»Wenn ich zurück bin, bist du schon im Bett«, sagt Lola am selben Abend zu Lucy. Es ist bereits nach sechs, die Novemberdunkelheit hat sich auf das Viertel gesenkt. Lucy sitzt vor einem kleinen Teller Brokkoli, braunem Reis, Hühnchen und Käse, zu ihren Füßen Valentine, die erwartungsvoll zu ihr hochblickt. Um ihre Schnauze zeigt das braune Fell schon erste Spuren von Grau.
»Wer bleibt bei mir?«
»Manuel«, sagt Lola. Nur mit Mühe war es ihr gelungen, ihren hübschen Exkartellkiller von ihrer Wohnung und ihrem Bett fernzuhalten, aber heute Abend stand sie vor dem Problem, vor dem die arbeitenden Frauen aller Schichten und Ethnien stehen. Sie musste sich um einen Babysitter kümmern. Lola hat zwar nichts dagegen, dass sich ihre Mutter um Lucy kümmert, aber nur solange sie auch in der Nähe ist.
Aber gegen das Rivera-Kartell kann ihre Mutter sowieso nicht antreten.
Heute hat Lola alle Männer im Haus versammelt. Sie halten Ausschau nach schwarzen SUVs ohne Behördenkennzeichen. Sie halten Ausschau nach Latinos in Anzügen, mit polierten Schuhen, zurückgegelten Haaren, auch nachts getragenen Sonnenbrillen. Sie halten Ausschau nach Männern, die ausgesandt wurden, um Lola und ihre Familie zu töten.
»Manuel ist nett«, sagt Lucy.
»Ich bring dich ins Bett. Er ist im Wohnzimmer und kommt, wenn du ihn rufst. Du kannst die Tür gern auch abschließen.«
Der dicke Mexikaner namens Allen, der Lola in Locust Ridge anstelle ihres Bruders als Geisel übergeben wurde, hat den orangen Sträflingsoverall ausgezogen und ist in ein für seine Mopsfigur zu enges T-Shirt geschlüpft. Er steht unter strenger Bewachung, bis sie über sein Schicksal entscheidet. Morgen wird sie ihn entweder dem Direktor in Locust Ridge zurückgeben oder ihn erschießen. Sie weiß nicht genug über ihn, um sich eine dritte Alternative zu überlegen. Sie weiß nicht mal, ob es überhaupt eine gibt.
Vom vorderen Fenster aus sieht Lola Allen im Hof, den Lola seit Sonnenuntergang taghell erleuchten lässt, hin und her gehen. Allen geht von Jorge zu Marcos und zurück. Zuerst denkt sie, sie spielen das langsamste Neckball der Welt. Dann hört Lola ihre amerikanischen Männer lachen und begreift, dass Allen auf die Toilette muss.
Sie zerrt am Fenster, bis es aufgeht, und schreit wie eine wütende Mutter: »Lasst ihn aufs Klo. Und lasst mich so einen Scheiß nie wieder sehen!«
Jorge und Marcos blicken nach oben. Sie wussten nicht, dass Lola zusieht, aber ihre Überraschung zeigt ihr, dass sie überreagiert hat.
»Okay, Boss«, sagt Jorge.
Lola schließt das Fenster erst, als Jorge und Marcos Allen zu Marias Wohnung begleiten. Maria wird den Gefangenen sicher mit offenen Armen und grässlichem New-Age-Tee empfangen. Sie wird ihm erzählen, dass das seiner Seele guttut, während er nur kacken will.
»Was hat der Mann da gemacht?« Lucy hat sich Hände und Mund abgewischt und steht vor ihr. Valentine neben ihr schlingt ein Stück Huhn hinunter und hofft, dass Lola es nicht merkt.
»Nichts. Was passiert, ist nicht seine Schuld«, sagt Lola, weil sie selbst nicht genau weiß, was passiert. Klar, dass Allen höchstwahrscheinlich nur ein Sündenbock ist, ein Mann, dem das Rivera-Kartell Geld geboten hat, um sich ins Gefängnis rein- statt rausschmuggeln zu lassen und sich für einen echten Häftling auszugeben, den das Kartell rausholen wollte. Sie hat keine Ahnung, in welchen Schwierigkeiten Allen steckt, um sich freiwillig in ein Hochsicherheitsgefängnis zu begeben, ohne zu wissen, dass sie ihn herausholen würde. Aber seine eingehende Befragung muss noch warten. Jetzt muss sie erst los und mit dem zweiten Kopf der Schlange reden.
Trotzdem nimmt sie sich die Zeit, um Lucy zu baden, und lächelt, während sie die strähnigen Haare ihrer Tochter kämmt und sie beide jede Kammbewegung zählen. Sie liest ihr aus Matilda vor und freut sich, dass es schlauen Mädchen trotz mieser Eltern gutgehen kann. Ob das etwas Mädchenspezifisches ist, weil Jungen ja schon mit dem Gefühl geboren werden, dass die Welt nur dazu da ist, von ihnen erobert zu werden?
Als Lucy im Bett liegt und ihr wohliges Seufzen verrät, dass sie kurz vorm Einschlafen ist, fällt Lola das Naturkundequiz wieder ein. Sie hätte fragen sollen.
Es ist zu spät.
Lola geht zu Manuel ins Wohnzimmer. Er sieht leise fern und fragt, ob das in Ordnung ist.
»Lucy stört’s nicht«, sagt sie. »Sie kann über ziemlich viel wegschlafen.«
»Und du?«
»Was ich?«
»Stört’s dich, wenn ich fernsehe?«
»Nein.« Jetzt antwortet Lola schon freundlicher. Unwillkürlich legt sie ihm die Hand auf die Wange. Er legt seine Hand auf ihre, und im nächsten Moment küssen sie sich.
Er zieht den Kopf zurück, und sie fragt, ob etwas nicht in Ordnung ist.
»Du hast doch noch einiges vor.«
»Stimmt«, sagt Lola und ist insgeheim etwas traurig, dass nicht sie es war, die dem Einhalt geboten hat, da doch eigentlich sie genau das in ihrer Wohnung nicht gestattet. Allerdings verwenden sie und Manuel nie viel von ihrer abgezwackten Zeit zum Küssen, schon gar nicht hier im Wohnzimmer. Ihre Beziehung soll hinter geschlossenen Türen stattfinden und der Fernseher dabei laut laufen. Jetzt fragt sich Lola, ob es ihr vielleicht gar nicht so sehr darum geht, die Beziehung vor Lucy und ihren Soldaten geheim zu halten, als vielmehr darum, dass sie sich nicht in Manuel verlieben will.
Als sie durch den Hof zu ihrem Civic geht, der unabgeschlossen auf der Straße steht, weil ihn niemals jemand klauen würde, sieht sie Jorge und Marcos mit Allen aus Marias Wohnung kommen.
»Wir haben ihn auf den Topf gesetzt«, sagt Jorge. »Sorry wegen vorhin.«
Marcos grunzt seine Zustimmung.
»Schon okay. Setzt ihn in mein Auto.«
»Machen wir einen längeren Ausflug?«
»Nee. Nur er und ich«, sagt Lola. Geflissentlich übersieht sie die Blicke, die sich die beiden zuwerfen – sie will mit einem Mann, der beinahe dreimal so schwer ist wie sie, allein irgendwohin fahren. Sie haben zwar sichergestellt, dass er keine Waffen hat, aber er könnte sie mit bloßen Händen erwürgen.
»Okay«, sagt Jorge.
Marcos will Allen auf Lolas Rücksitz bugsieren, so als wäre er verhaftet, nur ohne Handschellen. Sie sagt: »Nein, nach vorne.«
Marcos gehorcht.
Nachdem Lola sich in den Verkehr eingefädelt hat und ihre beiden Soldaten im Rückspiegel immer kleiner werden, macht sie einen Anruf. Ihr Civic schnurrt über die Straßen des Ghettos, hüpft über ein Schlagloch, umfährt eine Plastikeinkaufstüte, deren zähflüssiger beiger Inhalt auf den Asphalt geflossen ist – die Farbe eines durch den Fleischwolf gedrehten Latinos. Entspannt steuert sie den Wagen und lauscht dem Klingelton, bis eine fröhliche weibliche Stimme rangeht.
»Büro Andrea Dennison Whitely.«
Lola entfährt ein kleiner Schreckensschrei, als sie mehreren Kindern ausweicht, die einen platten Basketball in einen zerfetzten Korb werfen, den sie mitten auf die Straße gestellt haben. Die Kinder stieben links und rechts zur Seite. Mädchen und Jungen spielen zusammen Basketball, es sind Kinder aus dem Viertel. Sie kennen ihr Auto.
»Ich möchte … Andrea sprechen. Wie kann ich sie erreichen?«
»Wer ist da?«
»Lola Vasquez«, sagt sie mit einem kurzen Seitenblick zu Allen, um zu sehen, ob er sich für ihren Namen interessiert. Er winkt den Kindern zu, was Lola ärgert, und deswegen biegt sie rechts ab, damit Allen nach links rutscht, weg von den Jungen und Mädchen, weg von ihren auf der Straße spielenden Kindern.
»Oh, Lola, hi. Es tut mir wirklich leid, aber sie hat heute ein Geschäftsdinner.«
»Können Sie mir sagen, wo?«
Die andere zögert.
»Bitte«, flüstert Lola. »Er ist zurückgekommen.«
»Sie ist im El Norte«, sagt die Assistentin. »Aber das wissen Sie nicht von mir.«
Die Verbindung wird unterbrochen. Lola wirft Allen ihr Handy zu. »Google El Norte für mich.«
Dieses Mal hat sie Andrea nicht mit einem der Wegwerfhandys angerufen. Es war ein ganz legaler Anruf. Andreas Assistentin ist informiert, dass Lola wiederholt Opfer von häuslicher Gewalt geworden ist. Selbstverständlich hätte sie Andreas Aufenthaltsort nicht verraten dürfen, aber Lola glaubt nicht, dass sie als Assistentin im Büro einer Staatsanwältin besonders gut verdient, und was kann man für so wenig Geld schon erwarten? Wenn Andrea eine Assistentin einstellen würde, die sie sowohl bei ihren legalen als auch bei ihren illegalen Geschäften unterstützt, würde das außerordentlich hohe Gehalt, das die Betreffende für ihre Verschwiegenheit verlangen würde, Stirnrunzeln hervorrufen.
Zu Lolas Überraschung findet Allen die Adresse und Telefonnummer von El Norte problemlos. Es ist in der Melrose Avenue in West Hollywood. Anders als in ihrem Viertel ist es dort schwierig, einen Parkplatz zu finden, und sie kann das Auto auch nicht stehen lassen, ohne es abzuschließen. Als Königin eines Ghettos fühlt man sich in besseren Stadtteilen nicht gerade wie in einem Schloss.
»Was macht ein Restaurant mit dem Namen El Norte in West Hollywood?«, fragt Allen. Er spricht fast akzentfreies Englisch. Aus seiner Bemerkung ist leichte Belustigung herauszuhören. Er findet diese Situation lustig. Was für ein Scheißleben er führen muss.
»Du sprichst Englisch?«, fragt Lola laut.
»Sí«, antwortet er.
Lola seufzt. »Auch noch ein Schlaukopf.«
»Ich geb mir Mühe.« Er kichert.
»Woher kommst du?«
»Aus San Antonio.«
»Und das Rivera-Kartell hat dich nur einfliegen lassen, um dich ins Gefängnis zu stecken?« Sie wechselt ins Spanische, was ihn überrascht.
»Du sprichst Spanisch.«
»Yeah.«
»Ich versuch immer, meine Töchter dazu zu bewegen, Spanisch zu sprechen. Aber sie weigern sich. Teenager eben.«
»Du hast Töchter?«
»Drei. Keine Söhne.« Er hebt die gespreizten Finger und lächelt. Sein stummes Was kann man da machen? gefällt Lola. Sie mag ihn, für den Moment jedenfalls.
»Hast du keine Angst, mir das alles zu erzählen?«
»Ich hab ja nur Hafturlaub wegen der Beerdigung meiner abuela.«
Allen ist über fünfzig. Seine abuela ist längst tot.
»Hast du je vom Los-Liones-Kartell gehört?«
»Die sind erledigt. Weg vom Fenster. Fertiggemacht von einer Frau.«
»Also kennst du das Metier.«
»Ich hatte einen Imbiss in San Antonio. Also musste ich den Mächtigen dort einen Obolus entrichten.«
»Oh«, sagt Lola. Alle Straßenverkäufer in L.A., egal ob sie gegrilltes Fleisch anbieten, mit Chili bestäubtes Obst oder auf Freeway-Brücken in Plastikfolie eingeschlagene Blumen, müssen den Gangs, auf deren Gebiet sie arbeiten, Schutzgeld zahlen. Die vielen kleinen Beträge fließen nach oben und finanzieren letztlich den Boss.
»Du fährst gemütlich neben mir in meinem Auto und trägst nicht mal Handschellen. Wie glaubst du, sieht das für deine Bosse aus, wenn sie uns verfolgen lassen?«
»Schlecht. Aber das sind nicht meine Bosse. Sie haben mir die Chance geboten, etwas Geld zu verdienen. Viel Geld.«
»Genug Geld, dass du dafür vielleicht den Rest deines Lebens im Knast verbringst?«
»Du hast mich doch rausgeholt.«
»Ich kann dich genauso wieder zurückbringen.«
»Kannst du. Hat sich für mich aber trotzdem gelohnt.«
»Warum?«
»Weil das Rivera-Kartell meiner Tochter das Leben gerettet hat.«
Während sie im Schneckentempo im Feierabendverkehr dahinkriechen, erzählt Allen Lola seine Geschichte. Seine Tochter Adela hatte Leukämie. Allen und seine Frau, mit der er seit über zwanzig Jahren verheiratet ist, konnten sich die Behandlung nicht leisten und haben sich an die Einzigen gewandt, die ihnen und ihrer Tochter helfen würden. Das Rivera-Kartell. Genau wie Lola tut das Kartell seinen Leuten »Gefallen«. Es bietet eine Leistung im Voraus, und eines Tages – es kann eine Woche oder ein Jahrzehnt später sein – »bittet« es um eine Gegenleistung.
Adela ist seit drei Jahren krebsfrei. Vor ein paar Tagen kam ein Vertreter des Kartells und erinnerte ihren Vater an seine Schuld. Allen sollte nach Locust Ridge gehen und so tun, als sei er ein anderer Häftling. Ein Häftling, den das Rivera-Kartell herausholen wollte. Ein Häftling namens Hector Vasquez.
Allen hat sich sofort gefügt, schließlich hatte das Kartell seiner Tochter das Leben gerettet.
Natürlich kann auch sein Leben gerettet werden, wenn Lola morgen nicht die dreistündige Autofahrt auf sich nehmen will, um ihn dem höhnischen Gefängniswärter zu übergeben, der ihn für die Beerdigung seiner längst verstorbenen abuela entlassen hat.
»Weißt du, wo sie ihn hingebracht haben? Hector meine ich.« Lola ist klar, dass die Frage sinnlos ist. Der Mann ist nicht mal ein Krimineller – er war schon gefangen, bevor er nach Locust Ridge ging, ein Gefangener des Kartells. Er wurde in dem Moment dessen Gefangener, als sich die Krebszellen im Körper seiner Tochter zu vermehren begannen und ausbreiteten, ihr Leben bedrohten und ihre Eltern zu einer verzweifelten Entscheidung zwangen, um sie zu retten.
»Nein«, sagte er, und dann: »Da! Da ist es.«
»Was?« Lola tritt auf die Bremse. Quietschend kommt der Honda zum Stehen. Einen Moment glaubt sie, Allen habe Hector gesehen, hier an der Ecke der Melrose Avenue, wo ein großes Verkehrsschild vor den Folgen des Linksabbiegens in der Rushhour warnt.
»El Norte.«
Jetzt entdeckt Lola das rote Restaurantschild, auf das der Name in einer auf authentisch getrimmten Schreibschrift gepinselt ist, garniert mit einem stacheligen grünen Kaktus. Mein Gott, denkt sie, in so einen Laden gehen die Weißen, wenn sie mexikanisch essen? Dieser Teil von West Hollywood ist voll von Bars und Clubs und sexueller Revolutionen, was Lola alles gut findet. Was sie nicht gut findet, ist das Weißwaschen der mexikanischen Küche, das Ertränken von Enchiladas in Käse und Mole, so dass man nichts anderes mehr schmeckt. Aber das hier ist Amerika. Mehr ist besser.
Dennoch gefällt ihr die rote, krakelige, hingeschluderte Schrift, in der der Restaurantname kaum zu lesen ist.
Ein Parkplatzwächter, der Lolas Blinken bemerkt hat, ehe sie an den Straßenrand fahren und nach einer Parkuhr Ausschau halten kann, tritt auf die Straße. Unweigerlich fühlt sie sich davon geschmeichelt. Der dickliche Latino, der ihrem Mitfahrer ähnelt, scheint sofort erkannt zu haben, dass sie hierhergehört, an diesen Ort, an dem auch Andrea zu Abend isst.
»Guten Abend, Miss«, sagt er mit singendem Tonfall, der zugleich respektvoll und herablassend wirkt. Lola vermutet, dass er in seinem Heimatland eine bedeutendere Rolle gespielt hat als hier in seiner grünen Uniform.
»Danke, ebenso«, sagt sie knapp, weil sie sich gerade ein Bild verschafft vom El Norte: schwere Eichentür, rötliche Beleuchtung und vermutlich hippe Ambientmusik genau in der richtigen Lautstärke, um sich unterhalten zu können. Der Parkplatzwächter geht voraus, um die schwere Tür für sie zu öffnen.
Innen ist das Licht gedämpft, aber nicht dunkel wie in vielen mexikanischen Restaurants. Das hier ist keine Höhle, sondern eine Oase angenehm roten Lichts. Lola hört den sehnsuchtsvollen Gesang einer weißen Frau, unterlegt von elektronischem Beat. Die Frauenstimme aus den Lautsprechern rührt Lola an, sie denkt an Manuel bei sich auf der Couch, der versucht, mit der Fernbedienung zurechtzukommen, um nicht Lucys Trickfilme sehen zu müssen. Ihm könnte es hier gefallen. Sie ist noch nie mit ihm zusammen in einem Restaurant gewesen.
Das gilt auch für Andrea.
»Für zwei, bitte«, sagt sie der Empfangsdame mit langen blonden Haaren, langen Beinen und einem feinen Lächeln.
Die junge Frau, die kaum älter als zwanzig sein kann, hat spindeldürre Beine auf hohen Absätzen – viel zu hoch, wenn man bei der Arbeit viel laufen muss. Sie führt sie an großzügig im Raum verteilten schweren Eichentischen vorbei. Lola erkennt Leute, die geschäftlich hier essen, sieht Hollywoodagenten in Nadelstreifenanzügen, die mit einem Handschlag den nächsten Deal besiegeln, während neben ihnen weiße Bedienungen an einem Beistelltisch die Guacamole frisch zubereiten. Sie entdeckt ältere Männer, die glauben, bei den jungen Frauen ihnen gegenüber landen zu können. An einem Tisch bemerkt sie ein paar Schauspieler, die in einer abendlichen Fernsehserie mitspielen, die sie als Hintergrundrauschen beim Zusammenlegen der Wäsche laufen lässt.
Was sie nicht sieht, ist auch nur ein einziger Mexikaner, weder an den Tischen noch unter den Bedienungen. Hier im El Norte sind die authentischsten Leute draußen vor der Tür und parken die Autos der Gäste oder begleiten sie zum Eingang.
»Sie haben Glück«, sagt die Empfangsdame. »Eben erst wurde eine Reservierung storniert.«
Während die Empfangsdame sie zu einem Ecktisch führt, liegt Lola die Frage auf der Zunge, warum sie es für nötig hielt, ihnen mitzuteilen, dass sie den Tisch beinahe nicht bekommen hätten? Warum hat sie sie nicht einfach dort platziert und gesagt, ihre Bedienung käme gleich? Aber natürlich kennt Lola die Antwort – je begehrter etwas erscheint, desto mehr will man es haben.
»Was isst man hier so?«, fragt Allen, als er Lola gegenüber Platz genommen hat. Sie will ihn gerade daran erinnern, dass sie auch noch nie hier war und dass dies nicht die Art von mexikanischem Restaurant ist, in das sie normalerweise geht. Aber dann bemerkt sie, dass die Empfangsdame auf ihren hohen Absätzen immer noch über ihnen schwebt und im Takt der Musik mit den Füßen wippt.
»Heute haben wir als Tagesgericht Wolfsbarsch. Den ganzen Fisch in Salzkruste gebacken und mit Guava de gallo serviert.«
Was zum Teufel ist Guava de gallo?
»Und natürlich mit unserer berühmten, frisch am Tisch zubereiteten Guacamole.«
»Ja, das nehmen wir«, sagt Lola, weil sie will, dass die Blonde verschwindet, und wissen möchte, woraus Weiße Guacamole machen.
»Was ist das denn für ein Laden?«, fragt Allen, als die blonde Frau gegangen ist.
»Das weiß ich auch nicht«, sagt Lola, und für einen Augenblick sind sie und Allen vereint gegen den Rest des Restaurants, verloren in diesem Gourmettempel, in dem sie sich eigentlich wohlfühlen sollten.
»Gibt’s vorab keine Nachos mit Salsa?«, fragt Allen.
Ein kleiner blonder Kellner mit einem maskenhaften Lächeln erscheint mit einem Handwagen, auf dem Mörser und Stößel liegen, dazu ein Berg Avocados und Zinnschälchen mit roten Zwiebeln, Knoblauch und Limetten.
»Guten Abend. Ich bin Daniel und bereite für Sie unsere Spezialguacamole bei Tisch zu.«
»Lassen Sie den Kram einfach da. Das können wir selber«, sagt Lola.
»Es tut mir leid, Ma’am, aber das geht leider nicht.«
Lola zieht zwei Hundert-Dollar-Scheine aus der Hosentasche. Das Schnappmesser, das ebenfalls drin ist, hält sie ihm nicht gleich vor die Nase, aber sie verbirgt es auch nicht richtig. »Und bringen Sie uns Chips und Salsa, okay?«
Daniel flitzt von Lolas Tisch zum Empfang. Sie weiß, dass sie nicht allzu viel Zeit haben. Auch Allen scheint das zu spüren. Er hat schon drei Avocados von dem Berg genommen und geöffnet, drückt das Fleisch in eine Schüssel und träufelt Limettensaft darüber.
»Viel Salz«, sagt Lola und steht auf.
»Wohin gehen Sie?«
»Aufs Klo«, lügt sie. Sie hat keine Angst, Allen allein zu lassen. Er hat seine Pflicht gegenüber dem Rivera-Kartell erfüllt. Seine Tochter hat den Krebs überwunden. Lola hat ihn aus dem Gefängnis geholt und ihn in ein teures mexikanisches Restaurant mitgenommen. Jetzt kann er sich was Gutes tun und eine leckere Guacamole machen.
Lola geht zwischen den Tischen durch. Daniel ist schon an einem anderen Tisch mit vier Frauen Ende fünfzig. Ihre Gesichter sind geliftet, die Bäuche unter den fließenden Seidentops gestrafft. Er sieht Lola und verhaspelt sich bei den Wolfsbarschen im Salzmantel. Ein Gefühl des Triumphs durchzuckt sie, aber nur kurz, denn einen Tisch weiter, in einer dunklen Ecke, wirft Andrea gerade ihr dunkles Haar zurück und lacht auf.
Lola hat selten erlebt, dass Andrea lacht. Sie ist eine hektische Frau, die von einem Meeting zum nächsten rast, von einem Gedanken, einem Opfer, einem Mörder zum nächsten. Sie nimmt ihre beiden Berufe, Staatsanwältin und Drogenboss, sehr ernst. Mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf bewegt sie sich wie eine Frau, die weiß, dass sie schön ist, die es aber nicht mag, angesehen zu werden. Die wenigen Male, als Lola sie voll Selbstvertrauen gesehen hat – in Venice auf einer Straße dahineilend, um ihren früheren Strohmann Eldridge Waterston zu treffen –, war sie allein, ohne Begleitung. Im Gerichtssaal spricht Andrea mit einer Kleinmädchenstimme über missbrauchte Mädchen. Lola hat sich schon gefragt, ob das ein Trick ist – mit leiser Stimme zu sprechen, um die Leute zum Stillsitzen und Zuhören zu zwingen.
Andrea bemerkt Lola sofort. Sie hört nicht auf zu lachen, was Lola wütend macht. Andrea weiß, dass Lola ein Messer in der Tasche hat. Sie weiß, dass es in dem Restaurant so viele Ecken gibt, die sich noch besser als jede Gefängnisdusche dazu eignen, jemanden zu erstechen, weil hier niemand ständig aufpasst und sich umsieht.
Sie weiß, dass Lola gekommen ist, um über Leben und Tod zu entscheiden.
»Entschuldige mich bitte kurz.« Andrea legt eine Hand auf die des großen dunkelhaarigen Mannes, den Lola als ihren Ehemann wiedererkennt. Jack ist Psychiater und auf die Behandlung von Süchtigen spezialisiert, egal ob drogen-, spiel- oder sexsüchtig. Andrea berührt ihn, um ihm ihre Zuneigung zu zeigen, aber auch um leichter aufstehen zu können. Sie sitzt in einer Ecke, ihre drei Begleiter wenden Lola den Rücken zu. Aber alle drei drehen sich um und sehen Andrea nach, außer Jack noch ein grauhaariger Mann im Dreiteiler und seine Frau. Die hat hohe Wangenknochen und aufgepumpte Lippen und trägt ein königsblaues Kleid. Aber selbst im Sitzen ist zu erkennen, dass die Frau, die Ende fünfzig sein muss, ein breites Becken hat, wahrscheinlich vom Kinderkriegen. Die erste Frau, denkt Lola, und billigt die Ehe des Grauhaarigen. Vor Lolas Begegnung mit Andrea und dem kleinen Einblick in die Westside-Welt hätte sie den Unterschied zwischen einer ersten und einer zweiten Ehefrau nie erkannt. Das, denkt sie, ist also sozialer Aufstieg.
Lola folgt Andrea, die mit demütig gesenktem Kopf die Menge teilt, links um den Tresen herum geht und auf den winzigen Zengarten hinter der Toilette zusteuert. Von hier ist die Restaurantküche zu sehen, und dort entdeckt Lola auch die Mexikaner, die Tortillas frittieren und brechen, die kleinen heißen Stücke salzen und Limettensaft darüber träufeln, genau wie es Allen an ihrem Tisch getan hat, nur schneller und ohne Kerne darauf fallen zu lassen.
»Weißt du, dass der Laden einen Michelin-Stern hat?«, sagt Andrea zu Lola. Sie schlägt einen Ton an, der Lola wissen lässt, dass jemand mithören könnte.
»Was zum Teufel ist das?«
»Das ist was ziemlich Wichtiges für ein Restaurant.«
»Weißt du, was ich für ziemlich wichtig halte? Dass kein mexikanisches Restaurant, in das ich gehe, einen Michelin-Stern hat. Und bei dem hier sind alle Mexikaner hinten, vorne sieht man nur Weiße.«
»Guter Punkt«, sagt Andrea mit einem Seufzer und dreht sich um, so dass sie und Lola nebeneinander mit dem Rücken zum kühlen Beton der Gartenmauer stehen. Lola hört das kleine Wasserspiel unter ihnen, halb ertränkt vom sehnsuchtsvollen Ambientsound.
Lola braucht drei Beats, um sich von der Wand zu lösen und die Hände um Andreas Hals zu legen. Die Haut unter Lolas Fingern ist glatt.
Sie spürt die Organe unter der dünnen Haut von Andreas Kehle. Speiseröhre. Stimmbänder. Ihre Stimme.
Lola zwingt ihre ehemalige Partnerin näher an das Wasserspiel. Andrea blickt zu ihr hoch, ihre Finger fassen um Lolas Hände, krallen sich aber nicht fest. Dass sie keine Verzweiflung und Todesangst zeigt, macht Lola sauer.
Sie drückt fester zu. Sie will spüren, wie Andreas Adern platzen. Sie will, dass ihr Blick nicht von dem riesigen Diamanten angezogen wird, der hell an Andreas Ringfinger blitzt, sondern will Andreas klare grüne Augen fixieren, die allmählich in ihrem Hinterkopf verschwinden.
Noch immer wehrt sich Andrea nicht.
Lola lässt locker. Sie sagt sich, dass sie Andrea am Leben lassen muss, um sie dem Rivera-Kartell auszuliefern. Die nagende Stimme in ihrem Inneren, die ihr Gewissen sein muss, sagt Nein: Sie hat Andrea losgelassen, weil sie nicht um ihr Leben gebettelt hat. Sie hat Andrea losgelassen, weil Andrea aus dem, was ein Kampf auf Leben und Tod hätte sein sollen, eine Schlacht des Willens gemacht hat.
»Warum?«, bringt Lola heraus.
Andrea stützt sich auf den Betonrand des Wasserspiels, taucht die Finger ins Wasser und hebt ihre Haare, um ihren Nacken mit der kühlen klaren Flüssigkeit zu benetzen.
Es entgeht Lola nicht, dass sich Andrea kein Wasser ins Gesicht spritzt, um ihr Make-up nicht zu zerstören. Obwohl sie gerade beinahe unter Lolas Händen gestorben wäre.
»Du musstest den Krieg mit dem Rivera-Kartell beginnen, weil du ihn als Einzige gewinnen kannst.« Andreas Stimme ist vom Würgen noch kratzig, dennoch klingt es wie ein Lied, lockend und besänftigend. Lola möchte gerne glauben, dass das der Grund ist, warum Andrea sie einen Krieg anfangen ließ, aber sie weiß, dass es nicht stimmen kann.
Lola spürt Andreas Hand auf der ihren. Sie sieht hinab auf den glitzernden Diamanten, den roten Nagellack.
»Da kommt jemand.«
Sekunden später biegt der grauhaarige Mann, der an Andreas Tisch saß, um die Ecke.
»Andrea. Jonathan versucht uns zu einem Nachtisch zu überreden. Wie wär’s?«
»Die Churros hier sind zum Niederknien«, sagt Andrea. »Lola, darf ich Ihnen meinen Chef vorstellen? Raymond Ewing.«
Lola kennt den Namen aus den Lokalnachrichten und seinen Bariton von Pressekonferenzen. Er ist der District Attorney von Los Angeles.
»Ich helfe ihr bei … ein Fall häuslicher Gewalt«, sagt Andrea, weil Raymond sieht, dass sie Lolas Hand hält, und er neugierig wirkt.
»Sie ist eine besondere Frau«, sagt Andrea zu Raymond, aber Lola weiß, dass diese schmeichelnden Worte eigentlich an sie gerichtet sind.
»Freut mich«, sagt der District Attorney, und im Dunkel des Restaurantgangs schüttelt er Lolas Hand.
Andrea beugt sich zu ihr, um sie auf die Wange zu küssen. Es ist Lolas erster Kuss dieser Art, den sie nicht von einer alten Latina erhält, die sie vorher kneifen und ausrufen würde, wie groß sie doch geworden sei. Andreas Lippen streifen sie so sanft, dass Lola nicht sagen kann, ob das wirklich ein Kuss ist oder etwas anderes, von dem sie bisher nur gehört hat, ein Luftkuss.
»Treffen wir uns in einer halben Stunde draußen.«
Andrea lässt Lolas Hand los und lotst Raymond wieder an ihren Tisch.
Ohne es richtig mitzukriegen, nimmt Lola aus einem Korb im Fenster zwischen Restaurant und Küche einen Churro. Als sie in das frittierte Teigstück beißt, schmeckt sie etwas Süßes und Salziges, dazu einen Hauch Zimt. Ihre Augen weiten sich vor Genuss, und als sie wieder zu sich kommt, starrt sie Zach an, Charlies Vater.
Er ist aus der Küche getreten und wischt sich die Hand an einem weißen Handtuch ab. Michelin-Sterne, der District Attorney, Hollywoodagenten in Nadelstreifen. Nur ein weißer Koch kann eine so illustre Gästeschar in ein mexikanisches Restaurant locken.
»Hey«, sagt Zach mit ausgestreckten Armen und einem echten Lächeln, als hätte er sie die ganze Zeit hier vor seiner Küche erwartet.
»Die waren für den Tisch deiner Freunde«, sagt er mit einem Nicken auf den Churro in Lolas Hand.
»Setz es auf meine Rechnung.« Eigentlich wollte sie pampiger antworten, stattdessen beißt sie noch mal herzhaft in den Churro und ist froh, dass sie schweigen kann.
»Sag schon«, sagt Zach.
»Was?« Lolas Mund ist voll buttrig-süßen Gebäcks. Zach kann nicht wissen, was für ein Feuerwerk in ihrem Hirn gerade stattgefunden hat.
»Wie ist der Churro?«
»Fantastisch«, sagt Lola und unterstreicht es mit einem Seufzen. Ganz unbeabsichtigt hat sie die Wahrheit gesagt, und sie wundert sich, ob es noch eine andere Lola gibt, die sich auf der weißen Seite von Los Angeles wohlfühlt. Und wenn es diese zweite Lola gibt, welche ist dann die echte?