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Verwirrung

Zurück im Hotel, verriegelt Lola die Zimmertür und setzt sich auf das noch unberührte Bett. Auf einem silbernen Tablett liegen zwei Schokopralinen und eine Orange. »Willkommen, Miss Vasquez!« steht auf einem gefalteten Grußkärtchen.

Auf dem Türrahmen im Haus der Athertons standen die Namen Christopher und Louisa Mae.

»Schrecklich, was mit den Kindern passiert ist«, hatte Judy Atherton gesagt.

James redete.

»Die Kinder … ihr Vater war ein schrecklicher Mensch. Er hat für das Kartell Geld gewaschen.«

»Kartell?« Lola hatte Teresa große Augen machen lassen.

»Die Gangster, die hier in der Gegend krumme Geschäfte machen«, hatte James mit einer verächtlichen Handbewegung gemeint, so als wären Lolas Rivalen für ihn bedeutungslos, weil er als Weißer und Arzt gar nicht auf die Idee käme, zum Schutz seiner Familie fürchterliche Dinge zu tun.

»Rivera«, hatte Judy Atherton gesagt. »Jedenfalls hat der Vater angefangen, Geld abzuzwacken, und dafür haben sie sich gerächt. Die ganze Familie haben sie umgebracht. Der Bub wurde totgeschlagen, die Mutter mit einem Steakmesser erstochen, und das Mädchen … bis heute hat keiner das tote Mädchen gefunden.«

Ich hab sie gefunden, hatte Lola gedacht.

»Nur ihr Blut war überall. Hier in diesem Zimmer.«

»Deswegen musste ich das Haus gleich komplett bezahlen«, hatte James gesagt. »Dafür wollte mir keine Bank einen Kredit geben.« Es klang, als bewundere er sich dafür.

Jetzt, allein im Hotelzimmer, ist die Stille unerträglich. Lola macht den Fernseher an. Eine Gameshow. Sie stellt lauter. Eigentlich sollte sie sofort verschwinden, weil sie auf dem Terrain des Rivera-Kartells ist, aber der nächste Flug geht erst morgen früh. Sie könnte ein Auto nehmen, aber dann bräuchte sie zwei Tage. Deswegen bleibt sie hier, sitzt auf dem Bett und hört dem Deckenventilator zu, der die Luft zerschneidet. Ihre roten Ballerinas liegen zu nahe an den Pralinen und der Orange. Das stört sie. Die Schuhsohlen müssen schmutzig sein. Trotzdem schafft sie es nicht, sich die paar Zentimeter zu bewegen, die nötig wären, um die Schuhe auf den Boden zu schubsen.

Sie sollte etwas essen. Eigentlich weiß sie das, aber das Telefon ist unendlich weit weg.

Sie ist müde.

Später wacht sie auf. Sie hat keine Ahnung, wie viel später, aber es läuft eine andere Gameshow, und jemand klopft an die Tür.

Einer der Ballerinas ist auf den Boden gefallen. Draußen ist es noch dunkel.

Sie zieht die Schuhe an, läuft ins Bad und verriegelt die Tür.

Das Bad hat ein Fenster. Es befindet sich direkt über dem hübschen Waschtisch mit den sauberen, blauen, zu adretten Rechtecken gefalteten Handtüchern. Der Raum riecht nach Zimt und Lavendel, zwei Düfte, die für Lola nicht recht zusammenpassen.

Sie versucht das Fenster zu öffnen, aber der Riegel lässt sich nicht bewegen.

Wer immer an ihrer Tür war, das Klopfen hat aufgehört. In der Stille überlegt Lola, ob sie zurück ins Zimmer gehen kann, um ihr Zeug zu packen und möglichst schnell zu verschwinden. Die Pralinen wird sie einfach liegen lassen.

Dann hört sie wieder ein Klopfen. Näher. Jemand ist vor der Badezimmertür.

»Was wollen Sie?«, fragt sie die Tür. Sie hat sie verriegelt, auch wenn sie weiß, dass das nichts hilft – die Tür ist so dünn, dass sogar Lola sie eintreten könnte.

»Dich«, sagt eine Männerstimme auf der anderen Seite.

»Ich hab kein Geld«, sagt Lola.

»Deswegen bin ich nicht gekommen … Lola«, sagt der Mann. Lola fragt sich, warum er vor ihrem Namen eine Pause gemacht hat. Hat er überlegt, ob er ihn aussprechen soll oder nicht, weil er sie als Geisel nehmen will und keine Vertrautheit entstehen soll?

Neben den Handtüchern auf dem Waschtisch steht eine Vase. Lola nimmt die Blumen heraus, schüttet das Wasser aus und packt sie.

Der Mann droht, die Tür einzutreten, wenn sie nicht aufmacht. Sie glaubt ihm, und fünf Sekunden später tut er es.

Sie ist bereit, hat die Vase gehoben – Scherben haben ihr in der Vergangenheit oft Glück gebracht. Aber dieser Mann ist zu schnell für sie. Nicht mal sein Gesicht hat sie gesehen.

»Ich will dir doch nicht wehtun.«

Mit festem Griff drückt er Lola auf das breite Bett und hält sie fest, bis sie zu zappeln aufhört und still liegt – eigentlich weiß Lola, dass dieses mädchenhafte Gezappel nur Energieverschwendung ist. Im ersten Moment sieht sie die Männergestalt über sich gar nicht. Stattdessen verfolgt ihr Blick die sich drehenden Ventilatorenblätter an der Decke, und sie hört das Geplapper aus dem Fernseher, spürt die zerwühlte Tagesdecke unter sich.

Schließlich erkennt sie ihn. Der Weiße ist Anfang vierzig, sieht aber zehn Jahre älter aus. Er trägt eine Lederjacke und eine zerschlissene Jeans. Er löst sich von ihr und steckt die Hände in die Taschen, weil er es nicht nötig hat, eine Waffe auf sie zu richten.

»Sergeant Bubba«, sagt Lola zu einem Spitzen-Cop des LAPD.

Als Drogenfahnder war Sergeant Bubba McMillan zu tief in sein Arbeitsgebiet eingetaucht und wurde selbst kokainsüchtig. Nach mehreren Entzügen hatte ihn das LAPD zu Vice abgeschoben, wo er jetzt Prostituierte rettet, die an der Nadel hängen, indem er sie zum Entzug in die schicke Klinik von Andreas Ehemann nach Malibu bringt. Außerdem klaut er aus der Asservatenkammer Drogen, größere Mengen sogar, die es nie in die Inventarlisten zu schaffen scheinen. Allerdings schnieft, raucht oder spritzt er das Zeug nicht mehr selbst, sondern gibt es Andrea, die es möglichst weit von der Entzugsklinik ihres Mannes und den Patienten darin fernhält. Andrea verkauft selbst nur an hoffnungslose Fälle, die es nie schaffen werden, sich von ihrer Sucht zu befreien. Aber während Lolas Partnerin sich wohl kaum für eine barmherzige Samariterin hält, glaubt Bubba bestimmt, Gutes zu tun, die Gemeinschaft zu stärken und Süchtigen zu helfen – meistens attraktive weiße weibliche Süchtige, soweit Lola weiß –, ihre Sucht zu besiegen, nicht mehr auf den Strich zu gehen, keine Scheiße mehr zu bauen.

»Hi«, sagt Bubba. Die Hände behält er in den Taschen. »Wir müssen reden.«

»Was? Warum?« Sie denkt an Hector, der bei Bubba ist.

»Du musst zurück nach L.A.«

»Geht’s um meinen Bruder?«

»Um Andrea. Sie ist verschwunden.«

»Verschwunden?« Das Wort lässt es Lola kalt den Rücken runterlaufen und schockfrostet ihr Hirn, so als hätte sie gerade in eine steinhart gefrorene Kugel Eis gebissen.

»Weißt du, wer sie entführt hat?«

»Ich hab nicht gesagt, dass sie entführt wurde. Ich hab verschwunden gesagt.«

Lola schwingt beide Beine vom Bett, springt auf und stellt sich direkt vor Bubba. Ihr rechter Arm ist in die Höhe geschnellt und hält das Messer, das sie aus dem Nachttisch gezogen hat, vor Bubbas Gesicht. Als er schluckt, weiß sie, dass er weiß, dass sie kein Problem damit hätte, ihm das Gesicht zu zerschneiden. Aber das würde ihr nichts bringen. Bubba hat sie nicht hintergangen, noch nicht, und er könnte wissen, wohin Andrea verschwunden ist oder entführt wurde.

»Komm mir bloß nicht dumm«, sagt Lola und kennt ihre eigene Stimme nicht mehr. Sie klingt selbstsicher, privilegiert, eine Stimme, die erwartet, dass Bubba zuhört.

»Sorry«, sagt Bubba, und Lola spürt ein angenehmes Kribbeln in sich, als Bubba, der Cop, sich ergibt und die Hände in die Höhe hält. »Ich mach mir wegen ihr Sorgen. Ich weiß nicht, ob sie entführt wurde oder aus der Stadt abgehauen ist.«

»Hast du mit ihrem Mann gesprochen?«

Bubba nickt.

»Was hat er gesagt?«

»Das sie niemals freiwillig die Kinder zurücklassen würde.«

Die Worte treffen Lola wie ein Schlag.

»Hat sie denn … mehr als eins?«

Bubba senkt die Hände. Lola sieht, dass ihre Überraschung ihn überrascht.

»Wusstest du das nicht?«

Überflüssigerweise schüttelt Lola den Kopf. Bubba ist ein Cop, er ist darin geübt, andere zu durchschauen, und in diesem Moment ist sie ein offenes Buch für ihn.

»Wie alt?« Ehe Lola Christopher begegnete, hatte sie Andrea für eine Karrierefrau gehalten, die sich erst spät im Leben Kinder zulegen würde, vielleicht mit Hilfe der Fortpflanzungsmedizin und genügend Geld für eine Erfolgsgarantie.

»Zwölf und fünfzehn«, sagt Bubba. »Ein Mädchen und ein Junge. Der Junge steckt in Schwierigkeiten.«

Das weiß Lola.

Sie rechnet kurz nach und kommt auf zweiundzwanzig. Andrea war zweiundzwanzig, als sie Christopher bekam, ihren Sohn, den sie nach ihrem toten Bruder nannte.

»Christopher und Rayna«, sagt Bubba.

»Ich kümmere mich drum«, sagt Lola.

Bubba schweigt. Vielleicht wäre er in dieser Angelegenheit gern selbst der Held, der Andrea findet, gefesselt, geknebelt, machtlos.

»Wer weiß noch davon?«, fragt Lola

»Noch niemand. Jack glaubt, dass er es aus den Nachrichten halten kann, wenn er sagt, dass sie nach dem Anschlag eine Weile untertauchen will. Aber mehr als einen Tag wird das nicht funktionieren.«

Vierundzwanzig Stunden. Schon wieder ein verflucht knapper Termin. Lola muss sich ihre Partnerin wieder holen, Andreas Kindern die Mutter zurückbringen und den Scheißkrieg beenden, den Andrea ausgelöst hat.