mit unzulässig getönten Scheiben. Sein eigentlicher Besitzer muss Gangmitglied oder Möchtegerngangster sein. Nach Lolas Erfahrung sind diejenigen, die unbedingt ein Gangsterleben führen wollen, wesentlich gefährlicher als die wirklichen Kriminellen. Denn sie sind bereit, dafür sämtliche roten Linien zu überschreiten.

Auf der anderen Seite, bei Lola am Straßenrand, steht ein ungefähr zehn Jahre alter Mercedes-Benz am Straßenrand. Sie muss nicht mal die Stimme des Fahrers hören, um zu wissen, dass es ein Jugendlicher ist, ein weißer Jugendlicher, höchstens siebzehn, mit mehreren Mädchen im Auto. Sie vermutet, dass er erzählt hat, er habe Kontakte, er könne ihnen besorgen, was immer sie wollen. Lola befällt Traurigkeit – oder Schuldgefühle? – wegen der Regeln, die sie selbst festgelegt hat. Normalerweise verkaufen ihre Soldaten reichen weißen Kids keinen Stoff, weil die Konsequenzen das Risiko nicht wert sind. Den Cops ist es nämlich gar nicht egal, wenn sich weiße Kids eine Überdosis setzen. Obwohl Jamie und Rodrigo selbst noch keine siebzehn sind, nehmen sie keine Drogen und verkaufen auch keine an Weiße, die so alt oder jünger sind als sie. Aber weil Ricky heute nicht da ist, um auf sie aufzupassen, werden sie diese rote Linie übertreten, genau wie Ricky es letzte Woche getan hat.

Mit einer Hand in der Hosentasche schlendert Jamie zu dem Wagen. Lola hört den üblichen Begrüßungssatz: »Yo, habt ihr euch verfahren?«

Sie hört einen Wortschwall aus dem Mund des weißen Jungen, im Licht der Wagenbeleuchtung sieht sie die Mädchen. Alle drei blond. Sie sehen sich an und fragen sich, ob der Fahrer sein Versprechen hält und sie ihn später belohnen müssen. Lola sieht das Verlangen in den Augen der Mädchen, den Wunsch, der Deal möge klappen. Zugleich wollen sie es nicht, weil sie sich dann zu einer Gegenleistung für den pickligen Typen auf dem Fahrersitz verpflichtet fühlen würden.

Es folgt ein längeres Schweigen, während Jamie zu Rodrigo blickt, der wie festgewurzelt im Schein einer Straßenlampe steht. Rodrigo, in Baggy-Jeans und schwarzer Jacke, ist dürr. Lola schätzt ihn auf kaum mehr als fünfzig Kilo. Sie weiß, dass er alles, was man ihm vorsetzt, in sich hineinstopft, trotzdem legt er kein Gramm zu. Sie weiß auch, dass seine Eltern ihre fünf Kinder nicht satt bekommen, obwohl sie beide zwei Jobs haben. Letztes Jahr hat sich bei einem Test in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen herausgestellt, dass Rodrigos kleine Schwester hochbegabt ist. Weil er befürchtet, dass sie als Mädchen aus dem Ghetto ihre Talente nicht nutzen kann, kam er zu Lola und bat um einen Job, um seiner Schwester zu helfen und ihren weiteren Schulbesuch zu ermöglichen. Sie wollte Rodrigo nicht als Läufer einsetzen, aber der Junge kam immer wieder. Schließlich zeigte er ihr ein Foto seiner Schwester, nachdem sie von Mitschülerinnen verprügelt worden war, nur weil sie schlau ist. Rodrigo wollte sie auf eine Privatschule schicken, wo sie sicherer wäre. Er wollte eine bessere Zukunft für sie, und das kann Lola keinem verwehren, der verstanden hat, dass Überleben allein nicht genug ist.

Jetzt überlegt Rodrigo, der im Lichtkegel der Straßenlampe wie auf dem Präsentierteller dasteht, ob er verkaufen soll oder nicht. Lola, die von ihren Jungs noch nicht entdeckt worden ist, hofft, dass er die richtige Entscheidung trifft. An sich wäre ihr nichts lieber, als dass sich haufenweise weiße, privilegierte, picklige Teenager mit aktienpaketversicherter Zukunft an das weiße Pulver ketten, das – wenn schon sonst nichts und niemand – eine Art Chancengleichheit herstellt. Aber seit letztem Samstag, als ihre Jungs ins Visier der Polizei geraten waren, weil sie Stoff an die weißen Kids in dem Range Rover vertickt hatten, hat die ganze Gang den ausdrücklichen Befehl, diesen Fehler nicht noch mal zu machen. Das LAPD oder vielmehr die Stadtverwaltung, die dahintersteht, will die aktienpaketversicherten Kids in L.A. vor sich selbst retten und verhindern, dass sie sich die strahlende Zukunft und ihre Ausbildung versauen. Schließlich sollen sie ja die Welt besser machen.

Wenn die Crenshaw Six an weiße Kids verkaufen, während die Stadt wieder mal das Drogenproblem bekämpft, wird es Lolas Gang hinter Gitter bringen, nicht die weißen Kids.

Wieder hört sie das Radio des Nissan. Es klingt nach einem Mexikaner, der auf Spanisch seine Frau beschimpft. Die übliche Stand-up-Comedy, denkt sie.

Dann schüttelt Rodrigo ganz kurz den Kopf, und es ist, als würde er den Ball Jamie zuspielen, der sich jetzt dem Benz zuwendet. Seine Worte klingen deutlich durch die Nacht: »Verzieht euch!« Lola ist erleichtert.

Niedergeschlagen lässt der picklige Junge das Fenster hoch und fährt weg. Die drei Blondinen haben schmale Lippen und finstere Mienen.

Als der Benz um die Ecke gebogen ist, wobei der Fahrer umsichtig erst den Blinker gesetzt und dann gebremst hat, hält es Lola nicht mehr auf der Bank. Sie ist nicht da, um ihre Soldaten zu überwachen, aber jetzt möchte sie die beiden für die richtige Entscheidung loben.

»Hey«, ruft sie.

»Oh Shit«, sagt Jamie, als er sie erkennt.

»Miss Vasquez.« Rodrigos förmliche Anrede versetzt ihr einen Stich. Der Junge gehört aufs College, denkt sie, und sollte sich nicht darum kümmern müssen, dass es seine Schwester mal besser hat – auch wenn er sich diese Pflicht selbst auferlegt hat.

»Hey … Ma’am«, sagt Jamie. Offenbar nimmt er sich an Rodrigo ein Beispiel, denkt Lola. Wäre er allein gewesen, hätte er sie vermutlich einfach Lola genannt. Denn Jamie hat weder Mutter noch Vater, die ihm erklären, wie man seinen Boss anspricht. Er hat nur eine senile Großtante, die auf die neunzig zugeht. Die alte Frau sammelt Katzen, unzählige Katzen, und in der Wohnung, in der Jamie lebt, stinkt es nach Katzenpisse und Katzenscheiße. Als Lola sich ihm nähert, merkt sie, dass sein Hoodie nach Waschmittel riecht. Jamie achtet auf sein Äußeres, aber sosehr er sich auch bemüht, auf seiner Kleidung sind immer Katzenhaare – weiß auf schwarz. Seit seiner Geburt steht er auf verlorenem Posten. Seine Mutter ist verschwunden, sein Vater sitzt wegen bewaffneten Raubüberfalls im Gefängnis. Aber Jamie hat gelernt, sich und seine Kleidung sauber zu halten. Er ist pünktlich. Er macht Profit, und nach allem, was Lola gehört hat, gehorcht er Ricky. Allerdings hat er, anders als Rodrigo, noch nie versucht, von seiner Ecke loszukommen.

»Gut, dass ihr die Gringos weggeschickt habt«, sagt Lola. Vor ihren Lieutenants – Jorge, Marcos, Manuel, Ramon – hätte sie nie ein Wort wie »Gringo« benutzt. Es kommt ihr unreif vor, Weiße so zu nennen, wenn sie nicht Spanisch spricht. Aber diese Soldaten sind jung, noch im Highschool-Alter. Wenn Lola herausbekommt, dass sie die Schule schwänzen, um Stoff zu verkaufen, dann fliegen sie in hohem Bogen aus der Gang, das wissen sie.

Schlagartig wechselt Rodrigos Ausdruck von zerknirscht zu strahlend, weil er kapiert, dass er ein solches Kompliment von seinem Boss annehmen und nicht achselzuckend abtun sollte. »Danke«, nuschelt er.

»Alles klar, Ma’am, kein Problem«, sagt Jamie.

Rodrigo räuspert sich.

»Was ist los?«, fragt Lola.

»Ich … Ich hatte Sie gar nicht gesehen. Es ist schon spät. Und der Nissan da drüben …« Rodrigos Stimme verliert sich.

»Sprich in ganzen Sätzen«, sagt Lola.

»Oh, Scheiße«, sagt Jamie mit gedämpfter Stimme, so als sähe er einen einseitigen Mixed-Martial-Arts-Kampf im Bezahlfernsehen, der so schlimm aus dem Ruder gelaufen ist, dass man einen Arzt in den Ring holen muss.

»Ich wollte –«

»Nein. Was ist mit dem Nissan, der da drüben steht?«

»Da drüben steht ein Nissan, und ich hatte Angst, dass der Fahrer Sie erkennt.«

Mit geneigtem Kopf schenkt sie dem Jungen ein kurzes Lächeln, und als sie ihm anerkennend auf die Schulter klopft, beginnt Rodrigo zu strahlen.

»Ist doch gar nicht schwer, oder?«

»Nein, Miss Vasquez, Ma’am«, sagt Rodrigo und verhaspelt sich schon wieder, womit er Lola zu verstehen gibt, dass er zwar ihre Anerkennung gewonnen hat, sie aber nicht für selbstverständlich hält.

»Habt ihr Waffen dabei?«, fragt Lola.

»Immer doch«, sagt Jamie. Wenn es Jamie getroffen hat, dass Lola ihrem Lieblingssoldaten mehr Aufmerksamkeit widmet, so zeigt er es nicht. Wahrscheinlich ist er sich auch über seine Rolle im Klaren und weiß, wo er steht – auf der untersten Sprosse. Wenn er Glück hat, wird er eines Tages eine eigene Ecke haben, aber Lola sieht in ihm nicht mal das Potenzial für einen Block. Dennoch lässt sich Jamie nicht unterkriegen, weil er seine bescheidene Rolle in der Welt schon vor langer Zeit akzeptiert hat.

Jamie zeigt ihr den Griff seiner Waffe im Hosenbund. Rodrigo tut dasselbe, aber seine Jeans schlottert so um seine klapperdürre Gestalt, dass Lola befürchtet, die Waffe könnte runterrutschen, auf den Boden fallen und zufällig losgehen. Rodrigo sieht die Besorgnis in ihrem Gesicht und zieht die Hose hoch, damit die Waffe sicherer sitzt.

»Zu Hause hab ich ’nen Gürtel«, entschuldigt er sich. »Ich hab ihn nur vergessen.«

»Dann denk beim nächsten Mal dran.«

Rodrigo nickt mit hängenden Schultern.

»Wohin gehen wir?«, fragt Jamie.

»Auf die andere Straßenseite«, sagt Lola. Sie blickt erst nach rechts und links, obwohl es so spät am Abend ist, dass sie sogar das Rauschen der Autos auf dem Freeway aus einem Kilometer Entfernung hören kann. Aber seit der Begrüßung ihrer Jungs hat sie auf der Kreuzung zwischen dem Nissan und ihnen nur ein einziges Fahrzeug gesehen. Dann streckt sie die Arme nach links und rechts aus, um mit dem einen Jamie, mit dem anderen Rodrigo zurückzuhalten. Das geschieht instinktiv, weil ihr seit zwei Jahren ständig alle möglichen schrecklichen Dinge, die einem Kind zustoßen können, durch den Kopf schießen. Ein kleiner Fuß, der auf einen Zebrastreifen tritt, ein Autofahrer, der meint, es noch vor Rot zu schaffen. Kein böser Wille, nur ein Unfall. Aber Lola glaubt nicht an Unfälle. Sie glaubt daran, dass man auf sein Kind und auf seine Soldaten aufpassen muss.

Sie nimmt an, dass der Nissan auf der anderen Straßenseite vom Rivera-Kartell dort postiert wurde, um eine Straßenecke des neuen Rivalen im Auge zu behalten. Aber mit dem Boss haben sie sicher nicht gerechnet. Den Soldaten im Wagen muss sie wie eine Mutter vorkommen, die ihre ungezogenen Jungs nach Hause bringt.

»Hey«, sagt sie lauter, als sie eigentlich möchte. Aber sie will den Fahrer des Nissan überraschen – dass es ein Mann ist, weiß sie wegen der sexistischen spanischsprachigen Stand-up-Comedy und der Frechheit, mit der sie nach Mitternacht laut in einer fremden Gegend gespielt wird. Sie will ihm einen Schreck einjagen. Sie will, dass er sich fragt, warum diese Frau wie ein vom Kreuz gestiegener Jesus mit ausgebreiteten Armen auf ihn zukommt und zwei halbwüchsige Soldaten dabei hat, die so tun, als würden sie sie beschützen, aber zu jung sind, um zu wissen, dass sie diejenige ist, die Schutz gewährt.

Durch die Windschutzscheibe kann Lola einen Blick auf den Fahrer werfen – ein Latino mit einem Bart, von dem Lola weiß, ohne ihn genau zu sehen, dass er geschnitten werden sollte. Mehr bekommt sie auch nicht zu sehen, weil der Mann den Rückwärtsgang einlegt und vom Parkplatz jagt.

Es folgt ein Zischen und Knallen, das Jamie zusammenzucken und Rodrigo erstarren lässt. Im nächsten Moment hat Rodrigo seine Waffe gezogen und zielt auf die Windschutzscheibe des Nissan, weil er glaubt, er habe eine Kugel vorbeizischen gehört. Jamie ist langsamer, aber das stört Lola nicht – genauso wenig, dass er zusammenzuckt wie ein normaler Mensch.

»Ganz ruhig«, sagt Lola zu Rodrigo.

»Aber die Waffe steck ich lieber nicht weg, Miss Vasquez«, sagt Rodrigo, weil er immer noch nicht weiß, was für Geräusche das waren und warum der Nissan fünf Meter außerhalb des Parkplatzes zum Stehen gekommen ist.

»Okay. Halt dich bereit. Aber geschossen wird erst, wenn ich es sage. Ihr bleibt hier«, sagt Lola. Dann trabt sie los. Rodrigo und Jamie blicken ihr hinterher, zu verschreckt, um zu fragen, was zum Teufel gerade passiert ist und was verdammt noch mal jetzt passiert.

Lola klopft nicht erst ans Fahrerfenster. Sie packt gleich den Griff – nicht verriegelt … was für ein Idiot! – und reißt die Tür auf. Der Mann fällt vom Sitz, aber das kann nicht sein. Niemand hat geschossen. Oder doch? Für eine Sekunde lässt sie ihn aus den Augen und wirft einen Blick auf die Ursache des Knallens und Zischens – vier platte Reifen. Sie schaut kurz auf die Nagelsperre, die sie ausgelegt hatte, ehe sie sich auf die Bank gesetzt hatte. Der Reifenkiller da ist wieder einsatzbereit. Sie wird ihren Jungs sagen, sie sollen ihn zu ihr nach Hause bringen.

»Aufstehen, Arschloch«, sagt Lola.

Der Mann rührt sich nicht. Er ist auf allen vieren wie ein Hund. Sein Rücken bebt. Weint er? Lola macht einen Schritt auf ihn zu. Es ist irgendetwas an der Art, wie sein Rücken sich bewegt, wie seine linke Hand etwas weiter auf dem Asphalt nach vorne greift als seine rechte. Sie erkennt das Geräusch, das sein zuckender Körper macht. Das Arschloch lacht.

Sie unterdrückt den Wunsch, das Messer aus der Tasche ihrer Cargohose zu ziehen. Sie sollte ihm auf der Stelle die Kehle durchschneiden, aber aus einer durchgeschnittenen Kehle kommt viel Blut, und sie braucht das Arschloch, um Hector zu finden.

Außerdem ist er nicht nur »das Arschloch«. Sie kennt ihn.

»Hey Lola«, sagt Garcia. Die Worte und der Bart lassen ihn eher wie einen Comic-Bösewicht als ihren Exgeliebten aussehen. Sie ist sich nicht sicher, aber sie meint, Alkohol zu riechen. Ist er etwa betrunken zu ihr ins Viertel gekommen?

Sie erwidert den Gruß nicht. Sie spürt, dass Rodrigo und Jamie hinter ihr begreifen, dass etwas passiert, weil gar nichts passiert. Ein Nachwuchsgangster würde in einer so verfahrenen Situation losballern. Sie muss ihnen zeigen, dass alles okay ist. Aber Garcia ist betrunken und deswegen mutiger, als er je war. In diesem Zustand glaubt er vielleicht, er könnte es mit ihr aufnehmen.

»Hat sie euch von mir erzählt?«, sagt Garcia.

»Nein«, sagt Jamie, der noch nicht ganz begriffen hat, was hier schiefläuft, außer dass möglicherweise ein Lieutenant einer rivalisierenden Gang auf einen Kampf aus ist.

Rodrigo spürt, dass zwischen Lola und Garcia etwas ist. Er war noch jung, als die beiden zusammen waren, vermutlich nicht mal in der Highschool, aber jeder wusste, dass Garcia seine Freundin Kim verlassen hatte, nachdem sie das Kind verloren hatte, vor dem sich Garcia sowieso fürchtete.

»Man kann mit keiner Frau zusammen sein, die keine Kinder kriegen kann.« Lola erinnert sich noch, was die runzligen Alten im Viertel vor fünf Jahren meinten, während sie über ihre Brillenränder auf das Ablaufdatum der Milchkartons und Cotija-Käse-Packungen in der Bodega an der Ecke sahen, ohne mitzubekommen, dass sie mithörte und sie beobachtete. Sie hatte nicht widersprochen und erklärt, dass die Fehlgeburt vor allem Garcias Schuld war. Er hatte die rote Ampel an der Kreuzung Maywood und Gage übersehen und war in einen Pick-up gedonnert. Kim hatte eine Fehlgeburt, ehe der Krankenwagen kam. Kurz danach stand Garcia bei ihr vor der Tür. Schon an dem Tag, als sie ihn tropfnass und nach dem Ende seiner Zukunft als Vater und Ernährer in ihr Haus gelassen hatte, war ihr klar gewesen, dass er nicht mehr gehen würde, bis es zwischen ihnen aus war. Hatte sie immer schon gewusst, dass sie sich trennen würden, sogar schon, als er vor ihrer Tür stand? Oder hatte sie gehofft, dass sie beide eines Tages auf der Veranda eines größeren Hauses in Huntington Park sitzen würden und, weil die Schaukelstühle für eine Unterhaltung zu laut knarrten, einander schweigend die gelesenen Teile der L.A. Times reichen würden, obwohl sie diese Zeitung bislang gar nicht regelmäßig las. Hatte sie in dieser eingebildeten Zukunft Schüsse gehört, oder hatte ihr Wunschbild das Viertel in eine Gegend verwandelt, in dem Kinder vor Vergnügen schrien statt vor Schmerz, in dem ihr Blut aus Kratzern und Schrammen vom Spielen stammte und die Narben der Kindheit nicht von Gewalt und Missbrauch herrührten?

»Du bist Garcia«, sagt Rodrigo, weil Lola nichts einfällt, was sie zu dem vor ihr auf dem Gehweg Kauernden sagen soll, der sich betrunken lachend in Sentimentalität suhlt und seine Macht genießt, sie wissen zu lassen, dass er jetzt für die Rivalen arbeitet, die sie nie haben wollte.

»Ja, der bin ich. Wisst ihr, dass ich hier mal gelebt hab? Mit ihr zusammen?«

»Ja«, sagt Rodrigo. »Hab gehört, du bist nicht damit klargekommen, dass deine Frau der Boss ist.«

Die Bemerkung lässt Lola zusammenzucken, aber Rodrigo hat recht – Garcia konnte nicht Soldat und Liebhaber zugleich sein. Es war okay für ihn, solange er nach außen den Boss spielen konnte, aber als die Umstände – eine vermasselte Übergabe, das Verschwinden von zwei Millionen Dollar in Heroin und zwei Millionen in cash – offenbar machten, dass sie die eigentliche Anführerin war, hatte er ein Problem. Garcia war außer Kraft gesetzt, hing in der Luft, kannte weder seine Position in der Gang noch zu Hause. Er hatte Lola nicht widersprechen wollen – das ging gegen seinen Instinkt als Soldat –, aber zugleich wollte er derjenige sein, der das Sagen hatte. Zu seinem Pech war er zu schwach, die Capitana Lola von seiner Freundin Lola zu trennen. Deswegen war die Partnerschaft, die er mit ihr im Bett und außerhalb gewollt hatte, nicht möglich.

»Du redest mehr, als sie mich je hat reden lassen.« Garcia stößt ein meckerndes Lachen aus.

Lola hebt die Hand, aber nicht gegen Garcia, sondern gegen Rodrigo, der eine Grenze überschritten hat, auch wenn er nur die Stille hatte füllen wollen, die sich wegen ihrer Unfähigkeit zu sprechen eingestellt hat.

»Lola«, sagt Garcia. »Bring mich nach Hause.«

Sie zieht das Messer aus der Tasche und schlitzt Garcia die Wange vom Ohr bis zum Mund auf. Er schreit, ein hoher, schrecklicher Schrei.

»Oh Scheiße«, sagt Jamie.

»Du verpisst dich aus meinem Revier.« Lola versucht es mit einem Flüstern, aber Garcias Schreien übertönt ihre Worte. Sie wiederholt sie lauter und beugt sich so nah auf der verletzten Gesichtsseite an sein Ohr, dass sie den metallischen Geruch des Bluts riecht, das von der Wange auf den Boden tropft. »Sag deinem Boss vom Rivera-Kartell, dass sie sich aus meinem Revier verpissen sollen.«

Für einen Moment ist Garcia zu überrascht, um den Schmerz zu spüren, aber Lola ist unklar, ob er überrascht ist, weil er den Namen des Kartells nicht kennt oder weil sie weiß, dass es ihn zur Kontaktaufnahme zu ihr geschickt hat.

»Ziemlich idiotisch, mit deinen beschissenen Flautas auf meiner Party aufzukreuzen. Aber jetzt macht es Sinn. Du arbeitest für sie.«

»Fick dich«, sagt Garcia. Als er in ihre Richtung spuckt, fliegt Blut. Er ist zu betrunken, um gut zu zielen. Die Mischung aus Blut und Spucke landet vor Jamies Füßen. Er springt zur Seite. Kurz meint Lola, er würde sich auf Garcia stürzen und seinen Kopf auf den Asphalt dreschen. Jamie mag’s nicht, wenn seine Schuhe schmutzig werden.

»Fick dich«, sagt Garcia erneut.

»Hast du schon«, sagt Lola. »Aber du hast nicht mal die eine Sache gelernt, von der ich dachte, ich hätte sie dir beigebracht.«

»Was denn?« Der betrunkene Garcia klingt verzweifelt.

»Wenn du mich fickst, fick ich dich zurück.«

Sie hat den Parkplatz schon halb überquert, als sie sich noch mal umdreht und ihrem Ex zuruft: »Sag deinem Boss, ich will ihn sehen.«

»Ich hab keinen Boss mehr. Ich hab eine Freundin. Und die kann wenigstens kochen.«

Rodrigo und Jamie erstarren. Jamie holt geräuschvoll Luft und stößt sie dann mit einem lauten »Shit« aus.

Lola steht mit dem Rücken zu ihrem Ex. Sie sieht die müde Frau mit einem Wäschekorb, die wie gebannt vom Schaufenster des Waschsalons aus die Szene draußen verfolgt. Lola kennt sie nicht.

Sie hört, wie Garcia die Autotür zuschlägt, den Motor abstellt und den Schlüssel abzieht. Schritte hört sie keine, nur sein leiser werdendes Fluchen – dumme Schlampe, dämliches Stück Scheiße, fick dich. Er haut ab.

Als er weg ist, tritt die Frau aus dem Waschsalon. Sie hat sich einen Hoodie übergezogen. Den Wäschekorb stellt sie vor sich ab.

»Entschuldigen Sie, wenn wir Sie gestört haben«, sagt Lola. Die Frau ist nicht aus der Gegend, so viel sieht sie jetzt. Ihre Haare sind sehr sorgfältig gefärbt, die Haut rein, die makellosen quadratischen Nägel blassrosa lackiert. Die Frau richtet sich auf.

»Ich bin wegen dir hier«, sagt die Frau. Sie beugt sich über den Wäschekorb, schwarze Blusen landen auf dem Asphalt, als sie eine Waffe herauszieht und auf Lola richtet.

Also hab ich mich getäuscht, denkt Lola. Garcia arbeitet nicht für sie.

Kann es sein, dass Garcia wirklich nur wieder mit ihr zusammen sein will? Über ihre Antwort kann sie jetzt, da sie auf dem Parkplatz der Ladenzeile auch noch in eine Öllache tritt und eine andere Frau sie mit einer Waffe bedroht, aber nicht nachdenken.

»Du steigst jetzt in das Auto«, sagt die Frau. Sie spricht das Englisch einer mexikanischstämmigen Amerikanerin, die die meiste Zeit südlich der Grenze lebt. Sie trägt ein blassrosa Kleid. Unter dem lockeren Schnitt kann Lola fast keine Konturen ausmachen. Keine kräftigen Oberschenkel, nicht den geringsten Bauchansatz. Die Frau ist so schlank, dass ihr Körper unter der Baumwolle überhaupt nicht sichtbar wird.

Das Auto, auf das sie mit einer kleinen Bewegung mit dem Lauf zeigt, als ob sie sicher ist, dass Lola keine Chance zur Flucht hat, ist ein Lexus SUV. Nicht schwarz, sondern weiß, aber mit getönten Scheiben. Er stand nicht auf dem Parkplatz, sondern biegt jetzt erst ein und bleibt kurz vor der Schusslinie stehen. Ein Kompromiss.

Rodrigo und Jorge haben ihre Waffen gezogen. Sie stehen noch immer hinter Lola, links und rechts von ihr, aber die Frau in Rosa achtet nicht auf sie.

»Du steigst jetzt in das Auto«, wiederholt sie.

»Das werden meine Soldaten nicht zulassen«, sagt Lola, ohne zu wissen, ob das stimmt. Es sind fast noch Kinder. Nur Eckensteher.

»Ganz sicher nicht, darauf können Sie einen lassen«, versucht es Rodrigo, aber keiner achtet auf seinen gemurmelten Protest. Die Worte hat er vermutlich aus einem Film aufgeschnappt oder von Jamie, der sie aus einem Film hat.

»Das sind noch Kinder«, sagt die Frau.

»Dann lass sie gehen«, antwortet Lola, denn es ist zwecklos, weiter so zu tun, als könnten die Jungs sie schützen. Wenn die Frau Rodrigo und Jamie abziehen lässt, werden sie zu ihren echten Soldaten laufen – Manuel, Jorge, Marcos –, aber das wird zu spät sein. Lola wird dann schon in dem Lexus sitzen und – wohin fahren? Nach Süden über die Grenze? Ein Bordell in Tijuana? Die Wüste? Dorthin, wo ihr Bruder ist? Aber wo ist ihr Bruder?

»Sie werden nicht freiwillig abziehen«, sagt die Frau.

Lola hat es geahnt, aber ein Versuch war es wert. Jamie, denkt sie, wäre vielleicht gegangen. Aber Rodrigo hätte zu ihr gehalten und wäre geblieben und gestorben. Jetzt kann sie sich einreden, er wäre zum Bleiben gezwungen gewesen, weil ihn die Frau mit der Waffe bedroht hat.

Mit einem leisen Summen öffnet sich das Schiebedach des Lexus. Eine andere Frau erscheint, ebenfalls konturlos unter ihrem blauen Baumwollkleid. Sie hat ein Scharfschützengewehr. Aus dieser Entfernung ist das überflüssig, aber wie jedes Kartell muss auch das Rivera-Kartell seine Gewaltbereitschaft demonstrieren.

Am Steuer des Lexus sitzt ebenfalls eine Frau, wie Lola jetzt bemerkt.

»Du hast’s erfasst«, sagt die Frau im rosa Kleid, ohne zu lächeln.

Lola verkneift sich die Frage, die ihr auf der Zunge liegt – warum? Hier auf dem dunklen Parkplatz ihrer Ladenzeile, wo geladene Waffen das Einzige sind, was Bedeutung hat, an das Geschlecht zu denken, wäre ein Affront gegenüber ihrem eigenen und würde implizieren, dass es das schwache ist.

Sie könnte diese Frauen ausschalten, denkt Lola. Aber das bringt ihr nichts im Kampf gegen die Anführer. Kartellgewalt ist fast nie unmittelbar. Selten gibt es Streit, selten prügeln sich zwei. Es gibt nur den Einschlag der Kugel, das Zerfetzen eines Körpers, aber selten Mann gegen Mann, bei dem der körperlich Stärkere gewinnt.

»Wo ist mein Bruder?«

»Er ist in Sicherheit.«

»Ich will ihn zurück.«

»Steig ins Auto.«

»Wenn ich das tue«, sagt Lola, »werd ich dann zu ihm gebracht?«

Die Frau neigt leicht den Kopf zur Seite. Lola sieht ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie betrachtet Lola, als ob sie auf einem Objektträger läge und unter ein Mikroskop geschoben würde.

Was sieht sie?, fragt sich Lola. Was sehe ich? Ist sie wie ich?

Die Frau spannt den Hahn, schwenkt den Lauf um wenige Millimeter nach rechts und schießt Rodrigo ins linke Knie. Das Bein des Jungen knickt ein, als hätte es ihm jemand von hinten weggetreten. Rodrigo knallt mit seiner linken Seite auf den Boden. Er bleibt stumm, an seiner Stelle schreit Lola vor Schmerz auf.

Sie sieht nicht, wer als Nächster schießt, aber als sie sich neben Rodrigo auf den Boden wirft, sieht sie Jamies Schuhe an sich vorbeirennen. Die nächste Kugel dröhnt nahe an ihrem Kopf vorbei und zischt leiser werdend auf die Frau in Rosa zu.

Jamie schießt und läuft weiter.

Die Frau in Rosa schießt zurück.

Lola hat nur ihr Messer.

Rodrigo will sich hochrappeln. Die Waffe ist noch in seiner Hand, aber er ist zu geschwächt, als dass er sie ruhig halten könnte.

»Nein«, bellt Lola ihn an. »Bleib unten, verflucht.«

Er schüttelt den Kopf.

»Das war ein verdammter Befehl. Du sollst gehorchen!«

Rodrigo schüttelt immer noch den Kopf und stemmt sich auf ein Knie.

»Unten bleiben oder ich bring deine verdammte Schwester um!«

Was anderes fällt ihr nicht ein, damit er unten bleibt und sich nicht erschießen lässt, weil er sie beschützen will. Es funktioniert.

Jamie und die Frau ballern immer weiter. Kugeln schwirren über den Parkplatz. Das Schaufenster des Waschsalons mit seiner Werbung für einen 50-Cent-Waschgang zerplatzt.

Die Frau, die den Kopf aus dem Schiebedach des Lexus gesteckt hatte, hat ihr Gewehr im Anschlag. Sie hat noch nicht geschossen, aber Lola weiß, dass sie bereit ist. Sie weiß, dass sie selbst im Fadenkreuz der Frau ist.

Deswegen rennt sie jetzt im Zickzack los.

So hat man das auch den Kindern in Blooming Gardens beigebracht, weil es dort jetzt Amok-Trainings gibt, in dieser Welt, in dieser Schule in der Westside, wo der amerikanische Traum noch geträumt wird. Beim ersten Training hatte Lucy sich gemeldet und gefragt, ob sie mitmachen muss.

»Warum willst du denn nicht mitmachen?«, hatte ihre Lehrerin gefragt.

»Weil ich so was schon kenne«, hatte Lucy geantwortet.

Auch Lola kennt es, weswegen sie im Zickzack über den Parkplatz läuft. Die Scharfschützin kriegt sie nicht ins Visier. Lola hört, wie laut knirschend ein Gang eingelegt wird.

Sie wollen sie überfahren.

Eine andere Option haben sie auch nicht.

Sie ist vier Meter von der Fahrertür entfernt. Zwei Meter.

Sie weiß, dass die Tür verriegelt ist. Dass sie sie nicht einfach aufreißen und die Fahrerin an ihren langen schwarzen Haaren herauszerren kann.

Deswegen schlägt sie mit dem Ellbogen die Scheibe ein.

Die Glassplitter beißen sich in ihre Haut, reißen und zerren daran wie die unerbittlichen Zähne eines Hundes.

Sie achtet nicht auf das Blut, erwischt den Türhebel und zerrt die Tür auf.

Die Frau ist angeschnallt. Lola schneidet den Gurt mit einer schnellen Bewegung durch, zieht die Fahrerin aus dem Wagen und wirft sie zu Boden, dann springt sie selbst auf den Fahrersitz.

Hinter sich sieht sie die Beine der Scharfschützin in schwarzen Stiefeln mit flachen Absätzen. Die Frau will zurück in den Wagen tauchen, aber Lola zieht ihr mit dem Messer über die Fersen und durchtrennt beide Achillessehnen.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht stürzt die Frau auf den Rücksitz. Lola findet es beschissen, dass sie einen Wagen voll Kartellkillerinnen fertigmachen muss.

Die Frau im blassrosa Kleid nimmt Jamie ins Visier. Er ist zu nah. Lola hat ihm das anders beigebracht. Beziehungsweise Jorge oder Marcos. Aber manchmal müssen Männer einfach schnurstracks in den Kampf ziehen, weil Zickzacklaufen als Schwäche ausgelegt werden könnte statt als das, was es wirklich ist – nämlich schlau.

Das rosa Kleid flattert in einer Böe. Sie schießt Jamie in den Kopf, und im nächsten Moment donnert Lola mit dem Lexus gegen sie und ihr luftig-leichter Körper liegt zerschmettert auf dem Boden.

Als Lola den Gang rausnimmt, hört sie eine Männerstimme. Die Verbindung ist schlecht, die Stimme scheppert.

Der Lexus hat eine Bluetooth-Verbindung. Jemand hat den ganzen Vorfall mitgehört.

»Sonya?«, sagt die Männerstimme mit starkem Südstaatenakzent.

»Sonya ist tot«, sagt Lola. »Wer zum Henker spricht da?«

Nach einer kurzen Pause sagt der Mann: »Du musst Lola sein.«

Lola schweigt.

»Ich hab deinen Bruder«, sagt der Mann. »Ich würd ihn dir gern zurückgeben. Aber jetzt hast du meinen Partner und vermutlich drei meiner Soldatinnen getötet, also werden wir wohl kaum noch Freunde.«

»Wenn du mit mir reden willst, musst du schon bessere Leute schicken, die mich abholen.«

»Frauen«, sagt der andere, und es klingt, als zuckte er mit den Achseln.

»Ich hab den Mord an deinem Partner nicht angeordnet.« Die Lüge kommt Lola problemlos über die Lippen. Nur ein leicht salziger Geschmack bleibt zurück. »Das war jemand anderes.«

»Sie haben auch einen Partner? Interessant. Den würde ich gern kennenlernen.«

»Kannst du haben. Wenn ich meinen Bruder zurückkriege.«

»Guter Vorschlag.«

Lola steigt aus dem Wagen und läuft zu Rodrigo. Sie nimmt den Jungen in die Arme. Er wiegt beinahe so viel wie sie, aber dennoch hebt sie ihn hoch und stützt ihn, um mit ihm über den Parkplatz zu gehen.

Als sie die Ecke erreichen, ruft Lola laut nach Hilfe.