Eine halbe Stunde später wirft Lola ein paar Münzen in einen Parkscheinautomat am Abbott Kinney Boulevard, ein paar Blocks von der Stelle entfernt, wo ihr kleiner Bruder vor zwei Jahren die Übergabe vermasselt und einen Krieg mit dem Los-Liones-Kartell ausgelöst hatte.
In der Stadt dreht sich einfach alles im Kreis, hatte Andrea geflucht. Andrea, die Lola an ihrer Stelle in den selbstangezettelten Krieg gegen die Drogen geschickt hat.
Andrea, ihre Partnerin. Die Frau, die Lola jetzt töten muss.
Eigentlich schade, denkt Lola, denn sie war gern Teil von Andreas Welt. Aber hatte sie wirklich dazugehört, wenn sie sich nicht einmal in einem italienischen Deli zusammen an einen Tisch setzen konnten, sondern hinten hinausschleichen mussten, um neben einer Mülltonne heimlich miteinander zu reden und ein, zwei Zigaretten zu rauchen?
Der Cannabisladen befindet sich zwischen einem Geschäft für Votivkerzen und einem Verleih von Beachcruiser-Fahrrädern für Touristentouren auf dem Venice Beach Boardwalk. Auf dem Ladenschild leuchten ein grünes Kreuz und der Name »High Life« in grünen Blockbuchstaben vor einem weißen Hintergrund.
Lola hat weder das grüne Apothekenkreuz noch den Namen ausgesucht. Das alles hat sie denjenigen überlassen, die sich um das Alltagsgeschäft kümmern.
Zwei weiße Wachleute lehnen an der Backsteinmauer links und rechts von der zweiflügeligen Glastür – kugelsicher. Dafür hatte sich Lola eingesetzt, und in Anbetracht der Geschäfte, die dahinter gemacht werden, gab es keinen Widerspruch.
Selbst wenn das nur ein legitimer Cannabisladen wäre, wäre das kugelsichere Glas angebracht. Genauso wie die bewaffneten Wachmänner, die sich entspannt über den von Backstein, Glas und blauem Himmel gerahmten Eingang hinweg unterhalten.
Keiner der vormittäglichen Spaziergänger auf dem Venice Beach Boardwalk schenkt dem Cannabisladen Beachtung. Wer neugierig auf das Geschäft blickt, das den in Kalifornien gestatteten Verkauf von Marihuana betreibt, verrät sich als Tourist, und das ist für jeden, der in Venice lebt, eine schwere Sünde – zumindest für die Neuankömmlinge, für die Venice nicht nur ein Ort zum Leben, sondern auch eine Lebenseinstellung ist.
Die Wachmänner kennen Lolas Namen nicht, sind aber klug genug, sie mit einer kleinen Verbeugung zu grüßen, als sie den Summer neben der Glastür drückt und in die Sicherheitskamera blickt.
»Hi, hi«, sagt eine bekannte Stimme, dann folgt ein langes Summen und ein Klicken.
Die Frau, die im Laden hinter dem Tresen steht, unterbricht ihr Verkaufsgespräch nicht, um Lola zu begrüßen. Sie ist weiß, hat kastanienbraune Locken und eine für ihr schmales Gesicht etwas zu große Nase. Ihre Stimme klingt leicht nasal, ist aber klar und bestimmt.
»Ehrlich gesagt, ich würde diese Brownies nicht nehmen. Die sind mir zu süß. Ich hab schon mit unserer Bäckerei geredet, sie sollen das Rezept ändern, aber so richtig kriegen sie’s nicht hin. Ich glaube, das liegt auch daran, dass sie Milchschokolade nehmen, keine Zartbitter. Irgendwann muss ich mich wohl selbst in die Küche stellen und rumprobieren. Soll ich Sie dann für ein Dutzend mit Chocolate Chips vormerken?«
Der Kunde nickt. Auch er ist weiß, wie die Wachleute, wie die Ladenbesitzerin, wie alle außer Lola, dem Boss, oder genauer: einem der beiden Bosse. Aber die Leute hier kriegen nur Lola zu Gesicht. Andrea ist eine öffentliche Person. Sie kann nicht riskieren herzukommen, höchstens mit einem Durchsuchungsbefehl, um den Laden hochzunehmen.
Der Mann scheint trotzdem auch noch Brownies zu wollen, aber die Entschiedenheit, mit der die Frau hinter dem Tresen seine Tüte verschließt und ihm die Ware mit einem »Dann viel Spaß damit« reicht, hält ihn davon ab.
Niemand widerspricht Mandy Waterston.
Lola hatte Mandy bei dem Feuer kennengelernt, das die Heroinvorräte von ihr und ihrem Mann Eldridge vernichtete. Als das Haus zu Schutt und Asche niederbrannte, hatte Mandy Lucy in Sicherheit gebracht.
Lola wird sie immer dafür lieben, dass sie furchtlos ihre Tochter rettete. Andrea war weniger gnädig, weil sie Mandy und Eldridge Heroin im Millionenwert anvertraut hatte.
Jetzt sind Mandy und Eldridge das Verkaufsteam in dem Cannabisladen, in dem vorne Gras und Plätzchen verkauft werden und im Hintergrund der härtere Stoff verwahrt ist. Es ist ein perfektes Arrangement, das die Wachleute und kugelsicheren Türen und Fenster erklärt. Kunden müssen per Summer rein- und rausgelassen werden. Kameras erlauben es Mandy und Eldridge, sich alle Besucher vorher anzusehen und zu entscheiden, ob sie willkommen sind oder nicht.
Lola fragt sich, was Mandy weiß. Sie hat schon für Andrea gearbeitet, ehe Lola in das Geschäft eingestiegen ist. Lola weiß aber nicht, wie lange und in welchem Umfang Mandy für Andrea tätig war. Auch wenn sie Wert darauf legt, über alles Bescheid zu wissen, auf die Idee, die Freundschaft der beiden Weißen zu hinterfragen, ist sie nie gekommen, so als wären sie keine Gefahr.
»Wie geht’s Lucy?«, fragt Mandy und füllt die Kasse mit Bargeld auf, teilweise sauberes, teilweise schmutziges Geld, das über gefälschte Bestellungen gewaschen werden soll – ein Dutzend Brownies hier, ein Tütchen Gras da. Lola und Andrea führen eine Reihe solcher Geldwaschanlagen, nach dem Motto: Kleinvieh macht auch Mist.
»Sie hat in einem Naturkundequiz gewonnen«, sagt Lola.
»Was denn sonst«, sagt Mandy und wischt weiter den Tresen sauber, rückt die Grastütchen darunter zurecht und ruft »Mehr Kekse!« ins Hinterzimmer.
»Zwei Minuten noch.«
»Vergiss nicht, sie auf dem Gitter auskühlen zu lassen«, ruft Mandy zurück. Und zu Lola: »Ein Neuer.«
»Davon hat sie mir nichts gesagt.«
»Den hab ja auch ich eingestellt«, sagt Mandy.
»Nein, ich meine Lucy. Sie hat mir nicht erzählt, dass sie gewonnen hat.«
Mandy hört mit dem Staubwischen auf und sieht Lola an: »Ach.«
»Was meinst du mit ›Ach‹?« Lola spürt, wie sich ihr Puls beschleunigt.
»Das ist seltsam«, sagt Mandy.
»Find ich auch.« Lola kann nicht sagen, wie viel Mandy weiß – über das Rivera-Kartell, das Verschwinden ihres Bruders, den Mordauftrag, den Andrea Lola hat erteilen lassen, um einen Krieg zu beginnen.
»Hast du von ihr gehört?«, fragt Mandy, und Lola weiß, dass sie Andrea meint. Sie nennen sie nicht beim Namen, nicht mal beim Vornamen. Sie ist eine Latina-Drogendealerin. Andrea ist die weiße Staatsanwältin, die den Krieg gegen Drogen führt. Die eine kann nicht ohne die andere.
Doch jetzt wird eine das müssen.
»Ja.« Lola ist bemüht, dass man ihrer Stimme nichts anmerkt. Sie weiß nicht sicher, ob Mandy auf Andreas Seite ist. Aber sie weiß auch nicht sicher, dass sie es nicht ist. »Wir dachten, es wär mal an der Zeit, dass ich die Vorräte checke.«
»Klar«, sagt Mandy. »Eldridge ist hinten. Eigentlich sollte er ja rüber zu Starbucks und mir einen Latte holen, aber er hat drauf bestanden, den Neuen zu beaufsichtigen.«
»Ich weiß nicht, ob jetzt ein guter Zeitpunkt ist, jemand Neuen hier reinzulassen.«
»Wegen dem Rivera-Kartell?«, fragt Mandy.
»Woher weißt du das?«
Mandy winkt Lola zu sich hinter den Tresen und zeigt ihr die Livebilder der Sicherheitskameras. Vier Quadrate mit Ansichten der Ladeneingänge.
»Schwarzer SUV, keine Behördenkennzeichen, tätowierter Latino, der sich Votivkerzen ansieht. Ein anderer schwarzer SUV, auch ohne Behördenkennzeichen, ein Mann im Maßanzug und mit so viel Gel in den Haaren, dass es klatschnass aussieht.«
»Mir ist niemand gefolgt.«
»Weiß ich. Die sind schon den ganzen Vormittag da.«
»Woher weißt du, dass sie Rivera sind?«
»Sie hat gesagt, ich soll mich drauf einstellen. Und dich beschützen, falls du vorbeikommst.«
Lola schätzt diese Umsicht, aber sie ist diejenige mit Knöchelholster und einem Schnappmesser in der Hosentasche. Mandy ist eins siebzig groß, wiegt gut sechzig Kilo und hat weder Waffen noch ein nennenswertes Fahrertraining, abgesehen von dem für den aufgemotzten Kinderwagen ihres Kleinkinds.
»Hab schon kapiert. Du kannst auf dich selber aufpassen.«
»Nicht, wenn Leute, mit denen ich zusammenarbeite, mir das Messer in den Rücken rammen.«
»Davon weiß ich nichts«, sagt Mandy.
»Du hast bei mir einen Stein im Brett, weil du meine Tochter gerettet hast. Aber hör auf, mich anzulügen. Natürlich weißt du es.«
Der letzte Satz macht Mandy wütend. Sie mag es nicht, wenn man mit ihr wie mit einer Zweijährigen spricht, die vergessen hat, sich beim Husten die Hand vor den Mund zu halten.
»Wirst du sie töten?«, fragt Mandy.
»Was denkst du denn?«
»Ich denke, dass du was Besseres machen könntest.«
»Was soll das sein?« Außer dem üblichen Weißenscheiß, denkt Lola – ein Wort, das sie kürzlich beim Fernsehen aufgeschnappt hat.
»Du musst sie nicht umbringen. Du kannst sie vernichten.«
Der Summer ertönt, und Mandy blickt auf die Bilder von der Eingangskamera. Zwei weiße Frauen in Yogahosen stehen vor der Tür. Sie haben Jutetaschen in der Hand und plaudern.
»Haben sich die Typen da draußen irgendwie für mich interessiert?«, fragt Lola.
»Die haben dich überhaupt nicht angeschaut«, sagt Mandy. »Aber sie werden bestimmt neugierig, wenn du ohne irgendwas in der Hand wieder rausgehst.«
Lola begreift es nicht. Wenn das Rivera-Kartell ihren Bruder hat, dann müssten sie doch wissen, dass sie den Mord in Auftrag gegeben hat.
Es sei denn, Hector hat nichts verraten.
Andrea hat ihn in Gefahr gebracht.