15

Unversöhnlich

Es dämmert schon, als Lola nach Hause kommt. Andrea hat sie vom New Horizons zum El Norte zurückgefahren. An Allen hatte Lola keinen Gedanken mehr verschwendet, ihr war es egal, ob und wie er sich in der fremden Stadt zurechtfinden würde. Jedenfalls war er nicht mehr da. Das Restaurant war bereits geschlossen, aber ihr Auto stand noch auf dem Parkplatz, unbeaufsichtigt.

Sie hofft, dass Allen in einem Zug oder Bus nach San Antonio sitzt. Niemals hätte sie ihn zurück ins Gefängnis gebracht, selbst wenn das bedeutet, dass die Cops irgendwann an ihrer Tür klingeln werden. Wenigstens muss sie jetzt nicht lügen, sondern kann sagen, sie hat keine Ahnung, wo er ist.

»Ich hab einen Ersatzschlüssel«, hatte Lola Andrea versichert, obwohl ihre Partnerin nicht gefragt hat, wie sie nach Hause kommt.

Bevor sie aus dem roten Audi gestiegen war, hatte sich Lola noch mal an Andrea gewendet: »Kann ich irgendwas tun?«

Andrea zuckte mit den Achseln. Auf der Rückfahrt war sie ungewöhnlich schweigsam gewesen. Lola hatte ihr dabei zugesehen, wie sie Christopher in mehrere Decken wickelte, um die chemische Kälte in seinen Knochen zu vertreiben, aber nichts schien zu helfen.

Als Lola ein kleines Mädchen war, hatte sie es genauso bei ihrer Mutter gemacht, als sie die ersten Male auf Entzug war.

Diese Kälte lässt sich nicht vertreiben, wollte Lola Andrea sagen, aber das wusste Andrea bestimmt. Sie versuchte es trotzdem. Weil es ihr Kind war.

In ihrer Wohnung fand Lola Manuel auf der Couch, mit der Fernbedienung in der Hand, das Kinn im Schlaf auf die Brust gesunken. Leise setzte sie sich neben ihn. Im Fernseher lief ein Shoppingkanal. Ein Küchengerät wurde angepriesen, das Obst und Gemüse eine Sekunde schneller zerkleinern konnte als jenes Gerät, das eine halbe Stunde zuvor angepriesen worden war. Dann kam Werbung für eine Creme, mit der Falten am Hals im Handumdrehen verschwinden.

Lola weiß nicht, wie lange sie schon neben Manuel sitzt und sanft seinen Oberschenkel berührt, als plötzlich Lucy auftaucht. Sie trägt ein Baumwollkleidchen mit Ananasmuster, das man im Spätherbst nur in Los Angeles anziehen kann, wo die Temperaturen bis in den Januar selten unter 24 Grad sinken. Lucys Arme sind nackt, und Lola bemerkt zum ersten Mal die kleinen festen Muskeln unter der nachgiebigen jungen Haut.

»Wir müssen gehen, Mama«, sagt Lucy.

Die Vorhänge sind geschlossen, aber die Werbung verrät Lola, dass es noch nicht einmal sieben Uhr sein kann.

»Wohin denn?«

»Zu Charlie.«

Lola sieht Lucy verwirrt an, und das Mädchen seufzt so enttäuscht, wie nur eine Siebenjährige enttäuscht seufzen kann.

»Zum Spielen.«

Die Verabredung zum Spielen. Lola hat sie vergessen, Zach hat die Verabredung gestern Abend nicht erwähnt.

Aber jetzt erinnert sie sich. Sie erinnert sich, dass Lucy gestern lauter Kleider und Röcke aus dem Schrank gezogen und sie nacheinander beiseitegeworfen hatte – mit einem Stöhnen, das, wie Lola jetzt denkt, nach Abscheu klang. Das nächste Mal sah sie Lucy in ebendem Kleid, das sie jetzt trägt, vor dem Spiegel stehen. Auf den Zehen vor- und zurückwippend, vor und zurück, hielt sie die Hände schüchtern hinter dem Rücken verschränkt und sagte: »Nein, danke. Ich habe keinen Hunger.«

Lola hatte es gesehen, ohne sich einen Reim darauf machen zu können. Es waren Vorbereitungen für die Verabredung mit Charlie. Ihre Tochter wollte eine gute Figur machen.

Ein paar Stunden später steht Lola vor der Tür von Zachs und Susans Haus in Venice mit Lucy an ihrer Hand. Als Schritte zu hören sind, zieht Lucy die Hand zurück, und Lola sieht, wie ihr kleines Mädchen einen halben Schritt zur Seite macht. Sie will kein Mama-Kind mehr sein.

Lola lenkt sich mit dem Gedanken ab, dass Zach und Susan, ein Restaurantbesitzer und eine Onkologin, in einem erstaunlich bescheidenen Haus wohnen. Der Bungalow steht ein paar Schritte vom Strand entfernt auf einem handtuchgroßen Grundstück, eingeklemmt zwischen lauter identischen Bungalows. Autos drängen sich an Fußgängern vorbei in schuhschachtelgroße Garagen, so dass der Kotflügel die Wand berührt und die Stoßstange die Tür. Lachende Surfer mit nacktem Oberkörper tragen ihre Boards lässig in einer Hand wie Einkaufstüten … oder eine kleine Pistole. Sie schenken Lola und Lucy keine Beachtung. Sie haben nur Augen für den Ozean.

Die Tür öffnet sich und dahinter steht Zach, der gerade ein T-Shirt überstreift. Lola versucht, seinen muskulösen Oberkörper zu übersehen, und als Zachs verwuschelter Blondschopf aus dem Ausschnitt auftaucht, zeigt sein Lächeln nicht, dass er Lolas Starren bemerkt hat. Es ist ein Lächeln ohne jede Zweideutigkeit, er scheint sich tatsächlich zu freuen, sie beide zu sehen.

»Hey«, sagt er. »Kommt rein. Charlie ist im Spielzimmer.«

In Lichtgeschwindigkeit verschwindet Lucy im Haus, der Ananasrock weht hinter ihr her. Eine Hose wollte sie partout nicht anziehen. Vielleicht sollte sie sich Gedanken darüber machen, warum ihre Tochter glaubt, dass sie als Mädchen Röcke tragen muss. Lola blickt auf ihre olivgrüne Cargohose, auf der ein bräunlicher Fleck ist, von dem Lola hofft, dass es Lucys Wasserfarbe ist und nichts Berufliches. Sie sollte mehr auf ihre Kleidung achten. Sie muss den Drogenkrieg beenden, den sie unwissentlich angefangen hat.

Nur ist sie im Moment nicht in der Lage, Andrea dem Kartell zu übergeben.

Jetzt muss sie erst einmal diese Verabredung hinter sich bringen.

Lola steht auf dem verdreckten, sandigen weißen Linoleum im Eingang. Das Haus riecht nach Salzwasser und Wind, nach Fisch und Febreze. Der Teppich ist braun, eine Farbe, die zwar Flecken kaschieren kann, aber auch das Licht dämpft, das aus den zum Meer hin gelegenen Fenstern in den Raum fällt.

»Ich halt mich kaum im Haus auf«, sagt Zach. »Die meiste Zeit bin ich draußen auf der Terrasse.«

Schweigend folgt Lola ihm. Sie gehen an dem Spielzimmer vorbei, das eigentlich das Wohnzimmer ist. Lola registriert die gewölbte Decke und den edlen Teppich, wieder eine dunkle, unempfindliche Farbe, und einen Flatscreen, auf dem brüllend laut Doc MacStuffins läuft. Unter ihrer Sohle knirscht es. Sie hebt den Fuß, ein plattgetretener Käseflip. Dass es in Susans Haus so aussieht, überrascht sie, aber ist das fair? Susan ist Ärztin und heilt Menschen von Krebs. Sie überbringt gute oder schlechte Nachrichten, und selbst wenn sie einem Patienten sagen muss, dass er bald sterben wird, muss sie gefasst klingen. Verwundert es Lola tatsächlich, dass eine solche Frau keine Zeit hat, Teppiche zu saugen? Oder jemanden anzustellen, der das tut? Lola sieht Zach an – was macht er eigentlich den ganzen Tag? Warum macht sie nicht ihn für den Zustand des Hauses verantwortlich?

Nach einer heftigen Umarmung zur Begrüßung schleift Charlie Lucy zu ihrem Puppenhaus, um dort zu spielen, und zwar so, »dass die Jungen- und die Mädchenpuppe sich ineinander verlieben«. Gehorsam geht Lucy auf die Knie und nimmt mit eifrigem Blick eine Puppe in jede Hand. Ohne Murren beugt sie sich Charlies Befehl. Lola kämpft gegen den Drang an, ihre Tochter an der Hand zu packen und sie aus dem verdreckten Haus zurück zum Auto zu schleifen, das sie zum Schnäppchenpreis von zehn Dollar drei Straßen weiter abgestellt hat. Aber es sind nur zwei spielende Mädchen, und sich ein bisschen gängeln zu lassen ist nichts gegen das, was Lucy in ihrem kurzen Leben sonst schon erdulden musste.

Zachs Hand liegt auf der verschmierten Glasscheibe. Er dreht sich zu Lola um. »Kommst du?«

»Hast du was zu essen?«, fragt sie stattdessen. Sie hat keine Ahnung, wie solche Verabredungen in der Westside ablaufen, aber wenn Kinder Lucy besuchen oder einfach so bei ihr klingeln, ohne eine Erklärung außer einem hängenden Kopf und einem laut knurrenden Magen, stellt Lola ihnen etwas zu essen hin: Guacamole, Pico de Gallo, frische Speck-Tortilla, mit weißem Hühnerfleisch gefüllte Vollkornteigtaschen. Sie bringt ihnen gefiltertes Wasser in farbigen Gläsern, und zum Nachtisch bekommt jeder ein kleines Stückchen dunkler Schokolade.

Zach grinst sie an. »Ich dachte schon, du würdest nie fragen.«

Gemeinsam gehen sie in die Küche, und Lola merkt, wie ihr Bauch einen erwartungsfrohen Hüpfer macht. Zach ist Koch. Zach liefert, anders als die meisten Männer.

»Das Haus hab ich nur wegen der Küche gekauft«, sagt er und hebt eine schmiedeeiserne Pfanne aus einem Schrank mit Kindersicherung.

Die Arbeitsfläche ist aus Granit, der Gasherd mit sechs Kochstellen ist ein Viking. Lola hat schon von diesen Viking-Herden gehört – als zwei weiße Mütter wie sie vor der Schule auf ihre Kinder warteten und sich über eine Kücheneinrichtung unterhielten, die beinahe das Ende der Ehe von einer der beiden bedeutet hätte. Zu Hause hat sie gleich die Marke gegoogelt. Für die Sparversion musste man sechstausend Dollar hinblättern.

Die Fenster in Zachs Küche sind hoch und breit, der Dielenboden so hell, dass Lola sich fragt, ob sie nicht besser die Schuhe ausgezogen hätte. Sie lässt ihren Blick über Zachs nackte Füße gleiten, dann hoch zu seinen Waden, feste Muskeln unter gebräunter Haut, die Beinbehaarung von einem so hellen Blond, dass sie nur zu erkennen ist, wenn Sonnenlicht darauf fällt. Sie steigt mit dem rechten Sneaker auf die Ferse des linken, um herauszuschlüpfen. Schnell zieht sie auch den anderen Schuh aus und starrt auf ihre bloßen Zehen, die sie dunkelrot lackiert hat. Die Ränder der Nägel erwischt sie nie richtig, aber aus der Distanz fällt es kaum auf.

Zach lässt die breite, gezahnte Klinge so schnell durch die frischen Jalapeños fahren, dass sie nicht sagen könnte, wo der eine Schnitt endet und der nächste beginnt. Das Heben und Senken verschwimmt zu einer fließenden Bewegung, die hart und brutal wäre, würde man sie in Momentaufnahmen zerlegen. Als die Schoten in gleich große Würfelchen geschnitten sind, lässt Zach die Klinge in eine Avocado gleiten und dreht sie einmal um, so dass das hellgrüne Fleisch zum Vorschein kommt, das er sanft aus der rauen Haut drückt.

Lola denkt an Hector, ihren kleinen Bruder, das Innerste nach außen gekehrt nach stundenlangen Verhören und Folterung.

Was macht sie eigentlich mit ihrer Tochter in der Westside, denkt Lola, sie hat genug Probleme am Hals. Ist das bei allen arbeitenden Müttern so, dass sie zwischen den kostbaren Stunden mit ihren Kindern und den harten Entscheidungen, die die Welt ihnen abverlangt, hin- und hergerissen sind?

Jetzt wirft Zach zusammen mit einem Klumpen Fett Maistortillas in die Pfanne. Über die Tortillas kommt eine Mischung aus schwarzen Bohnen, dann ein paar Spritzer Limettensaft und geriebener Cotija-Käse.

So etwas könnte sie auch zubereiten, denkt Lola, nur würde sie dreimal so lang brauchen.

Dann gibt Zach ihr eine Quesadilla aus schwarzen Bohnen und Käse, dazu einen Klacks Guacamole und Jalapeño, das Ganze dekoriert mit Koriandergrün. Sie nimmt die Quesadilla in die Hand und hebt sie an den Mund, und noch bevor sie den ersten Bissen nimmt, weiß sie, dass sie das niemals hingekriegt hätte.

»Schmeckt’s?«, fragt Zach mit einem so breiten Grinsen, dass klar ist, er kennt die Antwort.

Am liebsten würde Lola ihm sagen, er soll sofort mit ihr ins Bett gehen und die beiden puppenspielenden Siebenjährigen im Nachbarzimmer mit dem schmutzigen Teppich und dem lauten Zeichentrickfilm vergessen. Ihr ganzer Körper bebt von dem Geschmack in ihrem Mund.

Er sieht ihr an, was in ihr vorgeht, und kommt näher, so nah, dass sich ihre Oberkörper beinahe berühren.

Dann beugt er sich vor, um sie zu küssen, und Lola denkt an Zachs Frau, Charlies Mutter, und die Stimme des Anstands in ihr meldet sich laut und vernehmlich. Wäre Susan eine der Chicas aus ihrem Viertel, die ihre Tage abwechselnd in Nagelstudios und Friseursalons verbringen und sich abends mit Tequila in Stimmung für einen One-Night-Stand bringen, dann würde sie anders denken. Aber Susan hilft Leuten. Susan rettet Leben.

Lola zuckt zurück.

»Nein. Susan«, flüstert sie in Zachs Ohr, und der beißende Geruch einer billigen Rasiercreme überfällt ihre Sinne, aber er kann den Geschmack der Quesadilla nicht überdecken.

»Wir haben uns getrennt«, haucht er. In seinem Atem riecht sie den Kaugummigeruch einer Kinderzahnpasta, die sie anfangs auch für Lucy gekauft hatte, weil die normale Zahnpasta zu scharf für sie war.

Jetzt ergeben die Kinderzahnpasta, der zertretene Käseflip, der schmutzige Boden und der viel zu laute Fernseher Sinn. Hier lebt ein Single-Mann. Ein Mann, der nicht putzt oder in den Drogeriemarkt geht und der diesen Bungalow wegen der Küche gekauft hat und den Rest des Hauses wie ein ungewolltes Kind vernachlässigt.

»Warum?«

»Arbeit«, erwidert Zach, und Lola möchte fragen, wessen Arbeit – seine Arbeit als Koch oder ihre Arbeit als Onkologin. Aber sie hat keine Gelegenheit dazu, weil sie das Tappen von Kinderfüßen hört, die sie trotz des Teppichs als die ihrer Tochter erkennt.

Bevor sie aufsieht, weiß sie, dass Lucy im Türrahmen steht, eine Wange an das Holz gelegt, die Hände hinter dem Rücken. In Lolas Hinterkopf schrillt eine Alarmglocke – sie hätte Lucy sagen sollen, dass sie nicht alles machen muss, was Charlie will.

»Mama, ich brauch dich«, sagt Lucy mit der Stimme eines Kleinkinds und nicht einer Siebenjährigen.

Mit einem Räuspern tritt Zach einen Schritt zurück. Er weiß nicht, ob er zuhören oder etwas sagen soll, also reibt er die Eisenpfanne mit einem Geschirrtuch aus und stellt sie ungespült zurück in den Schrank, genutzt und geschätzt.

»Was ist denn, mija?«, fragt Lola und kniet sich nieder, damit sie Lucy in die Augen sehen kann, aber das Mädchen wendet den Kopf ab. Sie starrt Zach an, der mit dem Rücken zu ihr von der Spüle zur Arbeitsfläche geht, hier und da die Platte poliert und sich dann das Geschirrtuch über die Schulter wirft.

»Ich will heim«, sagt Lucy in einem Ton, der gar nicht nach dem Kleinkind von eben klingt. Hat sie mitbekommen, wie Zach sich ihr genähert hat? Denkt sie, dass Charlies Vater versucht hat, ihrer Mutter wehzutun? Alles Sexuelle ist für Lucy gleichbedeutend mit Schmerz. Lola musste erst erwachsen werden, bis sie diese in ihrer Kindheit erlernte Gleichung vergessen hat.

»Okay«, sagt Lola.

»Charlie!«, ruft Zach. »Du musst dich von Lucy verabschieden.«

Als sich ihre Blicke treffen, weiß Lola, dass Zach aufmerksam genug ist, um zu ahnen, dass irgendwas zwischen den Mädchen vorgefallen sein muss, mag er auch blind für den Dreck im Haus sein. In seinen Augen liest sie die an sie gerichtete Frage – Was ist da drüben wohl passiert? Lola beantwortet sie mit einem Achselzucken.

»Dann bis bald«, sagt Zach an der Haustür. Charlie lässt sich nicht blicken, als er und Lola sich mit einem verlegenen Nicken verabschieden.

Den Weg zum Auto legen sie schweigend zurück, nur schiebt Lucy ihre kleine Hand in die von Lola. Auch im Auto schweigen sie, so dass Lola sich darauf konzentrieren kann, aus dem Einbahnstraßengewirr von Venice herauszufinden, dem einzigen Viertel von Los Angeles, dessen Straßen keinem Raster folgen, sondern lauter Kehren und Wendungen machen, und jeden, der nicht von hier stammt, zur Verzweiflung bringen.

Als sie endlich auf dem Freeway sind, fragt Lola: »Was ist denn passiert? Hast du was … gesehen?«

Lola denkt an sich und Zach, ihr Gespräch über seine Trennung und die Gründe dafür, an den Kuss.

»Es war Charlies Idee«, platzt es aus Lucy heraus.

»Was war Charlies Idee?«, fragt Lola und bemüht sich um einen gleichmütigen Ton.

»Mary anzurufen. Sie zum Spielenachmittag einzuladen.«

Mary ist auch in Lucys Klasse, ein schüchternes schlaues Mädchen mit Brille, die ihre Freunde vor allem in Büchern findet.

»Welchen Spielenachmittag denn?«

»Gar keinen. Das war eine Lüge.«

Lola merkt, wie ihr das Blut in die Wangen steigt. Am liebsten würde sie umkehren und zurück zu Zach fahren, um Charlie zu schütteln, bis sie etwas Ähnliches wie Mitgefühl spürt, oder auch Schmerz, das wäre Lola egal.

»Wir wollten ihr einen Streich spielen, Mama. Ich wollte es dir erzählen, aber ich hab mich nicht getraut. Das war so gemein von mir.«

Große Tränen kullern über Lucys kleines Gesicht. Sie schluchzt, und aus ihrer Nase blubbert Rotz.

»Ja, mija«, sagt Lola, »das war gemein.«

»Aber jetzt ist es zu spät. Mary ist bestimmt zu Devon, und Devon weiß nichts davon und schickt sie wieder weg.«

»Du hast es mir erzählt. Das ist das Entscheidende.« Lola wirft einen Blick in den Rückspiegel, um sicherzugehen, dass Lucy sie ansieht. »Ich kümmere mich drum.«

Erschöpft von ihren Schuldgefühlen schläft Lucy zu Hause sofort ein. Lola blättert das Adressbuch von Blooming Gardens durch, bis sie Marys Namen findet. So wie bei Lucy steht bei ihr unter »Eltern« nur der Name der Mutter. Lola wählt die Nummer, und die Frau, die abhebt, schreit in den Hörer: »Habt ihr meine Tochter noch nicht genug gequält?«

Lola hört im Hintergrund ein Mädchen weinen. »Es tut mir leid«, sagt sie. »Ich bin Lola Vasquez, Lucys Mutter. Lucy hat ein furchtbar schlechtes Gewissen wegen dem, was passiert ist.«

Die Frau schweigt, sie scheint keine Entschuldigung erwartet zu haben. Ihr Schweigen lässt auch das weinende Mädchen hinter ihr verstummen.

»Miss Vasquez …«

»… Lola.«

»Lola, ich glaube nicht, dass Ihre Tochter die eigentliche Schuld trifft.«

»Nein«, sagt Lola, »aber sie hat mitgemacht. Sie wird es Ihrer Tochter gegenüber wiedergutmachen.«

»Wir brauchen kein Mitleid.«

»Darum geht’s auch nicht«, sagt Lola. Als sie aufgelegt hat, stützt sie ihr Kinn in die Hände und überlegt, ob sie durch die Woche kommen wird, ohne noch jemanden zu verletzen.

Nicht, wenn ich nicht zulasse, dass mich jemand verletzt.