Der Anruf kommt, kurz nachdem Lola ihren Civic über die letzten Bremsschwellen der Westside gelenkt hat. Ihr letzter Gedanke vor dem Handyklingeln war, dass in Huntington Park Autos und Lastwagen, egal ob Kleintransporter oder Schwerlaster, durch Straßen rumpeln, auf denen Kinder herumtollen und sich das Leben abspielt – auf zwei Asphaltbahnen wird seilgehüpft, werden Drogen verkauft und Gespräche geführt von Menschen, die auf engstem Raum zusammenleben. Dann hört sie ihren neuen Klingelton: von der Rapperin Flakiss, die sich in ihren Songs nie dafür rechtfertigt, dass sie eine Frau ist. Lola findet ihre Musik entspannend und anregend zugleich. Der Klingelton gehört zu ihrem persönlichen Handy, nicht zu dem Wegwerfteil, das ebenfalls in ihrer Tasche liegt. Lola kennt die angezeigte Nummer nicht, auch wenn ihr die Vorwahl 323 verrät, dass der Anruf aus Huntington Park kommt … oder aus irgendeiner anderen Enklave in Los Angeles. »Hallo?«
»Miss … Lola?«
»Ja …« Es ist ein vorsichtiges, gedehntes Ja, so als erwarte sie, dass der Anrufer Forderungen stellt und sie sich selbst verleugnen können muss.
»Hier spricht Carmen Zapata. Ich bin Isas Mutter.«
Lola weiß, wer Carmen Zapata ist. Sie hat schon oft mit ihr gesprochen, in der nahen Bodega, wo sie über das verschrumpelte Obst und Gemüse gemäkelt hatten oder auf der Straße, wenn Lola ihren Hund ausführte und Carmen zur Bushaltestelle eilte, um zu einem ihrer drei Jobs zu fahren.
»Ja, Carmen.« Lola spürt das Unbehagen der anderen Frau durch das Telefon. Irgendetwas bedrückt Carmen Zapata, das sie Lola nicht sagen möchte. Lucy. Lolas Herz beginnt so heftig zu klopfen, als wollte es herausspringen. »Geht es um Lucy?«
»Ja.«
Nein! Obwohl sie weiß, dass sie es sollte, fährt Lola nicht rechts ran. Stattdessen spürt sie, wie ihr Fuß fester aufs Gas drückt und ihr großer Zeh sich in die Sohle ihrer Sneakers krallt. Der Civic rauscht über eine Bodenschwelle und hätte beinahe eine schwarze Katze erwischt, die im letzten Moment von der Straße flitzt. Lola reißt das Lenkrad herum, um ihr auszuweichen, und schrappt knapp an einem metallicblau glänzenden Tesla vorbei. Sie wusste gar nicht, dass es die auch in dieser Farbe gibt, und dann staunt sie über sich, dass sie an so etwas denken kann, nachdem Carmen Zapata ihr gerade gesagt hat, dass mit Lucy etwas nicht in Ordnung ist.
»Was ist los?«, fragt sie, als sie rechts ranfährt und die Zufahrt zu einer zweistöckigen Scheußlichkeit im spanischen Stil blockiert.
»Ihr fehlt nichts. Körperlich«, sagt Carmen. Lola fühlt sich wie ein geplatzter Luftballon, der in Gummifetzen zu Boden gefallen ist.
»Aber?«
»Meine Tochter.«
Isa.
»Was ist mit ihr?«
»Wir sind im Krankenhaus. Lucy ist auch da. Du solltest kommen.«
Carmen nennt Lola die Adresse, obwohl sie das Krankenhaus in Huntington Park nur zu gut kennt. Sie braucht zwanzig Minuten bis zu dem flachen Backsteingewirr. Für Lola sieht das Krankenhaus schon immer aus wie eine umfunktionierte Shoppingmall, und vielleicht ist es das auch. Sie parkt und sprintet zum Eingang.
Die Lobby ist eng und niedrig, die Beleuchtung schlecht, und an der Wand über dem Schwesternzimmer hängt eine Uhr, die wie eine Zeitbombe tickt. Ständig klingelt das Telefon. Aus einem Büro ist das Geräusch eines Kopierers zu hören, der fortlaufend Formulare ausspuckt, das Wichtigste bei jeder lebensrettenden Organisation.
Am Empfang sagt Lola, dass sie Isa Zapata besuchen will, aber niemand achtet auf sie. Als eine ältere Latina, deren permanent hochgezogene Augenbraue grundsätzliche Skepsis ausdrückt, schließlich aufmerksam wird und erfährt, dass sie keine Angehörige ist, deutet sie auf eine Reihe billiger Plastikstühle – grellorange, so als wären Gefängnisoveralls eingeschmolzen worden, um daraus Stühle für Krankenhauswartebereiche zu gießen.
Ich sollte ihnen neue Stühle kaufen, denkt Lola, obwohl man sich sicher nicht für Stühle interessiert, wenn man verletzt ist oder auf Nachrichten von einem geliebten Menschen wartet, der verwundet wurde.
Im nächsten Moment gibt es einen kleinen Aufruhr, weil ein Highschool-Schüler mit einer Stichwunde am Oberschenkel in einen Rollstuhl verfrachtet werden soll, der das mit dem letzten Heroismus von jemandem, der gerade ausblutet, ablehnt. Er beschimpft seine Freunde und wehrt sich gegen die Schwestern, während Blut aus der klaffenden Wunde strömt.
»Setz dich, zum Teufel.« Lolas Stimme ist leise und fest. Der Highschool-Junge neigt den Kopf.
»Du …«, sagt er. »Du bist …«
»Ich bin Lola«, sagt sie, und diesmal hält sie niemand auf, als sie um die Ecke geht und auf der Suche nach Lucy, Isa oder Carmen Türen öffnet und hinter Vorhänge blickt. Sie meint, die Gesichter einiger Patienten zu kennen, schließlich sind sie alle Nachbarn. Ein paar von ihnen glauben, sie wäre gekommen, um mit ihnen zu beten oder die Situation in diesem langen Kaninchenbau mit zwei briefmarkengroßen Fenstern pro fünfzig Menschen zu verbessern. Aber da muss sie ihre Leute enttäuschen. Heute ist sie wegen eines persönlichen Notfalls hier.
Isa liegt hinter einem Vorhang, nicht geborgen hinter festen Wänden, um im Stillen zu leiden. Einzelzimmer sind teurer, und Lola ist überzeugt, dass Isas Eltern keine Krankenversicherung haben.
Das Mädchen ist bei Bewusstsein, aber sie atmet schwer. Ihre Eltern stehen mit gefalteten Händen vor ihr, und im ersten Moment glaubt Lola, dass Carmen und Emilio beten. Dann wird ihr klar, dass sie Angst haben, ihre Tochter zu berühren, weil sie nahe daran sind, sie zu verlieren.
Das Ganze ist so traurig, dass Lola nicht stören will. Jedes Wort von ihr wäre unangebracht. Dann entdeckt sie Lucy, die mit hängendem Kopf in einer Ecke des Gevierts aus Stoffwänden auf einem dieser hässlichen orangen Stühle sitzt. Auf ihrem geröteten Gesicht sind noch Spuren getrockneter Tränen.
Auch wenn das nicht ihre Angelegenheit ist, das Mädchen in der Ecke ist es.
Lola zieht es zu Lucy, als wäre ein starkes Seil zwischen ihnen gespannt, und das Gefühl, dass sich etwas an dem Mädchen verändert hat, trifft sie wie ein Schlag in den Magen, der ihr alle Luft nimmt.
»Lola … Miss Vasquez.« Carmen Zapata geht vom Bett ihrer schwer atmenden Tochter zu Lola.
Lola stutzt kurz, als Carmen sie »Miss Vasquez« nennt. Dann fragt sie: »Was ist passiert?« Dabei versucht sie, möglichst ruhig zu klingen, auch wenn ihre Stimme schriller wird, so als wäre sie eine hysterische weiße Mutter, die wohlhabend und nicht daran gewöhnt ist, dass Menschen um sie herum ihr Leben verlieren.
»Sie … meine Tochter …«
»Isa«, sagt Lola.
»Sí, Isa, ja«, fährt Carmen fort und tritt von einem Fuß auf den anderen. Ihr Mann steht schweigend neben Isa, die unter den dünnen Laken ihres klapprigen Krankenhausbetts zu schlafen versucht. »Sie haben miteinander gespielt, Isa und Lucy. Lucy und Isa«, korrigiert sich Carmen. Sie stellt den Namen von Lolas Tochter voran. Lola möchte am liebsten im Boden versinken. Warum tut eine Mutter so was? Den Namen eines fremden Kindes dem des eigenen voranstellen?
»Ja«, sagt Lola ernst, so als würde sie in einem Kreuzverhör auf eine Frage antworten. Nur Ein-Wort-Antworten. Ja oder Nein. Immer die Wahrheit sagen, aber so wenig verraten wie möglich. Und ganz egal, wie man antwortet, es soll Sinn ergeben.
»Isa ist auf das Dach unseres Wohnblocks geklettert. Der ist zwar nicht sehr hoch, nur zwei Stockwerke, aber dann ist sie runtergesprungen.«
»Runtergesprungen?«
»Ja.«
Jetzt weiß Lola, woher ihr flaues Gefühl im Magen stammt. Es ist die Ahnung, dass eine böse Überraschung auf sie wartet. Aus irgendeinem Grund scheut sich Carmen Zapata, Lola zu erzählen, was wirklich passiert ist. Das erste Anzeichen dafür war, dass sie »Miss Vasquez« gesagt hat, das zweite, dass sie Lucys Namen vor den ihrer Tochter gestellt hat.
»Carmen«, sagt Lola. »Ich spür doch, dass du mir was verheimlichst.«
Carmen sieht Lucy an. Die blickt zur Seite.
»Was hat Lucy gemacht?«
Carmen kann Lola nicht in die Augen sehen. Als sie zu flüstern beginnt, wendet sie den Blick sowohl von ihrer Tochter als auch von Lucy, so als möchte sie nicht, dass Isa an das Geschehene erinnert wird.
»Wir sind mit unserer Miete im Rückstand. Ziemlich viel im Rückstand. Wenn wir bis Ende dieser Woche nicht zahlen, müssen wir raus.«
»Das Geld kann ich dir geben. Wie viel brauchst du?« Lola denkt nicht lang über die Dreistigkeit nach, die Carmen Zapata an den Tag legt. Dass sie von Lola Geld fordert, damit sie ihr die Wahrheit erzählt.
»Nein«, sagt Carmen. »Was ich sagen will … Ich will nicht betteln. Das mit dem Geld gehört zur Geschichte.«
Geld für die Miete. Gekündigte Wohnung. Helfen und Beschämen liegen nicht weit auseinander.
»Okay«, sagt Lola.
»Lucy hat zu Isa gesagt, dass sie uns das Geld für die Miete beschafft, wenn Isa vom Dach springt.«
Da ist es. Der Abgrund. Lolas Magen verknotet sich. Sie spürt, dass das Band zwischen ihr und Lucy enger wird, aber keine Verbindung mehr ist, sondern eine Schlinge.
Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen reißt Lucy den Kopf nach oben. Irgendetwas scheint sie zu zwingen, Lola anzusehen. Zum ersten Mal möchte Lola ihre Tochter schlagen, sie den Schmerz fühlen lassen, den sie ihrer Freundin und deren Familie bereitet hat.
»Ach du Scheiße«, murmelt Lola und will hinaus in den Gang. Sie kann der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen, dass ihre reiche Tochter einem armen Mädchen so etwas angetan hat.
»Ja.« Mit diesen Worten berührt Carmen Zapata Lolas Arm. Lola lässt es geschehen, dass Carmen sie auf den Gang führt. Lola reißt die Tür einer Abstellkammer auf, und Carmen folgt ihr. Während sie mit einer Hand Lola stützt, schließt sie mit der anderen die Tür.
Carmen kann nicht viel älter sein als sie, denkt Lola und blickt die Frau mit tränenverschleiertem Blick an. Dann lehnt sie den Kopf gegen Carmens Schulter. Um deren Augen und Mund haben sich erste Falten eingegraben, und ein paar graue Strähnen durchziehen das schwarze Haar. Aber in diesem Moment ist Carmen stärker als Lola, denn sie hat die Macht zu verzeihen.
»Es tut mir leid«, bringt Lola zwischen den Schluchzern hervor.
»Sie ist deine Tochter«, sagt Carmen. »Sie ist nicht du.«
Lola klammert sich an Carmen. Deren Haare riechen nach Fett und Salz, vielleicht arbeitet sie in einer Küche. Oder sie hat nur für ihre Familie gekocht. Hinter den Kochgerüchen liegt jedoch ein beruhigender Duft – vielleicht Lavendel wie in dem Hotel in Jasper? Lola konnte noch nie gut Gerüche erkennen, die mit etwas Gutem zusammenhängen. Sie weiß, wie Blut riecht, leicht metallisch, und sie weiß, wie Scheiße, Pisse und Smog riechen. Die einzigen angenehmen Gerüche, die ihr einfallen, dienen dazu, etwas Verdorbenes zu überdecken, aber dann ist das Verderbliche trotzdem noch da.
»Was kann ich tun?«, fragt Lola.
»Das weiß ich nicht.«
»Bitte.«
»Vielleicht überlegst du dir eine Strafe«, sagt Carmen. »Damit sie so was nicht wieder tut.«
»Und wenn sie trotzdem nicht aufhört? Was, wenn sie ein Monster ist?«
»Du würdest sie trotzdem lieben. Du bist ihre Mutter«, sagt Carmen.
»Hast du das bei Isa auch schon mal gedacht?«
Carmen überlegt, dann schüttelt sie den Kopf. »Nicht bei Isa.«
Lola spürt, wie sich ihr Magen wieder zusammenkrampft.
»Aber bei meinem Sohn. Er macht nur Probleme. Und wenn er in die Pubertät kommt, wird’s sicher noch schlimmer. Ich kann ihn keine Sekunde aus den Augen lassen. Ich glaube, irgendwann macht er uns großen Kummer.«
»Wolltest du ihn schon mal schlagen?«
Wieder macht Carmen eine nachdenkliche Pause. »Ja, das wollte ich.«
»Aber du hast es nicht?«
»Ich stell’s mir vor, aber ich tu es nicht. Das ist der Unterschied zwischen einer guten und einer schlechten Mutter.«
Lola spürt, wie die Spannung von ihr abfällt.
»Bist du so weit, dass du mit deiner Tochter sprechen kannst?«
»Ja«, sagt Lola, und als Carmen die Tür der Abstellkammer öffnet, ist das Licht im Krankenhausgang viel heller.