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Mutter

Das Haus vor dem malerischen, auch als Filmszenerie beliebten Bronson Canyon ist zweistöckig. Unter dem bis zum Dach wuchernden Efeu blitzt hier und da grauer Stein hervor. Das Giebeldach ist mit schwarzen Schindeln gedeckt. Natürlich ist das Gras grün und kurz geschnitten, vielleicht hat man die wenigen rostroten Blätter nur liegen lassen, um Passanten darauf hinzuweisen, dass sich dieses Haus des Herbstes bewusst ist. In der Auffahrt sieht Lola Andreas roten Audi neben einem schwarzen Mercedes SUV.

Die Familienkutsche muss Jacks Wagen sein, denkt Lola. Wahrscheinlich bringt er damit die Kinder in die Schule und ins Training.

Lola bleibt noch kurz in ihrem Auto sitzen. Sie will die Nachbarschaft auskundschaften, auch wenn sie dazu schon ihre Männer abgestellt hat. An beiden Enden der Straße sitzen Jorge, Hector, Marcos und Manuel in zwei verschiedenen Autos, die sie sich aus der illegalen Werkstatt von Jorges Onkel geliehen haben. Sie werden jeden ankommenden Kartell-SUV und jeden Menschen sonst sehen. Lola beobachtet den Straßenzug schon lange genug, um kapiert zu haben, dass alle zehn Minuten ein Streifenwagen des LAPD auf Patrouille durchfährt. Sie vermutet, dass Andrea nicht die höchste Gefährdungsstufe für sich beantragt hat, aber das LAPD scheint entschlossen, die wahrscheinlich nächste District Attorney zu schützen.

Es dauert eine Weile, bis Jack Whitely an die Tür kommt. Als er öffnet, riecht Lola, dass gebacken wird – ein Apfelkuchen vielleicht, aber sie selbst benutzt ihren Ofen zu selten, um sicher zu sein.

»Hallo«, sagt Jack freundlich, aber nicht herzlich. Er ist Ende dreißig, groß und schlank, mit durchdringend blauen Augen und einem netten Lächeln. Ganz klar, er sieht gut aus, und äußerlich passen Andrea und er gut zusammen, aber dennoch fragt sich Lola, ob er sie betrogen hat. Sie hat festgestellt, dass es Männern oft nicht reicht, eine ebenso attraktive Partnerin zu haben, wie sie selbst es sind. Man bringt ihnen schon früh bei, dass sie mehr verdienen.

»Hi«, sagt Lola. »Darf ich reinkommen?«

»Ja, klar, natürlich. Entschuldigen Sie.« Als Jack beiseitetritt, rennt ein großer zotteliger Hütehund auf Lola zu und leckt knapp unter dem Saum ihrer dreiviertellangen Cargohose ihre Waden.

»Dauert auch nicht lang«, sagt Lola und streichelt den Hund, um sich ein wenig in Andreas Diele umsehen zu können. Da ist ein Bild der jungen Andrea mit der unverkennbaren kecken Nase, die lachend ein Baby auf dem Schoß hat – ein Mädchen, das sich mit Händen und Blicken an seine Mutter klammert.

»Sind Ihre Kinder auch da?«, fragt sie Jack.

»Rayna ist oben. Christopher ist … nicht da.«

Lola verschweigt, dass sie das weiß, auch weil sie insgeheim hofft, er würde ihr sagen, dass Andrea auch in diesem Punkt gelogen hat und der Junge, den sie im Krankenhausbett gesehen hat, gar nicht ihr Fleisch und Blut ist.

»Möchten Sie was trinken? Ich kann Ihnen Kaffee anbieten – normal oder koffeinfrei. Auch Tee …«

»Ein Glas Wasser würde mir reichen«, sagt Lola. Jack nickt, dreht sich um und geht in Richtung Küche.

Als er merkt, dass er sie nicht gebeten hat mitzukommen, bleibt er stehen. »Entschuldigung, kommen Sie bitte.«

Lola hat noch nie einen Arzt privat getroffen, wenn man hier von einem privaten Treffen sprechen kann. In ihrer Kindheit waren Arztbesuche eher die Ausnahme. Mit dreizehn hatte ihre Mutter sie in eine Klinik geschickt, wo man nichts zahlen musste. Maria hatte ihr aufgetragen zu sagen, dass sie ihre Periode bekommen und sie einen Freund hat. Beides stimmte zwar nicht, aber ausnahmsweise dachte Maria einmal an die Zukunft ihrer Tochter. Die Ärztin in der Klinik, eine kleine kompakte Latina mit Kurzhaarschnitt, hatte Lola ein paar dürre Fragen gestellt – Größe, Gewicht, Datum der letzten Periode, ob sie schon einmal schwanger gewesen sei –, ehe sie kurz ihren Unterleib untersuchte und ein Rezept ausstellte. Das reichte sie Lola, dann gab sie ihr zum Abschied die Hand. Das alles dauerte gerade mal dreieinhalb Minuten. Lola hatte der Ärztin nur eine Frage stellen wollen: Wie haben Sie es so weit geschafft? College, medizinische Ausbildung, Stift und Rezeptblock – das alles kam ihr wie eine andere Welt vor, weil sie selbst es schon für einen erfolgreichen Tag hielt, wenn sie ihrem Bruder drei Mahlzeiten beschaffen konnte.

Jetzt hält sie es für einen Erfolg, dass sie Lucys Arzt- und Zahnarztbesuche immer sofort bezahlen kann, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden.

Andreas Küche scheint nur aus Granitarbeitsflächen und neuen Fliesen zu bestehen – ein modernes Grau, das in Lolas Kopf die Vorstellung von »reinen Tisch machen« aufruft. Alle Geräte sind aus poliertem Edelstahl. Lola sieht ihr Spiegelbild in der Kühlschranktür: ein scharfgezeichnetes braunes Herz, von kohlschwarzen Haaren gerahmt.

Jack hatte sie erwartet. Sergeant Bubba hatte Andreas Mann darüber informiert, wie beschränkt seine Möglichkeiten als Cop bei Vice sind, falls Andrea tatsächlich nicht freiwillig untergetaucht ist. Lola ist nicht klar, wie viel Jack über die illegalen Tätigkeiten seiner Frau weiß. Weil sie jedoch über Jacks Entzugsklinik regelmäßig Geld wäscht, vermutet sie, er weiß genug, um bei Dingen, die er nicht wissen sollte, lieber beide Augen zuzudrücken.

Jack deutet auf einen der schwarzen Barhocker, die vor dem Tresen stehen. Er hat eine Sitzfläche wie ein halbes Ei.

»Wann haben Sie Ihre Frau zum letzten Mal gesehen?«, fragt Lola, nachdem Jack einen Kaffeebecher vor sie gestellt hat. Er hat vergessen, dass sie ihn um Wasser gebeten hat, aber Lola hält es für unangebracht, ihn darauf hinzuweisen.

»Gestern.« Als Jack das sagt, blickt er über Lola hinweg. Sie dreht sich um und sieht, dass er ein Porträt an der Wand betrachtet.

Das Mädchen darauf ist Andrea, da ist sich Lola sicher. Sie erkennt die kecke Nase, die blasse Haut, die weichen lockigen Haare, die sich um ein süßes Lächeln ringeln. Der Junge neben ihr ist ihr ähnlich, er hat dasselbe Lächeln, das die blassen Gesichtszüge von innen leuchten lässt. Andrea hat die Arme um ihn geschlungen, und seine Wangen sind rot, vielleicht weil er sich für die Liebe der Schwester schämt oder weil der Fotograf diese Liebe so deutlich sehen kann, selbst wenn er durch die Kameralinse blickt.

»Ist das Andreas Bruder?«, fragt Lola.

»Ja«, sagt Jack.

»Lebt er hier in der Gegend?«

»Er ist tot«, sagt Jack. »Verstorben«, berichtigt er sich, so als sei Lola zu empfindlich für die harte Wahrheit. Sie ist dankbar, dass er meint, sie sei dieser Rücksicht würdig. »Es war ein Autounfall.«

»Wann ist das passiert?«

»Kurz nach dem Foto. Ich hab ihn nie kennengelernt.«

Lola hört einen Anflug von Bedauern in Jacks Stimme, ein leichtes Flattern, das jungenhafte Unsicherheit in einem Mann verrät.

»Sie haben in Texas gelebt«, bemerkt Lola.

»Ja.«

»Und ihr Vater?«

»Ich weiß es nicht … sie will nicht über ihn reden.«

Da, denkt Lola, da liegt der Schlüssel zu Andrea, zu ihrem Bedürfnis, häusliche Gewalttäter zu verfolgen und vor allem Kinder vor gewalttätigen Vätern zu beschützen, sich jedoch nicht darum zu scheren, wenn ein Schwarzer mit ein paar Gramm Gras erwischt wird. Andrea muss seit damals alle Kraft darauf verwendet haben, die Macht und Herrschaft der Männer zu brechen, die sie nicht in ihrer Nähe oder gar in ihrer Familie haben wollte.

»Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«

»Gestern«, wiederholt Jack, und jetzt sieht Lola zum ersten Mal ein Anzeichen von Stress bei ihm. Warum soll ich das denn noch mal sagen, muss er sich denken. »Das war der Tag nach der Pressekonferenz … da habe ich Sie schon gesehen. Da waren Sie auch.«

Lola spürt den Blick von Jacks blauen Augen auf sich, die sie jetzt möglicherweise zum ersten Mal genau betrachten.

»Wer sind Sie? Von einem Sicherheitsdienst? Privatdetektivin?«, fragt Jack.

»Hat das Sergeant MacMillan gesagt?«

»Er hat nur gesagt, Sie würden mir helfen, sie zu finden.«

»Das werde ich.«

»Er hat mir auch Ihren Namen gesagt: Lola.« Jack wartet, und Lola weiß, dass er jetzt einen Nachnamen erwartet, vielleicht auch eine Adresse oder wenigstens das Viertel, aus dem sie kommt. Doch sie bleibt ruhig und schweigt.

»Ich finde ehrlich gesagt, dass ich Ihren Nachnamen kennen sollte.«

»Es ist besser, wenn Sie das nicht tun«, sagt Lola.

»Ich bin Arzt. Notfalls kann ich immer sagen, dass Sie eine Patientin von mir sind.«

»Die Leute, die Sie nach mir fragen würden, scheren sich einen Dreck um so was wie Arztgeheimnisse.«

Das muss Jack erst mal verdauen. Mehrfach runzelt er die Stirn, und Lola kann an den blauen Augen ablesen, dass er von den geschäftlichen Verbindungen seiner Frau nicht die geringste Ahnung hat, ob willentlich oder nicht.

»Was macht Ihre Frau denn beruflich?«, fragt Lola.

»Sie ist Staatsanwältin. Im Büro des District Attorney.« Wieder Schweigen. »Müssen Sie sich denn nichts notieren?«

»Nein«, sagt Lola. »Und was noch?«

»Wie, was noch?«

»Macht sie beruflich auch noch was anderes?«

»Nein, natürlich nicht.«

Lola nimmt einen großen Schluck Kaffee. Er ist ausgezeichnet, heiß und stark.

»Wollen Sie damit andeuten, dass sie noch was anderes tut? Etwas, das sie in diese Lage gebracht haben könnte?«

Lola hat die Wahl. Sie kann Andreas Mann die Wahrheit sagen und erzählen, dass sie und seine Frau den größten Drogenring in der Stadt betreiben und die Ober- und Unterschicht genau wie die verschwindende Mittelschicht mit Stoff versorgen. Sie kann ihm vom Rivera-Kartell und dem verbliebenen Gründer berichten, dessen Partner Andrea durch Lola in einem Hochsicherheitsgefängnis hat umbringen lassen. Sie kann ihm gestehen, dass sie Andreas Partnerin ist, obwohl sie ihrem Jungen sein erstes Heroin verkauft hat, und dass er am ehesten durch sie Andrea wiederfindet, bevor diese Kartellidioten sie in Stücke reißen und die Einzelteile in ein Säurefass stecken, so dass er sie nie wird identifizieren können und Rayna und Christopher nie erfahren werden, ob sie tot ist oder lebt.

Stattdessen sagt sie: »Genau das wollte ich von Ihnen wissen.«

»Nein«, sagt Jack und schüttelt den Kopf so heftig, dass Lola eines klar wird: Dieser Mann wollte nichts über die dunklen Seiten seiner Frau erfahren. Sie fragt sich, ob Andrea das Thema je zur Sprache gebracht und Jack sie daraufhin mit seinen himmelblauen Augen ansah und sagte, dass sie zu streng mit sich sei und zu viel arbeite.

»Dad!« Die weibliche Stimme aus dem ersten Stock ist halb fordernd, halb weinerlich. So klingen die weißen Teenager, die Lola aus dem Fernsehen kennt. Sie hat diese Art des Jammerns nie gelernt – es war niemand da, der ihr zugehört hätte, und dann wird Jammern sehr schnell sinnlos.

»Ja, Rayna?«

»Wer ist denn da bei dir?«

Jack wirft Lola einen Blick zu. Sie zuckt mit den Achseln und trinkt einen Schluck Kaffee. Sie weiß nicht, wie sie ihre Beziehung zu Andrea erklären soll. Sie haben sich nie über Berufsbezeichnungen unterhalten oder ihre Arbeitsbeziehung offiziell gemacht.

»Eine Freundin von deiner Mutter«, ruft Jack und sieht Lola unsicher an: Ist das okay? Lola beantwortet seine stumme Frage mit einem Nicken.

Kurz darauf hört Lola Füße in Socken auf hölzernen Treppenstufen tapsen, und Rayna taucht auf. Sie ist groß, ihre dünnen schlaksigen Glieder entziehen sich noch ihrer vollständigen Kontrolle. Eines Tages aber, das kann Lola sehen, wird Rayna die Grazie und die Fähigkeit ihrer Mutter haben, selbst dann verführerisch zu wirken, wenn sie nur nach der Milch für ihren Kaffee greift. In der Überzeugung, die uneingeschränkte Aufmerksamkeit aller zu verdienen, wird sie ohne Selbstzweifel auch mit leiser Stimme sprechen können. Rayna hat braune Haare mit einem Stich ins Rötliche, dieselbe keck nach oben weisende Nase.

»Hey«, sagt Andreas Tochter und geht mit ihren Fohlenbeinen in weißen Socken auf Lola zu. Sie wirft ihre braunen Haare zurück und stelzt weiter zu einer weiß gerahmten Milchglastür. Die Vorratskammer. Als Rayna die Tür öffnet, sieht Lola beschriftete Dosen für Kaffee, Mehl und Zucker. Es gibt eine Batterie Müslis, manche gesüßt, andere mit der Aufschrift »Die volle Kraft des ganzen Korns«. Auf einem Regal stehen Dosentomaten und Bohnen, ein großer Sack Vollkornreis und ein Glas mit Spiralnudeln, die braun eingefärbt Gesundheit signalisieren. Raynas Blick wandert über alles, bis er auf eine Tüte Chips fällt. Sie nimmt sie, reißt sie auf und beginnt zu knuspern.

Lola wirft Jack einen Blick zu, der seinerseits ihre stumme Frage versteht – Weiß Rayna, dass ihre Mutter verschwunden ist? Jack schüttelt den Kopf, und Lola nickt. Es ist besser, Kinder vor der Dunkelheit zu schützen.

»Hast du was von deiner Mutter gehört?«, fragt Jack beiläufig. »Ich würd sie gern fragen, was sie zum Abendessen will.«

»Ich bin doch nicht ihre Aufpasserin.«

Teenager!, denkt Lola.

»Das weiß ich doch«, beschwichtigt Jack in einem Ton, den er vermutlich auch gegenüber seinen Suchtpatienten anschlägt. Eine sanfte Stimme hat noch keinen Junkie besänftigt, und bei einem Teenagermädchen hilft sie auch wenig. »Ich würde nur gern mit ihr sprechen. Hat sie dich nicht angerufen? Oder dir eine Nachricht geschickt?«

»Doch.« Rayna nestelt ein Smartphone aus der Gesäßtasche ihrer Slimfit-Jeans. »Heut früh.«

»Um wie viel Uhr?« Lola wendet sich zum ersten Mal direkt an Andreas Tochter. Rayna hebt den Blick vom Display, um diese fremde Latina anzusehen. Aber die aufmüpfige Frage Was geht Sie das an? bleibt unausgesprochen.

»Rayna«, sagt Jack, und seine Arztstimme gewinnt einen warnenden Unterton, mit der er nach Lolas Vorstellung ins Vaterfach wechselt.

»Zehn Uhr achtunddreißig.«

»Und was hat sie geschrieben?«, hakt Jack nach.

»Dass sie in den nächsten Tagen viel zu tun hat, aber dass sie an mich denkt und mich lieb hat«, fasst Rayna mit verdrehten Augen die Nachricht zusammen. Wenn das Rivera-Kartell Andrea erwischt und gekidnappt hat, um sie zu foltern und zu töten, hat Rayna noch genug Zeit, über ihr Verhältnis zu ihrer Mutter nachzudenken.

»In ein paar Tagen taucht sie schon wieder auf«, sagt Rayna.

»Wie kommst du darauf?«, fragt Lola.

Rayna sieht Jack an, der seiner Tochter zunickt. »Weil sie das vor einer Gerichtsverhandlung immer so macht.«

»Welche Gerichtsverhandlung?« Lola ist beinahe sicher, dass es keine gibt, aber sie möchte wissen, wie viel Rayna von dem Anschlag auf ihre Mutter weiß. Sie versteht, warum Andrea bei sich, in ihrem Refugium mit der ahnungslosen, die Augen verdrehenden Tochter keine Polizei will.

»Weiß nicht. Wahrscheinlich so ein prügelnder Ehemann, der jemanden umgebracht hat.« Bei diesen Worten sieht Rayna Lola durchdringend an. Das Mädchen will herausfinden, ob sie sie schockieren kann. Ach du liebes bisschen, denkt Lola.

»Sie hat Klamotten für eine Woche dabei«, fährt Rayna fort.

»Was für Klamotten?« In Jacks Frage schwingt eine Hoffnung mit, die er bislang verborgen hat.

»Vor allem Freizeitklamotten«, sagt Rayna. »Was ein bisschen komisch ist, wenn’s eine Gerichtsverhandlung ist. Und ihre Joggingschuhe stehen auch noch im Schrank. Das ist genauso komisch, weil sie vor einem Tag bei Gericht immer Laufen geht, um den Kopf frei zu kriegen.«

»Das ist ja schon mal was«, sagt Jack. »Okay … okay.«

Selbstverständlich ist momentan gar nichts okay. Auch Rayna scheint das zu spüren. Sie tritt von einem Fuß auf den anderen, verlagert das Gewicht von einem schlaksigen Fohlenbein auf das andere und legt die halbleere Chipstüte weg. Als sie aufblickt, hat sie Tränen in den Augen.

»Ist mit Mom alles in Ordnung?«, fragt sie.

»Jemand hat auf deine Mutter geschossen, weil sie … in der Stadt eine exponierte Position innehat«, sagt Lola. »Und jetzt hat sie das genau Richtige getan und die Stadt verlassen.«

»He«, protestiert Jack.

»Dad, bitte«, unterbricht ihn Rayna. »Das mit dem Anschlag – das weiß ich doch.«

»Woher?« Jetzt wird Jack zum ersten Mal lauter.

»Das ist nicht so wichtig«, geht Lola dazwischen, weil Rayna erschrocken wirkt, allerdings nicht, weil sie Angst hat, ihr Vater könnte sie schlagen, sondern weil sie diese Seite an ihm nicht kennt.

»Sollen wir’s Christopher sagen?«, fragt Rayna.

»Ja«, sagt Lola.

»Nein«, widerspricht Jack und wirft Lola einen wütenden Blick zu.

»Wenn Sie’s nicht tun, riskieren Sie, dass er es von jemand anderem erfährt. Er ist in Behandlung, nicht tot«, sagt Lola.

Lola weiß, dass sie recht hat. Genau in dem Moment, als Jack zustimmend nickt, hören sie eine Reihe klirrender Explosionen im Wohnzimmer, einem Zimmer, in das Lola nicht gebeten wurde. Doch jetzt sprintet Lola dorthin, während sie Jack und Rayna zuruft, sie sollen in der Küche bleiben und sich auf den Boden legen.

Im Wohnzimmer, einem makellosen Wunder aus weißen Oberflächen und Teakholz, liegt das Panoramafenster in unzählige Splitter zerborsten auf einem Teppich, der Tausende von Dollars gekostet haben muss.