24

Am Rand von Amerika

Für Louisa Mae fühlt sich der Sand unangenehm an. An ihren Zehen wirkt er zu warm für den frühen Vormittag und den kühlen Wind, der sie vom Pazifik her anbläst.

Sie ist allein, Juan ist zu einer Strandbude gegangen. Er hat Hunger und möchte einen Burger mit Pommes, hat er behauptet, aber nachdem sie drei Tage mit ihm unterwegs ist, weiß sie, dass er die Art Essen nicht mag, die es in der Bude geben dürfte.

Sie hat keine Strandsachen an, nur Jeans und ein Sweatshirt. Sneakers und Socken hat sie ausgezogen, um mit den Füßen ins Wasser zu gehen. Sonst ist niemand am Strand, aber es ist auch Mitte November und ein Werktag.

Sie weiß, dass Juan ihr etwas Zeit für sich lassen wollte. Sie hat versucht herauszufinden, warum er sie gerettet hat, obwohl er sie und ihre ganze Familie töten sollte.

»Hast du auch eine Tochter?« Als sie in einem Highway-Diner über Eiern, Früchten und Toast beim Frühstück saßen, hat sie sich getraut, diese Frage zu stellen. Das war in New Mexico gewesen, vielleicht auch schon in Arizona. Die vielen Diner unterwegs waren da schon zu einem einzigen verschmolzen, genau wie die Meilensteine irgendwann nur noch vorbeirauschten und Louisa Mae sie auf ihrer Reise nach Westen, an den Rand von Amerika, nicht mehr beachtet hat.

»Ich hab keine Kinder.«

»Aber du hast welche getötet?«

Er gab keine Antwort, sah aber auch nicht weg.

»Warum hast du mich nicht getötet, wenn ich dich nicht an deine Tochter oder deine Schwester oder ein anderes Mädchen erinnere, das du gekannt hast?«

»Weil ich mich in dir wiedererkannt habe.«

Danach winkte Juan der Bedienung, um zu zahlen, und Louisa Mae grübelte, was er gemeint haben könnte. Sie ist ein zwölfjähriges Mädchen. Er ist Mitte zwanzig und ein Killer des Kartells. Er hat sie nicht angefasst. In den Motels, die er bar bezahlt hat, hat er zwei getrennte Zimmer verlangt. Erst in New Mexico kam Louisa Mae überhaupt auf die Idee, dass er etwas anderes tun könnte.

Doch nichts dergleichen ist geschehen, und jetzt sieht sie wieder zu dem Strandimbiss und sieht ihn mit verschränkten Armen unter einem geschlossenen Sonnenschirm an einem Betontisch sitzen. Er blickt überallhin, nur nicht zu ihr. Sie steht da, wo Wasser und Land sich berühren und hält die Asche ihres Bruders in einem Gefäß ohne Deckel. Auf der gesamten Fahrt nach Kalifornien hielt sie ihn auf dem Schoß, immer eine Hand auf dem Gefäß, die andere drumherum gelegt.

Jetzt steht sie am Pazifik. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen.

Hier am Rand von Amerika verspürt sie Leere, erinnert sich an den Schock über den Tod ihrer Familie. Der Schmerz, dass sie ihren eigenen Vater getötet hat, wird von der Sonne noch verstärkt. Hier ist das Nichts, unendlich weit.

Sie möchte nicht allein sein, aber sie weiß, dass sie die Einsamkeit erwartet, sobald sie die Asche ihres Bruders verstreut hat. Sie wird sich nicht in das System der Jugendfürsorge begeben. Juan hat ihr eine neue Identität verschafft, samt Pass und Geburtsurkunde, und die Kaution und eine Monatsmiete im Voraus für ein Apartment im San Fernando Valley bezahlt. In der Gegend nordwestlich von Downtown L.A. gibt es gute öffentliche Schulen.

»Warum?«, hat sie ihn gefragt.

»Weil du so bist, wie ich früher war. Als sich mein Leben noch in eine andere Richtung hätte entwickeln können.«

»Du meinst, bevor du dich dem Kartell angeschlossen hast?«

Gerade als sie glaubte, etwas von ihm zu erfahren, gab er wieder keine Antwort.

Nach den vielen Stunden im Auto mit ihm weiß sie, dass er nicht der Killer mit dem Herz aus Gold ist wie in Léon: Der Profi. Er ist in ihr Elternhaus gekommen und wollte sie und ihren kleinen Bruder erschießen.

Hier am Rand der Welt, mit einem Fuß an Land und dem anderen im Wasser, wird ihr klar, dass sie eigentlich niemanden hat außer Juan.

»Hallo!«, ruft sie und winkt ihn zu sich. Zunächst hört er sie nicht, aber dann steht er langsam auf. Er hat einen großen Umschlag unter dem Arm, und Louisa Mae weiß, dass sich ihr neues Leben darin befindet.

»Vielleicht ist es besser, wenn du das allein machst«, sagt er.

»Woher weißt du das? Hast du schon mal die Asche von jemandem verstreut, den du geliebt hast?«

»Ich habe meine Familie nicht geliebt.«

»Ich habe meinen Bruder geliebt.«

»Wie hieß er denn?«

»Den Namen kennst du doch. Wir standen ja auf deiner Liste.«

»Ich kenn ihn. Aber du musst ihn aussprechen, um dich zu verabschieden.«

»Wen hab ich dann noch?«, fragt sie.

»Niemanden.«

Juan hatte ihr klargemacht, dass er nicht bei ihr bleiben kann, weil sich das Rivera-Kartell an seine Fersen heften wird. Andernfalls würde er, nachdem er alles riskiert hat, um sie zu retten, ihr Leben wieder in Gefahr bringen.

»Dein Vater hat das Kartell bestohlen. Sie wollen ihn bestrafen, selbst wenn er schon tot ist. Dafür werden sie dich töten«, hatte Juan ihr in irgendeinem Diner gesagt.

»Sie glauben doch, dass ich tot bin.«

»Aber sie wissen, dass ich noch lebe und nicht zurückgekommen bin, nachdem ich dich getötet habe.«

Louisa Mae dreht sich mit dem Gefäß zum Meer.

»Sag auf Wiedersehen«, sagt Juan.

»Auf Wiedersehen«, wiederholt sie.

»Und seinen Namen.«

Der Name ist ein Kloß in ihrem Hals, den sie weder schlucken noch aussprechen kann. Sie ist schuld, dass er tot ist. Sie hat ihn nicht beschützt.

Sie hat es verdient, ganz allein zu sein. Keiner kann sie noch retten.

»Warum hast du mich nicht getötet?«, versucht sie es erneut.

»Weil ich mich in dir wiedererkannt habe«, sagt er noch einmal. Aber jetzt fährt er fort: »Ich hab gesehen, wie du einen Menschen getötet hast, wie du ihn in den Rücken geschossen hast, als er sich nicht verteidigen konnte.«

»Würdest du das auch tun?«

»Ich hab es getan. Das ist nichts so Besonderes.«

»Was dann?«

»Das, was ich in dir erkannt habe. Nicht, dass du fähig bist zu töten. Sondern, dass es dir gefällt.«

Louisa Mae empfindet nichts bei diesen Worten. Sie erinnert sich nicht, was sie gefühlt hat, als sie den Abzug gedrückt hat und ihr Vater umfiel. Sie weiß nur, dass sie dabei nicht traurig war. Vielleicht kommt das noch, wenn sie erwachsen ist, aber im Moment fühlt sie sich nur taub.

»Dir geht’s bald besser«, sagt Juan. »Wenn ich weg bin.«

»Ich will mein neues Ich«, sagt sie. Es klingt erwachsen und selbstbewusst, so als hätte sie ein Motivationsbuch gelesen oder einem dieser charismatischen Redner zugehört.

»Das kriegst du. Aber erst, wenn du den Namen deines Bruders gesagt hast.«

»Auf Wiedersehen, Christopher«, flüstert sie. Mit beiden Händen streckt sie das Gefäß so weit nach vorne übers Wasser, wie sie kann, ohne loszulassen, und wundert sich, dass sie immer noch Angst hat, es zu zerbrechen, obwohl die Asche ihres Bruders schon vom Meer fortgespült wird.

Sie dreht sich zu Juan um.

»Und wer bin ich jetzt?«

Er reicht ihr den Umschlag. Sie öffnet ihn und liest die Geburtsurkunde.

»Andrea.«