32

Fuck

Heute Abend will Lola Andrea unter der Adresse aufsuchen, die sie von Mandy bekommen hat. Aber nach dem Gespräch mit Lucy macht sie zuerst noch Halt in Venice, um Zach zu ficken. Er ist von ihrem Besuch überrascht, aber nicht so, dass er ihr nicht in sein Schlafzimmer im ersten Stock und ins Bett folgt, dessen Holzrahmen zu schlicht ist, um nicht teuer zu sein. Es ist dunkelrot bezogen, eine perfekte Farbe, um Körperflüssigkeiten unsichtbar zu machen. Auf diesen roten Bettlaken besteigt Lola Zach, sein Oberkörper ist frei, und sie wünscht sich, sie könnte das Spiel der Muskeln unter der gebräunten Haut genießen. Er legt seine Hände auf ihre Hüftknochen, während sie ihn reitet. Als sie sich zu ihm nach unten beugt, damit er die Kontrolle übernimmt, drückt er sie wieder nach oben.

»Ich will dich sehen«, sagt er.

Das wirst du, verdammt, denkt Lola, und dann bewegt sie sich wieder in langsamen Kreisen um seinen großen Schwanz – denn natürlich hat er einen großen Schwanz –, bis er sich unter ihr windet und stöhnt und sie schneller kreist. Plötzlich wird Zach still, dann stößt er einen Schrei aus, und Lola fragt sich, ob er vor Schmerz genauso schreien würde wie vor Lust.

»Das war …« Er spricht nicht weiter. Wie jeder Mann, mit dem Lola bisher gefickt hat, kann er danach nicht mehr reden.

Lola könnte, aber sie will nicht. Sie hat einiges vor sich. Sie pinkelt und blickt in den Spiegel. Ihr Gesicht ist noch immer gezeichnet von den Auseinandersetzungen mit dem Killer des Rivera-Kartells und dem Mann, der einmal ihr kleiner Bruder war. Zach hat nicht danach gefragt, weil sie zum Vögeln gekommen ist. Bevor sie sich ankleidet, zieht sie die schweren Vorhänge zurück.

»Vielleicht lässt du die besser zu. Ich hab neugierige Nachbarn.«

»Ach ja?«, fragt Lola mit geneigtem Kopf. Sie steht mit dem nackten Hintern zum Fenster, ihre Brüste zeigen auf Zach, aber so, wie sie ihn gerade geritten hat, hat er keine Kraft für mehr.

»Hm?«, grunzt er in seiner postkoitalen Surferlässigkeit.

»Wo ist deine Tochter?« Lola bringt es nicht über sich, den Namen des Miststücks auszusprechen. Sie steigt wieder ins Bett. Zach drückt sich an sie.

»Bei einer Freundin.«

»Warum? Damit sie noch ein Mädchen terrorisieren kann?«

»Hä?«

Jetzt kommt der schwierigste Teil – ihm in einem Satz zu sagen, was Charlie zu Lucy gesagt hat, und was Lucy von Isa verlangt hat, damit Charlie sie nicht außer Landes schaffen lässt.

»Deine Tochter muss Verantwortung für das übernehmen, was sie tut«, sagt Lola.

Zach setzt sich auf. Die Bettdecke liegt über seinen Eiern. »Das war bestimmt nur Spaß.«

»Nein, das war ganz sicher kein Spaß«, sagt Lola, verkneift sich aber, jedenfalls nicht, wo ich lebe, hinzuzufügen.

»Du hast recht«, sagt Zach, kann sich aber das Grinsen nicht verkneifen.

»Ich weiß«, sagt Lola, und sie wird ihm diese Lektion auch erteilen, weil sie heute Abend begriffen hat, dass er von sich aus nichts kapiert.

Kurz nach Mitternacht verlässt sie den schnarchenden Zach. Laut einer SMS von Maria ist auch Lucy eingeschlafen: »Lucy schläft … zzzzzzz lol.« Lola biegt in Venice dreimal kurz hintereinander ab, um sicherzugehen, dass ihr niemand folgt.

Die Adresse von Andreas Aufenthaltsort, die Mandy Waterston ihr gab, ist Lola nicht vertraut. Es ist irgendwo in South Central, nicht in einem der angrenzenden Viertel wie Lolas Huntington Park.

Lolas Civic rollt durch Compton, das sich von einer No-go-Area zu einem Dorado für Starbucks- und Foot-Locker-Filialen in pastellfarben gestrichenen Ladenzeilen gemausert hat. Wenn Lola es nicht besser wüsste, würde sie die Kreuzung, an der sie jetzt hält, irgendwo in den einladenden Vororten des Simi Valley vermuten, so hübsch und adrett sind die im spanischen Stil gedeckten Hausdächer und cremefarbenen Lehmziegelmauern. Erst als sie von den Durchgangsstraßen abfährt, sieht sie die typischen Zeichen des Ghettos – die tiefergelegten, auf Ziegelsteinen aufgebockten Autos, die an einer Straßenecke zusammenstehenden jungen Männer mit dunkler Haut, die zwar nichts Bedrohliches tun, aber jedem Besucher zu verstehen geben, dass sie ihn beobachten.

An der Adresse, die sie von Mandy bekommen hat, steht ein pfirsichfarbenes Haus. Wie bei allen anderen Häusern in der Umgebung sind die Fenster vergittert. Der Rasen ist verwildert und voller Unkraut. Aus einem der Nachbargärten kommt drohendes Hundegebell. Schon am Klang erkennt Lola den Riesenköter. Es gibt keine Klingel, deswegen klopft Lola an die schäbige Tür. Das Klopfen klingt hohl und dünn, nach billigem Holz.

Ein Latino öffnet ihr. Einer seiner oberen Schneidezähne ist aus Gold, alle anderen Zähne sind echt gelb. Lola erkennt es, weil er bei ihrem Anblick lächelt, so als hätte er sie erwartet.

»Hola«, sagt der Goldzahn, und im ersten Moment meint Lola, er würde sie umarmen. Doch stattdessen macht er einen Schritt zurück. Lola lässt sich nicht lange bitten und folgt ihm hinein.

»Ist Andrea da?«

Lola sieht sich um – dunkler Holzboden, eine Couch mit abgewetztem Blumenbezug, dreckstarrende, fleckige Leinenvorhänge. In dem Zimmer brennt kein Licht, nur der Mond erhellt den großformatigen Fernseher. Er hängt über einem offenen Kamin, der, vermutet Lola, nicht funktioniert. Der Fernseher ist ausgeschaltet, doch noch sind die Pixel auf dem Bildschirm zu erkennen, die so langsam verlöschen wie eine Kerze, über die man ein Glas stülpt. Vor Lolas Eintreffen hat der Mann ferngesehen.

»Ist sie«, antwortet er.

Lola geht zur Küche, er hält sie nicht auf. Der Linoleumboden hat braune Flecken. Hoffentlich nur Kaffee und Fett, denkt Lola. Die Küchengeräte sind alt, der Kühlschrank röchelt.

Sie sieht das Heroin auf dem Küchentisch. Drei Männer sitzen mit Taschenmessern und Plastiktütchen vor einem Haufen weißem Pulver. Als sie Lolas Blick bemerken, nicken sie. Oder senken sie die Köpfe vor ihr? Auf alle Fälle sehen sie in ihr eine Verbündete.

»Da entlang.« Der Mann mit dem Goldzahn bittet Lola, ihm zu folgen.

In dem dunklen Gang hängen auf beiden Seiten goldgerahmte Porträts der Jungfrau Maria und des Jesuskinds. Am Ende sieht sie einen Spiegel, der nur ihre obere Hälfte zeigt. Darunter steht ein kleines Regal mit blinkenden Gebetskerzen, die nicht genug Licht geben, um Lola erkennen zu lassen, wohin sie tritt.

Am Ende des Gangs öffnet der Mann eine Tür und führt Lola in ein Schlafzimmer – ein kleiner rechteckiger Raum, aber wohl größer als die anderen Räume, an denen Lola vorbeigekommen ist. Die Wände sind weiß. Wie in Lolas aktuellem Schlafzimmer hat der Schrank darin zwei verspiegelte Schiebetüren, die ihr Bild zeigen, selbst wenn sie es gar nicht will, wie eine Überwachungskamera mit gestochen scharfer Wiedergabe.

Auf dem gemachten Bett sitzt Andrea mit eng an die Brust gezogenen Knien. Wegen des spärlichen Lichts aus dem Gang kann es Lola nicht mit Sicherheit sagen, aber offenbar schaukelt Andrea hin und her.

Lola geht zu ihr und setzt sich neben sie. Sie will eine Hand von Andreas Knie ziehen und halten, aber Andrea schüttelt heftig den Kopf.

Lola hatte angenommen, dass ihre Partnerin in Sicherheit ist. Vielleicht hatte Mandy das auch angenommen. Vielleicht war sie das auch. Vielleicht aber arbeiten die Männer draußen gar nicht für sie, sondern halten sie gefangen?

»Was haben sie mit dir gemacht?«

Andrea lacht und wirft den Kopf in den Nacken. Was bisher wie eine Geste voll Selbstvertrauen und Machtbewusstsein schien, wirkt jetzt traurig und hoffnungslos.

»Du bist gekommen«, sagt Andrea nur.

»Natürlich bin ich gekommen.«

»Obwohl Hector dich erwischt hat.«

Lola beschließt, Andrea später zu fragen, woher sie über Hector Bescheid weiß. Es könnte eine einfache Erklärung dafür geben – vielleicht steht sie noch in Kontakt mit Jack, oder vielleicht lässt Andrea ihr Haus beobachten und bekommt die Berichte von dort hierher geliefert.

»Ja. Ich würd ja gern sagen, dass die Sache erledigt ist«, sagt Lola. »Aber er ist mir entkommen.«

»Tut mir leid, dass du zu mir nach Hause musstest«, sagt Andrea. Ihre Stimme ist brüchig, fast nur ein Flüstern. »Dass ich dich in Gefahr gebracht habe. Das mit dem Rivera-Kartell … und mit deinem Bruder –«

»Ach, vergiss es«, sagt Lola. »Warum bist du hier?«

Andrea gibt keine Antwort.

»Ich weiß es«, sagt Lola. »Das mit deiner Familie. Dass das Rivera-Kartell deine Eltern und deinen Bruder umgebracht hat. Dass dein Vater ihnen Geld geschuldet hat.«

»Nein.«

»Wegen mir musst du nicht lügen. Wir sind zusammen in diesem Krieg.«

»Dann solltest du auch die Wahrheit kennen.«

»Welche Wahrheit?«

»Dass ich nicht weiß, was ich tun soll. Das heißt, ich weiß genau, was ich tun muss«, flüstert Andrea weiter. Sie spricht so leise, dass sich Lola zu ihr beugen muss. Sie hört nicht Andrea. Sie hört das kleine Mädchen. »Er hat mich gefunden.«

»Wer?«

»Ich zeig’s dir. Ich glaube, das schaff ich.« Andrea steht mit wackligen Beinen vom Bett auf. Sie stakst wie auf Stelzen.

»Pass auf«, sagt Lola und umfasst Andreas spitzen Ellbogen mit der Hand. Lola spürt, dass die blasse Haut dort ganz trocken ist, so als würde Andrea nicht mehr richtig auf sich achten.

Als sie sich gegenüberstehen, sieht Lola Andreas Gesicht. Krähenfüße haben sich tief in die Augenwinkel eingegraben. Ihre grünen Augen sind weit aufgerissen, so als wollte sie Lola sagen, dass sie beide in großer Gefahr sind. Ihre Lippen sind trocken und gesprungen. Sie trägt eine schlabbrige graue Jogginghose, wie es sie im Walmart im Dreierpack gibt, und nicht die enganliegende schwarze Yogahose aus einem guten Sportgeschäft, die nicht unter sechzig Dollar zu haben ist. Auch das T-Shirt ist grau, und Lola entdeckt einen kleinen Flecken auf der linken Brusttasche. Ketchup? Lola kann nicht glauben, dass es Blut ist. Andrea macht sich nicht die Hände schmutzig. Das ist Lolas Job.

Andrea lehnt sich an Lola, weil sie leicht humpelt. Lola hofft, dass das vom zu langen Sitzen kommt. Wie lange sitzt sie schon auf diesem Bett? Saß sie da wie gefesselt, bis Lola kam und sie erlöst hat?

»Hier entlang«, sagt Andrea, ohne dass sie die Richtung weist. Ohne Lolas Unterstützung kann sie sich kaum bewegen.

»Wohin?«

»Nach links.«

Vor der nächsten Tür fragt Lola: »Soll ich sie dir aufmachen?«

Andrea holt tief Luft, und im nächsten Moment lehnt sie den Kopf an Lolas Schulter.

»Ich weiß nicht«, sagt sie. »Ich schaff es nicht.«

»Was ist da drin?«, fragt Lola, obwohl sie nicht sicher ist, ob sie die Antwort hören will.

Wieder lacht Andrea auf und wirft den Kopf in den Nacken. Aus ihrem Mund kommt ein heiseres Krächzen.

»Mach auf.« Andreas Stimme ist immer noch kaum mehr als ein Flüstern.

Sie dreht den Türknauf. Die Tür geht auf. Andrea atmet geräuschvoll ein.

Der Mann auf dem Bett ist der aus dem Grub. Der Mann, der ihr ihren kleinen Bruder wiedergebracht und dafür Garcia mitgenommen hat. Nur dass dieser Mann, der verbliebene Anführer des Rivera-Kartells, jetzt kein Hemd anhat und seine blasse Haut über die längst erschlafften Muskeln hängt.

Lola meint, auf dem Rücken des älteren Mannes wunde Stellen zu sehen, möglicherweise vom zu langen Liegen. Sie hat solche Scheuerstellen schon gesehen, allerdings nicht, weil sie alte Menschen gepflegt hätte, sondern weil Maria sich einmal auf Betreiben der jungen Lola in eine Entziehungsklinik einliefern ließ und sich dort weigerte, sich von einer Seite ihres heroingeschwächten Körpers auf die andere zu drehen. Als daraus schließlich eine durchgehende Wundleiste entstanden war, drehte sie sich bei jedem Besuch von Lola so um, dass sie ihrer Tochter die wunde Stelle präsentierte.

Keuchend steht Andrea in dem düsteren Zimmer. Auch Lola atmet laut aus.

»Der ist das«, sagt sie, erleichtert, weil er der Grund ist, warum sie Krieg führen. Das ist der Mann, der allem Anschein nach Andreas Familie umgebracht und ihren Bruder als Geisel genommen hat. Er ist derjenige, der sterben muss, damit dieser Krieg endet.

»Er ist der Grund, warum ich verschwinden musste«, sagt Andrea.

»Wie heißt er?«

»Wayne.«

»Wo hast du ihn gefunden?«

»Er hat mich gefunden.«

Für einen Moment denkt Lola, sie hat alles missverstanden. Dass Andrea in ihrer Jogginghose und mit den Krähenfüßen hier die Gefangene ist. Dabei scheint sie sich frei im Haus bewegen zu können. Sie darf vom Bett aufstehen und hierher gehen und einen Gast empfangen, den die Männer, die Heroin in Tüten füllen, mit freundlichem Nicken begrüßen.

»Woher kommt er?«

Lola geht davon aus, dass er aus Mexiko kommt. Sie versucht, Andrea nüchterne Fakten zu entlocken, weil sich traumatische Geschichten so meist leichter erzählen lassen. Ja-oder-Nein-Fragen. Konkrete Antworten. Zu welcher Uhrzeit? Wo? An welchem Tag? Welche Kleidung?

Stattdessen sagt Andrea: »Aus Jasper. Meiner Heimatstadt.«

Der Mann sieht auf. Es scheint, als hätte er begriffen, dass die zwei Frauen über ihn sprechen. Das Lächeln, mit dem er Andrea bedenkt, ist ohne Wärme und Zuneigung. Es ist kalt und grausam, er kräuselt seine blutigen Lippen und fletscht die Zähne.

»Kanntest du ihn? Bevor er dich gefunden hat?« Lola tritt näher zu ihm und betrachtet ihn wie ein neugieriges Kind einen Löwen im Zoo. Aber eigentlich möchte sie sein Gesicht besser sehen. Als sich ihre Vermutung bestätigt – die kecke, nach oben zeigende Nase –, weiß sie, wer er ist, ehe Andrea es sagt.

»Er ist mein Vater.«