Die Fahrt vom Krankenhaus zu Lolas Wohnung dauert keine zehn Minuten. Lucy sitzt wie immer auf dem Rücksitz. Sie sieht hinaus in den dunklen Nachthimmel und auf die Häuser mit vergitterten Fenstern. Lolas Blick wandert von der Straße auf ihre Hände, die nicht Lucys Hals, sondern das Lenkrad so fest umklammert halten, dass ihre Knöchel weiß hervortreten. Zum ersten Mal hat sie Angst, allein mit ihrer Tochter zu sein. Sie hat Angst, dass ihr Arbeits-Ich auf ihr Privatleben übergreift.
Zweimal blickt Lola in den Rückspiegel, um ihre Tochter nach dem Warum zu fragen oder zu sagen, dass das nicht die Lucy ist, die sie kennt. Aber das ist das Problematische an einem Trauma. Manchmal kann es Jahre dauern, bevor es sich offenbart. Lola ist seit zwei Jahren Lucys Erziehungsberechtigte. In dieser Zeit begann sich der Missbrauch durch ihre leibliche Mutter Rosie zu offenbaren – die Fäden, die sie ins Wesen ihrer lieben Tochter eingewebt hat, waren dünn, aber kräftig genug, um Hirn, Herz und alle anderen Organe, die Lucy ausmachen, zusammenzuhalten, und vereinten sich allmählich zu einem festen Gewebe.
Lola schweigt, weil sie noch nicht so weit ist, Lucys Antwort zu verdauen, egal wie sie ausfällt. Noch im Krankenhaus hatte Lola auf einem Wegwerfhandy Mandy Waterston angerufen und sie gebeten, sofort neuneinhalbtausend Dollar auf das Konto der Zapatas zu überweisen. Weitere dreitausend Dollar sollten direkt an das Krankenhaus gehen, um Isas Arztrechnung zu bezahlen. Carmen und ihr schweigsamer Mann hatten sich geweigert, Lolas Geld anzunehmen, aber als Carmen kurz auf der Toilette war und ihr Mann losgegangen war, um sich einen scheußlichen Automatenkaffee zu holen, hatte Lola in Carmens Handtasche ein billiges Plastikscheckheft gefunden und ein Foto von einem Scheck gemacht. Die Kontonummer und Bankleitzahl hatte sie an Mandy weitergeleitet. Währenddessen saß Lucy die ganze Zeit still in der Ecke und hielt den Kopf gesenkt. Die Knie hatte sie an die Brust gezogen, so dass ihre Turnschuhe auf der orangen Sitzfläche standen.
»Nimm die Schuhe vom Stuhl«, mahnte Lola. »Sie sind schmutzig.«
Ihr war noch keine angemessene Strafe für Lucy eingefallen und jetzt, auf der Heimfahrt, hat sie immer noch kein Wort mit ihrer Tochter gesprochen.
In der Wohnung wartet das von Maria zubereitete Abendessen. Es gibt Vollkornnudeln – die einzigen, die Lola vorrätig hat – mit Spaghettisoße aus dem Glas. Wenn Maria die Wahl hätte, würde sie immer weiße Nudeln vorziehen. Der unstillbare Appetit auf schlechtes Essen – einzeln in Plastik verpackte, orangegelbe Fabrikkäsescheiben, Käsestangen, fettige Chips mit künstlichem Geschmack, klebrige Süßigkeiten, die noch lange nach dem Verzehr am Gaumen pappen – ist einer der verlässlichsten Charakterzüge von Lolas Mutter.
»Wer will Parmesan?« Maria hält eine grüne Dose mit kleinen Streulöchern in die Höhe und schüttelt sie. Lola hat Maria gebeten, den frischen Parmesan aus dem Käsefach zu nehmen, aber sie sagt nichts. Besser, Maria erfreut sich an der grünen Dose als an einer Injektionsnadel.
»Lucy, magst du was essen?«, fragt Lola. Sie erwartet, dass das Mädchen vor Scham errötet. Sie erwartet, dass Lucy sofort in ihr Zimmer gehen möchte.
»Ja, ich hab Hunger.« Es sind Lucys erste Worte, seit Lola Isas Krankenzimmer betreten hat.
»Gut«, sagt Maria.
Als sie zu dritt am Tisch sitzen, Valentine direkt neben Lucy, bei der es noch wahrscheinlicher ist als bei Maria, dass sie etwas Essen fallenlässt, stellt Maria eine Frage, für die sie bei ihren eigenen Kindern nie nüchtern genug war.
»Wie war’s in der Schule?«
Lola und Lucy verdrehen gleichzeitig die Augen. Diese Frage ist an Dummheit nicht zu übertreffen.
»Heute ist Sonntag«, antwortet Lola für Lucy. Selbst wenn Maria einen anderen Tag erwischt hätte, hätte Lola nicht hören wollen, wie ihre Tochter vom Mittagessen, der Pause oder einem anderen, hoffentlich unschuldigen Schulerlebnis erzählt hätte.
»Oh«, sagt Maria und kippt sich mehr Dosenparmesan auf ihre Nudeln. Lola registriert erstaunt, dass sie ihre Mutter gerade beim Stressessen erlebt. Die Spannung im Raum muss mit Händen zu greifen sein, wenn sogar Maria sie wahrnimmt.
»Ich hab jemand wehgetan«, sagt Lucy.
Maria nickt und schaufelt sich eine Ladung Nudeln in den Mund. Jetzt ist sie bereit und offen für jedwede Horrornachricht von Lucy.
Oh verdammt, denkt Lola. Sie weiß, dass ihre Mutter zu einem Gesprächskreis geht. Es hilft Maria, Rückfälle zu vermeiden, wenn sie für die Treffen Donuts und Kaffee organisieren kann. Natürlich ist Lola froh, dass sich Maria mit anderen Dingen als Heroin beschäftigt.
»Du kannst es mir ruhig erzählen«, sagt Maria.
»Erzähl’s ihr.« Sobald sie es ausgesprochen hat, begreift Lola, dass sie und ihre Mutter dasselbe wollen, nur dass Maria ein geneigtes, offenes Ohr hat, während Lola will, dass Lucy laut und deutlich von ihrer Schuld berichtet und ausspricht, was sie Isa angetan hat.
»Ich hab Isa wehgetan. Sie ist meine Freundin. Ich hab sie dazu gebracht, dass sie von ihrem Hausdach springt.«
Maria verzieht keine Miene. Lola denkt an ihre eigene Reaktion auf diese Nachricht und daran, wie sie wenige Minuten danach heimlich Carmen Zapatas Scheckbuch aufgeschlagen und ein Foto von den Kontodaten gemacht hat.
»Okay«, sagt Maria, und ihre Stimme ist gelassen, beruhigend in der geladenen Atmosphäre der Küche mit dem schäbigen Linoleumboden und dem alten Elektroherd.
»Hast du so was schon mal gemacht, abuela?«, fragt Lucy.
Abuela? Woher zum Teufel hat Lucy dieses Wort? Zum zweiten Mal in zwei Tagen hört Lola, dass Lucy Maria so anredet.
»So was nicht, nein.« Maria schüttelt den Kopf.
»Aber … andere Sachen?«
Lola staunt über den Mut ihrer Tochter, die in aller Unschuld ein Licht auf die Frau wirft, die sie seit Neuestem Großmutter nennt.
Ja, denkt Lola, viele andere Sachen.
»Natürlich«, sagt Maria. »Wir sind alle nur Menschen.«
Wieder verdreht Lola die Augen wie ein Teenager. Aber die Dinge, die Maria getan hat, sind nicht nur ein Grund zum Augenverdrehen. Sie sind auch ein Grund für Traumatisierung und Sucht und ständige Selbstzweifel, die tägliche Überlegung, ob ihr Leben als Drogenboss und Mutter sie am Ende nicht völlig kaputt macht.
Dennoch sitzt sie in diesem Moment mit ihrer Scheißmutter, von der sie dachte, dass sie ihr nie würde verzeihen können, am Küchentisch und isst eine Mahlzeit, die Maria zubereitet hat.
»Willst du noch mehr Käse?«, fragt Maria Lucy, und Lucy nickt.
Lola sieht zu, wie die weißen Bröckchen aus der Dose auf die Soße fallen und Lucy sie vermischt, damit der Käse schmilzt. Sie beobachtet ihre Tochter, die auch nach dem, was sie Isa angetan hat, mit Appetit essen kann. Morgen, das weiß sie, wird sie es bereuen, wenn sie Lucy jetzt bestraft.
Lola steht auf und kratzt die Essensreste von ihrem Teller in den Mülleimer, was Valentine mit einem kläglichen Winseln begleitet.
»Ich muss noch mal raus«, sagt Lola.
»Aber du bist doch grad erst gekommen.«
»Notfall bei der Arbeit«, sagt Lola.
»Du solltest dir eine Jacke überziehen«, ruft Maria Lola hinterher. Eine solche Mahnung wäre bei ihr als Kind angebracht gewesen. Jetzt, mit achtundzwanzig, findet Lola sie überflüssig.
»Mach ich«, sagt Lola. Die Geschichte, wie Lucy Isa dazu gebracht hat, vom Dach zu springen, ist schon in dem großen schwarzen Loch in Marias Gehirn verschwunden. Lola sollte das einfach als menschliche Schwäche akzeptieren, statt über Vergeben und Vergessen nachzudenken. Lucy sieht Lola mit großen Augen an, die Forschheit, mit der sie am Esstisch von Maria Bekenntnisse gefordert hat, ist verschwunden. Sie will, dass Lola ihr sagt, dass sie sie immer noch liebhat.
Lola hat sie noch lieb. Und sie wird es ihr sagen. Aber nicht heute Abend.
Als sie die Wohnungstür öffnet, steht Lucy da. Lola blickt dem Mädchen in die Augen, die in Tränen schwimmen.
»Werd ich je wieder gut sein?«
»Das bist du«, sagt Lola.
Lola breitet die Arme aus und bückt sich, um ihre Tochter zu drücken. Als sie Lucys Tränen auf ihrer nackten Schulter spürt, fällt ihr Marias Mahnung ein, eine Jacke überzuziehen. Gleich darauf merkt sie, dass ihr selbst Tränen in die Augen treten. Sie will sie zurückhalten, aber es gelingt ihr nicht.
»Es tut mir so leid«, sagt Lucy. »Ich weiß nicht, warum ich das gemacht hab. Warum bin ich so böse?«
»Du bist nicht böse«, sagt Lola. »Hat dir das jemand eingeredet? Dass du das mit Isa machen sollst?«
»Charlie«, sagt Lucy. »Sie hat gesagt, wenn ich das nicht tue, dann ruft sie die Polizei, und die schickt mich zurück nach Mexiko.«
Zorn wallt in Lola auf. Sie drückt ihre Wange an Lucys schwarze Haare. Das Atmen fällt ihr schwer.
»Ich hab dich lieb«, sagt Lola endlich. Sie stößt die lange zurückgehaltenen Worte in einem verzweifelten Atemzug heraus. »Und du musst nirgendwohin. Du bist hier genauso zu Hause wie Charlie.«
»Sie sagt, in Mexiko hätte ich keine Mutter mehr.«
»Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Das wird nicht geschehen. Ich bin deine Mutter. Wir leben hier.«
»Huntington Park?«
Lola denkt an das Haus in Venice, ihr Eindringen in die Welt der Charlies, die verstohlen ihre dunkle Haut betrachten und sich dann ein Lächeln ins Gesicht kleistern, Freundlichkeit vorspielen.
»Nicht nur Huntington Park. Los Angeles. Das gehört uns allen. Hier sind wir sicher.«
Lola weiß nicht, welcher Teufel sie reitet, dass sie auch noch den letzten Satz sagt, außer dass sie sich in diesem Augenblick mit Leib und Seele dieser Stadt verbunden fühlt – in der alle Hautfarben und Schichten, das ganze Geld, der ganze Mist, die ganze Kunst über Hunderte Kilometer Freeway verbunden sind, in der sich alle dieselbe dicke Luft aus Autoabgasen teilen – und sie will für jeden einzelnen Menschen kämpfen, der dies sein Zuhause nennt.