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Syndikat

»Das tut weh, ich weiß«, sagt Lola und zieht die Bürste durch Lucys dünne, verfilzte Haare. Sie sind kohlrabenschwarz. Selbst wenn Lola sie wäscht, eine Spülung einmassiert und sie föhnt, glänzen sie nicht. Sie achtet darauf, dass Lucy genug Obst, Gemüse und Vitamine zu sich nimmt. Langsam erreicht ihre Tochter Normalgewicht und ist auch ein gutes Stück gewachsen. Nur die Haare der Kleinen bleiben schlaff und stumpf. Das sollte sie wirklich nicht stören. Lucy ist gesund, ihr Trauma nur mehr eine unterdrückte Erinnerung. Es mag sexistisch sein, aber Lola ist einfach überzeugt, dass eine schöne glänzende Mähne das Mädchen wenigstens später glücklicher machen würde.

»Fertig.« Mehr sagt Lola nicht.

»Kann ich jetzt ausspülen?«, fragt Lucy.

Lola nickt. »Ja, klar.«

Während Lucy sich im seifigen Wasser erst auf den Bauch und dann zurück auf den Rücken dreht, fragt sich Lola, wie sie ihr Versprechen gegenüber dem Boss des Rivera-Kartells halten soll: ihm ihre Partnerin Andrea auszuliefern, damit sie im Gegenzug ihren Bruder zurückbekommt.

Ihr bleibt nur der heutige Abend, um sich einen Plan auszudenken.

»Fertig«, sagt Lucy, und Lola hebt sie aus der Wanne.

Von Lucy und ihren hiesigen Verpflichtungen kann Lola keine Zeit abknapsen, um für Andrea einen Krieg in Mexiko zu führen. Aber wenn sie Andrea nicht ausliefert, wird dieser Krieg weitergehen, und Hector wird weiter gefangen gehalten und langsam zu Tode gefoltert werden. Es sei denn, Lola kann ihn selbst aufspüren. Sie vermutet, dass der überlebende Boss des Rivera-Kartells, der Mann, mit dem sie im Lexus über Bluetooth gesprochen hat, ihren kleinen Bruder an der mexikanischen Grenze, vielleicht in Tijuana, versteckt. Nur wird sie sich nicht aufgrund einer Vermutung auf die Suche machen. Sie ist kein Cop. Sie braucht konkrete Hinweise, bevor sie sich in Bewegung setzt. Und sie braucht einen Plan.

Lola liest Lucy zwei Kapitel aus Matilda vor, dann küsst sie sie auf die Stirn und streicht ihr über die Haare. Sie gibt Lucy einen Stoff-Donald-Duck, für den sie in einem hochoffiziellen Disney-Laden fünfzig Drogendollar hingeblättert hat. Das Mädchen drückt die blöde Ente an sich, dann dreht sie sich auf die Seite und bohrt ihre Zehen wie ein Kätzchen, das es sich bequem machen will, in die Matratze.

Lucy fragt Lola, ob sie um Verzeihung bitten kann für das, was sie und Charlie heute getan haben.

»Nein«, sagt Lola. »Nur für das, was du getan hast.«

Die Kleine denkt darüber nach, dann nickt sie, klettert aus dem Bett und kniet sich mit gefalteten Händen davor. Es dauert eine Weile, bis Lola dämmert, dass Lucy betet.

Von Lola hat sie das nicht. Ihr ist schleierhaft, wie das Mädchen überhaupt zum Glauben gefunden hat. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Lucy inzwischen älter ist und zu verstehen beginnt, was in ihrer frühen Kindheit alles schiefgelaufen ist.

Lola streift sich einen pechschwarzen, nach Waschmittel riechenden Hoodie über. Als sie die Treppe hinuntergeht und ihr Haus verlässt, denkt Lola an den CNN-Bericht, in dem es hieß, dass Waschmittel Krebs verursachen kann, dass einen alles umbringen kann, was zum Reinigen und Putzen verwendet wird. Tief atmet sie den Geruch in der stillen Nachtluft ein. Von der übernächsten Straßenecke hört sie die Stimmen von Jungen, Rufe und Lachen. Ein friedlicher Klang, anders als die Schreie nach einem Schusswechsel.

Wann wohl Rodrigos Stimme dabei sein wird? Ramon hat ihm heute in ihrem Auftrag gebackenen Fisch und Tortillas, seine Leibspeise, zukommen lassen. Die Physiotherapie, die er brauchen wird, wird sie zahlen. Seine Eltern werden nicht erfahren, woher das Geld stammt.

In Marias Wohnung ist es dunkel. Lolas Mutter geht vor neun Uhr abends schlafen und steht um fünf Uhr früh auf. Lola ist auch kein Nachtmensch, aber sie ist der Boss, keiner der Eckensteher der Crenshaw Six.

Auf Marias dick gepolstertem Ecksofa liegt Manuel. In dem stumm geschalteten Fernseher läuft eine Telenovela. Wie alle ihre Männer bleibt auch er jetzt in der Nähe, seit der Krieg begonnen hat. Als Lola näher kommt, sieht sie, dass Manuels Augen geschlossen sind. Aber im nächsten Moment flattern die langen schönen Wimpern, und er reißt die Augen auf, als würde er aus einem Alptraum erwachen.

Die Kapuze auf dem Kopf, die Hände in den Taschen des Hoodies vergraben, steht sie vor ihm. Sie ist keine Frau, die mit Reizwäsche und hochhackigen Schuhen verführt und mit einem schmachtenden Blick, der in dem schwachen TV-Licht sowieso verschwendet wäre. Sie mag den Hoodie lieber, der leicht nach krebserregendem Waschmittel riecht und ihre Brüste und Hüften verbirgt, so dass man achtlos an ihr vorbeigehen könnte.

»Tut mir leid«, sagt Manuel. »Ich muss eingeschlafen sein.«

Er steht auf und streckt ihr seine Hand entgegen, auf deren Knöcheln schwarze Haare sprießen, die seine mädchenhaften Wimpern vergessen lassen. Sie legt ihre kleine Hand hinein, und er umfasst sie.

Auf dem Weg zurück in ihre Wohnung führt er sie dann aber nicht die Treppe hinauf, sondern geht neben ihr her. Sie ist nicht sein Boss, sondern seine Geliebte, wenigstens für die nächsten siebenundzwanzig Minuten.

Als sie fertig sind, erhebt er sich von den verschwitzten Laken, steigt wieder in seine Jeans und lässt sie im Dunkel ihres Schlafzimmers allein zurück. Jetzt ist er wieder ihr Soldat, geht die Wohnung ab und prüft, ob irgendwo eine Gefahr droht, und sie ist wieder sein Boss und trägt allein die ganze Last für ihre Leute.

Stunden später kitzeln die Strahlen der aufgehenden Sonne ihr vom Schlaf erhitztes Gesicht. Mittwoch. Auf diesen Scheißtag könnte sie gut verzichten.

»Kaffee?«

Mist. Manuel. Neben ihr im Bett. Jeden Augenblick wird Lucy aufstehen.

»Du musst gehen«, sagt sie.

»Okay«, sagt er, ohne wegen ihres groben Tons auch nur mit den Achseln zu zucken.

»Nein, ich … was willst du denn? Willst du bleiben?« Selbst an einem Scheißtag wie heute genießt Lola es, Spanisch zu sprechen, jedes Wort springt und rollt über Zunge und Zähne.

»Ich kann auch gehen.«

»Das weiß ich, aber ich wollte wissen …«

»Wie trinkst du deinen Kaffee?«

»Milch, kein Zucker.«

Lola zieht ihre übliche Uniform aus Cargohose und Achselhemd an. Wenn sie Lucy zur Schule bringt, wird sie einen Baumwollpulli überstreifen. Dort wird sie Zach sehen. Der Gedanke lässt sie innehalten, ihr linker Fuß bleibt auf halbem Weg zum Sneaker in der Luft hängen. Dachte sie etwa, dass er derjenige sein könnte, der die Grenze überschreitet? Oder wäre es ihr unangenehm, ihn hier zu haben, in diesem Haus mit dem schmutzigen Innenhof, den Pilzen, die unter den Stufen wuchern, und dem beigen Teppich, der den ganzen Dreck ihres Lebens verschluckt?

Zach wird dieses Haus nie sehen, denkt sie, und das ist gut, weil sie einen anderen fickt.

Lola tappt ins Wohnzimmer und lässt sich auf die Couch sinken. Es riecht leicht nach Salz, Schweiß und Lucys Babyshampoo, das Lucy nicht in den Augen brennt, wenn Lola ihr abends den Schaum aus den gewaschenen Haaren spült.

Es klopft an der Tür, sie springt auf. Ein stechender Schmerz schießt in ihren rechten Fuß, als sie über den Dielenboden geht. Er erinnert sie an die Nacht, als sie sich eine grüne Glasscherbe aus dem Fuß zog, mit der sie die Kehle des Los-Liones-Kartellbosses aufgeschlitzt hatte. Es ist das erste Mal, dass sie die alte Wunde wieder spürt. Vielleicht ist es eine Warnung, dass sie nicht zur Tür gehen soll.

Sie öffnet die Tür, niemand zu sehen. Auch im Garten ist nur eine schwarze Katze, die über den verlassenen Picknicktisch flitzt. Bevor Lola überlegen kann, ob das ein weiteres schlechtes Omen ist, taucht Valentine hinter ihr auf und bellt laut und durchdringend.

»Zurück«, sagt Lola mit ruhiger Stimme und deutet nach hinten ins Wohnzimmer. Valentine verstummt und trottet mit eingeklemmtem Schwanz zurück.

Auf dem Fußabstreifer liegt ein Umschlag. Inzwischen hat Lola sich an diese Kommunikationsform mit ihren Konkurrenten gewöhnt. Beim Anblick des Umschlags ist sie sogar erleichtert, weil sie weiß, dass die Nachricht sie über Hectors Zustand aufklären wird. Sie reißt den Umschlag auf und zieht ein einzelnes Blatt Papier heraus. Eine maschinengeschriebene Nachricht: »Machen wir einen Tausch. Partner gegen Bruder. In achtundvierzig Stunden.« Dann folgen Ort und Uhrzeit.

»Hier, sie haben Ort und Uhrzeit für einen Austausch festgesetzt«, sagt Lola, als sie Manuel die Nachricht zeigt.

»Das ist eine Falle«, sagt er.

»Ich weiß«, antwortet Lola.

»Ich werde gehen«, sagt Manuel.

»Du bist hier nicht der Boss.«