Begleitet von lautem Hupen und quietschenden Bremsen hüpft Lola über die Temple Street, aber nicht, weil sie verletzt ist, sondern weil sie den Autos ausweichen muss, die in viel zu hohem Tempo über die Straße rasen. Ein Lastwagenfahrer brettert mit röhrendem Motor an ihr vorbei, und während seine Reifen um Haaresbreite ihre Zehen verfehlen, sieht er zu ihr rüber. Der Blick des Weißen ist eine Warnung an sie, die Latina: Das hier ist mein Land. Wenn mir danach ist, kann ich dich überfahren.
Aber er tut es nicht. Ist das ein Fortschritt in den amerikanischen Rassenbeziehungen, fragt sich Lola, oder schreckt der Mann nur aus Feigheit in letzter Sekunde davor zurück, sie umzusensen?
Sie jedenfalls ist nicht feige. Wenn sie den Mann findet, der Andrea umbringen wollte, tötet sie ihn.
Ein Mann und eine Frau, beide gediegen gekleidet, verlassen die Parkgarage. Sie müssen auf dem Weg in die Hall of Justice sein, nachdem sie unweit des Ortes, an dem Gerechtigkeit unters Volk gebracht wird, fünfundzwanzig Dollar für einen Parkplatz abgedrückt haben. Lola fragt sich, ob es Kläger, Angeklagte oder Anwälte sind. Als die Frau den Kopf hebt, sieht Lola ihre verquollenen Augen, die Iris kleine braune Punkte, die sich in dem Gesicht verlieren. Beide sind schwarz gekleidet, Friedhofsschwarz. Der Mann hat der Frau beruhigend die Hand auf den Rücken gelegt.
Haben Sie ein Kind verloren? Beinahe hätte Lola die Frage laut ausgesprochen. Lucy zu verlieren ist ihre schlimmste Angst und das Einzige, was Trauer so deutlich in ihr Gesicht eingraben könnte. Sie kann sich nicht vorstellen, dass sie unter diesen Umständen imstande wäre, ein schwarzes Kostüm anzuziehen, an der Parkhauseinfahrt einen Parkschein zu lösen und an der Fußgängerampel zu warten, bis sie über die Straße gehen darf. Und das nur in der Hoffnung, dass ihr dort für ihr totes Kind Gerechtigkeit widerfährt.
»Scheiße«, sagt sie so laut, dass das trauernde Paar sie hört. Und gleich darauf: »Oh, Entschuldigung.«
Überrascht sehen sich der Mann und die Frau an. Dann lächeln die beiden flüchtig.
»Macht nichts«, sagt die Frau. »Hier …« Sie deutet auf das überteuerte Parkhaus, die geschäftige Straße davor und die Hall of Justice, die sich wie ein riesiger, eckiger Hochzeitskuchen vor ihnen erhebt.
»Hoffentlich bekommen Sie, was Sie wollen«, sagt Lola und nickt zu dem Gerichtsgebäude.
»Haben Sie es denn bekommen?«, fragt die Frau.
Ich sorge selbst für Gerechtigkeit, denkt Lola und sagt: »Ja«. Die Frau dreht sich zufrieden um und schließt sich wieder ihrem Mann an.
Schnell rennt Lola ins Treppenhaus. Sie hat wertvolle Sekunden verloren. Außerdem wird inzwischen die Polizei wissen, dass sie hierhergerannt ist, um den Scharfschützen zu suchen. Sie werden das Paar aufspüren, und die beiden werden bezeugen, sie am Parkhaus gesehen zu haben. In dem gleich ein Mord stattfindet.
Er könnte den Hinterausgang genommen haben. Aber würde er sich mit einem Gewehr auf der Straße blicken lassen? Zuerst würde er es zusammenpacken. Bestimmt hat er eine Tasche dabei, in der er es verschwinden lassen kann. Lola kennt sich mit Gewehren nicht aus. Sie hat eher mit halbautomatischen Waffen zu tun, bei denen die Schussgeschwindigkeit über die Treffsicherheit geht. Sie sprintet die Treppe zum obersten Parkdeck hoch.
Keuchend erreicht Lola die fünfte Ebene. Sie macht einfach zu wenig Sport, obwohl sie so dünn und muskulös ist.
Die Luft hier oben ist frisch und kühl, der kalifornische Herbst ist fast schon zu riechen. Anders als auf den unteren Ebenen, wo die Limousinen und SUVs dicht an dicht abgestellt sind, stehen hier nur ein paar Autos, deren Fahrer nicht davor zurückgeschreckt sind, sich alle fünf Ebenen hochzukurbeln. Sie geht an den Luxuslimousinen und Schrottkarren vorbei, die Hand fest um den Griff des Messers in ihrer Hosentasche geschlossen.
Irgendwo hier ist Andreas Beinahe-Mörder. Lolas Herz schlägt schneller, und als sie sich mit der Zunge über die Lippen fährt, schmeckt sie salziges, metallisches Blut. In ihrem Jagdfieber muss sie sich auf die Lippe gebissen haben.
Dann sieht sie ihn. Er steht mit dem Rücken zu ihr. Wie dumm. Ein Anfänger, denkt sie. Das Gewehr, mit dem er geschossen hat, ist nach wie vor auf die Hall of Justice gerichtet. Es ist sogar noch auf das Stativ montiert, das Zielfernrohr aufgeschraubt. Wartet er auf eine zweite Gelegenheit?
Als er sich umdreht, begreift Lola, dass er auf sie gewartet hat.
»Hören Sie, Lady, mein Boss hat gesagt, dass ich Ihnen einen Gefallen tun soll. Dass ich die Weiße ausschalten soll«, sagt er.
»Leck mich«, sagt Lola. Zorn steigt in ihr auf. Mit einer schnellen Bewegung fährt sie die Klinge aus und geht mit raschen Schritten auf den Mann zu.
Der drahtige, bärtige Mexikaner, der unter all dem Schwarz schwitzen muss, rennt los. Selbst mit dem Gewehr in der Hand ist er schneller als Lola.
Das Treppenhaus riecht nach Schimmel und Putzmitteln. Lolas Schritte dröhnen so laut auf dem Metall, dass sie die des Attentäters vor sich nicht hört. Als sie endlich die erste Ebene erreicht, brennen ihre Augen. In ihrer Wut kann sie sich nicht mal erinnern, ob ihr jemand auf der Treppe begegnet ist.
Unten angekommen weiß sie, noch bevor sie die Tür zur Straße aufreißt, dass der Mann verschwunden ist.
»Scheiße«, keucht Lola und tritt hinaus. Gleißend fällt die Sonne auf ihr Gesicht und bohrt sich in ihre Augen. Sie muss sich vorbeugen, die Hände auf den Knien, um nicht zu stürzen.
Jemand berührt sie, und die Berührung ist so sanft, sie kann nicht von einem ihrer Soldaten stammen.
»Manuel«, sagt sie.
»Ja«, erwidert er.
»Wir müssen weg«, sagt sie. »Wo ist dein Auto?«
»Grand Central Market«, erwidert er.
Weil du mir gefolgt bist, denkt Lola. Weil du sichergehen wolltest, dass mir nichts passiert.
»Das hab ich nicht befohlen«, sagt Lola.
»Und doch bin ich hier«, erwidert Manuel. Er leugnet nicht, dass er ungefragt seinem Boss gefolgt ist. Er sieht ihr in die Augen, strafft die Schultern.
Auf der anderen Straßenseite entdeckt Lola einen schwarzen SUV mit getönten Scheiben vor der roten Ampel. Das hier ist zwar kein Kriegsgebiet, aber wenn sich in dieser Stadt sogar ein Kartell-SUV an die Straßenverkehrsordnung hält, muss man mit Schüssen rechnen. Sie müssen möglichst schnell verschwinden. Wenigstens kann sie sich das Kennzeichen merken. Sie hat ein gutes Gedächtnis … und ist ziemlich nachtragend.
»Hauen wir ab«, sagt Lola und deutet mit dem Kinn Richtung Markt.
Er geht neben ihr her, fällt in Trab. Schritt für Schritt, links, rechts, links, rechts hämmern ihre Sneakers auf den Gehweg, und allmählich findet sie in einen entspannten Rhythmus, auch wenn das Tempo für sie ein Sprint ist. Sie wirft ihm einen Blick zu, der sie noch mehr Kraft kostet, und sieht, dass sein Mund offen steht, aber er keucht nicht, sein Gesicht ist nicht gerötet.
Als sie um die Ecke zum Markt biegen, sagt Manuel: »Warte hier. Ich hol das Auto. Dauert nicht länger als eine Minute.«
Er läuft los, in demselben Trab wie eben neben Lola, nur dass Lola jetzt, nachdem sie einmal stehen geblieben ist, nicht mehr mithalten könnte.