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Vorleben

Lola sitzt mit Andrea am Küchentisch des Heroinhauses in South Central. Als sie auf die Schwelle der Küchentür traten, räumten die drei Männer das Heroin und alles andere schnell vom Tisch. In wenigen Sekunden entfernten flinke Finger jede Spur des Pulvers von der Tischplatte, dann verschwanden die Männer in einen anderen Winkel des Hauses. Lola hatte vorher nicht auf die andere Tür in der Küche geachtet, die sich in einer Lücke zwischen dem Elektroherd mit einer kaputten Platte und einer Mikrowelle auf einem wackligen Plastikwagen befand.

Beim Eintreten lag der scharfe Geruch von Essig und etwas Verbranntem in der Luft, was Lola verriet, dass die Männer das Heroin auf Reinheit getestet hatten. Jetzt riecht es nur nach abgestandener Luft und üblen Kochdünsten. Andrea hatte versucht, das Fenster über dem Spülbecken zu öffnen, das auf eine Betonwand blickt, aber sie war nicht kräftig genug.

»Sorry«, sagte sie zu Lola, als sie sich auf einen Küchenstuhl fallen ließ. Hatte sie sich für den Geruch einer Substanz entschuldigt, die der Grund sowohl für Lolas Kindheitstrauma als auch für ihre heutige Macht ist, oder dafür, dass sie ein Zimmer weiter ihren eigenen Vater gefangen hält?

Jetzt ist Lola bereit, Andreas Geschichte zu hören.

»Wusstest du, dass dein Vater lebt?«, fängt sie an. Sie denkt an die Gerichtsverhandlung, bei der sie Andrea als Staatsanwältin erlebt hat. Es war ein Fall von häuslicher Gewalt, bei dem das Opfer seine traumatische Geschichte nur in abgebrochenen Sätzen erzählte, bloß mit Ja oder Nein antwortete und nie mehr preisgab, als Andrea von ihr hören wollte. Sie musste dieser Frau eine Stimme verleihen. In dieser dunklen Küche ist genau das Lolas Aufgabe.

»Nein.«

»Wann hast du rausbekommen, dass er nicht tot ist wie der Rest deiner Familie?«

»Kurz bevor mein Sohn … bevor er das Heroin genommen hat.«

Mein Heroin, denkt Lola, aber das ist falsch. Sie sind Partnerinnen. Die Schuld fällt auf sie beide, aber Andrea ist die Mutter des Jungen. Diese Last kann sie nicht schultern, und Lola will das auch nicht zulassen.

»Als er mich gefunden und Kontakt aufgenommen hat. Ich dachte ja, er ist tot.«

»Warum hat ihn das Kartell nicht töten lassen?«

»Weil er wieder für sie Geld verdiente. Dann hat er sich nach oben gearbeitet. Es ist so lange her … offenbar legen alle gern ein Comeback hin. Nicht nur Filmleute.«

»Und du hattest keine Ahnung?«

»Ich wusste absolut nichts, bis er plötzlich aufgekreuzt ist und sich hier ins Geschäft boxen wollte. Auf meine Kosten. Seine Tochter.«

»War er denn nicht froh, dass du noch lebst?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil in jener Nacht nicht das Kartell auf ihn geschossen hatte, sondern ich.«

Lola lehnt sich zurück, um diese Information zu verdauen. Andrea hatte versucht, ihren eigenen Vater zu erschießen. Statt vorschnell Schlüsse zu ziehen, sollte sie nach dem Grund fragen, aber unweigerlich muss sie an Andreas Arbeitsschwerpunkte denken – häusliche Gewalt, Kindesmissbrauch, verschollene Kinder, Ausgebeutete.

»Er war gewalttätig, und du hast ihn getötet.«

»Ich hab’s versucht.«

»Notwehr.«

»Ich hab ihm in den Rücken geschossen«, sagt Andrea und blickt Lola in die Augen. Wie ein Zeuge, der die Geschworenen ansieht.

»Gut«, sagt Lola.

»Aber nicht gut genug. Er muss überlebt haben … Ich weiß nicht, wie … Ich dachte, ich hätte seine Leiche gesehen. Ich dachte, er ist tot. Aber ich … ich hatte einen Schock.«

»Dann bist du nach Los Angeles gekommen?«, fragt Lola.

»Ja.«

»Und hast ganz allein gelebt?«

»Ja.«

Wie?

»Wo war deine Mutter? Hat sie dich nicht beschützt?« Als ob Mütter immer ihre Kinder beschützen. Sie schlägt einen anderen Ton an, wird etwas aggressiver, wie in einem Kreuzverhör, aber manchmal entlockt man jemandem leichter die Wahrheit, wenn man ihn überrumpelt, genau wie sie manchmal Lucy erschreckt, um sie von ihrem Schluckauf zu erlösen.

»Er hat sie umgebracht«, sagt Andrea. Ihre Augen sind auf ihre Hände gerichtet, die Rechte spielt mit dem Ehering an der Linken. »Und dann?«

»Dann hab ich ihn getötet. Beziehungsweise dachte ich das.«

Jetzt sieht Andrea Lola in die Augen. Sie zieht einen Mundwinkel nach oben und atmet hörbar erleichtert aus. Ohne dass es ausgesprochen wird, weiß Lola, dass noch niemand vor ihr diese Geschichte gehört hat.

»Und dein Bruder?«

Andrea schweigt. Sie spielt mit dem Ring, dreht ihn am Finger, der zu dünn ist, um ihn festzuhalten.

»Was ist mit ihm passiert?«, fragt Lola.

»Mein Vater hat ihn totgeprügelt.« Als der Satz aus Andrea herausplatzt wie eine Explosion, begreift Lola, dass sie die Erste ist, mit der diese Frau über ihren Bruder spricht. Andreas Mund steht offen, ihr Atem geht stoßweise. Lola nimmt die Hand ihrer Partnerin.

»Dann bist du hierhergekommen.«

»Dann bin ich hierhergekommen.«

Los Angeles.

»In Texas war ein Mann, der uns töten sollte. Er sagte, er heißt Juan. Er hat alles gesehen. Ich glaube, er war Mitte zwanzig, aber ich bin nicht ganz sicher. Ich war erst zwölf. Er hatte dicke dunkelbraune Haare. Er war ein guter Fälscher. Und damit meine ich nicht nur gefälschte Ausweise und Dokumente, um ein paar Jahre früher zum Examen zugelassen zu werden. Er konnte ganze Leben verändern. Menschen helfen zu verschwinden.«

»Menschen wie dir.«

»Menschen wie mir.«

»Wie hast du ihn bezahlt?«

Andrea funkelt sie wütend an. Diese Frage war überflüssig – das geht Lola nichts an.

»Nicht so, wie du denkst. Überhaupt nicht.«

Lola ärgert sich, dass Andrea ihre Gedanken lesen konnte, aber es überrascht sie nicht. Beide waten beruflich knöcheltief im Dreck, wenngleich auf verschiedenen Seiten des Gesetzes. Natürlich denkt Andrea – genau wie Lola – erst mal das Schlimmste, ehe sie über andere Möglichkeiten nachdenkt.

»Er hat mir das Leben gerettet, ganz ohne Gegenleistung.« Andrea blickt Lola in die Augen. »Ich habe ihn seither nicht mehr gesehen.«

Lola würde gerne fragen, wie ein zwölfjähriges Mädchen mit falscher Identität es in Los Angeles geschafft hat, eine Wohnung zu finden, die Schule zu besuchen und dann Jura zu studieren, wie sie einen Psychiater als Ehemann finden und mit ihm in den Hügeln unter dem Hollywood-Schriftzug eine Familie gründen konnte.

»Im Carpenter District«, sagt Andrea.

»Was?«

»Du willst doch wissen, wie ich das alles geschafft habe. Der Carpenter District gehört zum Vereinigten Schulbezirk von Los Angeles. Die öffentlichen Schulen dort sind so gut wie die privaten. Ich bin dorthin gegangen und hab da gute Freundinnen gefunden.«

»Mandy zum Beispiel.«

»Mandy zum Beispiel. Dann hab ich ein Highschool-Stipendium für die Harvard Westlake bekommen und weitere Stipendien für die Uni und das Jurastudium.«

»Aber dafür waren doch Tausende von Dokumenten nötig, die jemand unterschreiben musste. Und wie hast du überhaupt deine Miete bezahlt?«

»Ich hatte ein winziges Apartment in Studio City. Hab Marken gesammelt. Das war fast wie ein Spiel. Hat Spaß gemacht.«

»Aber irgendwie musst du an Geld gekommen sein?«

»Als ich von zu Hause weg bin, hab ich die Unterlagen meines Vaters mitgenommen. In seinen Geschäftsbüchern hab ich viele zweifelhafte Dinge entdeckt. Damit hab ich seinen Geschäftspartner erpresst, weil ich dachte, dass er das Unternehmen weiterführt. Mein Vater hat mich das glauben lassen.«

»Bis jetzt.«

»Bis jetzt.«

Andrea lächelt Lola an. Es ist ein Lächeln, das ihrem alten ähnelt und Selbstbewusstsein ausstrahlt. So als wüsste sie etwas, was Lola nicht weiß.

»Willst du was trinken?«

Andrea wartet nicht auf Lolas Antwort, sondern nimmt zwei Saftgläser. Die weißen Ränder darauf stammen nicht von Heroin, sondern von den Geschirrspültabs. Sie füllt beide Gläser randvoll mit Tequila und bringt sie an den Tisch.

»Ich weiß wirklich nicht, warum sie diesen billigen Fusel trinken. Sie verdienen genug, um sich was Anständiges zu leisten.«

»Man weiß ja nie, wann der Geldfluss aufhört.«

»Das ist doch klar«, sagt Andrea. »Der hört nie auf.«

Sie stoßen an. Andrea nimmt einen großen Schluck, ohne die Miene zu verziehen, als der scharfe Schnaps ihre Kehle hinunterrinnt. Lola nippt an ihrem Glas und schüttelt sich, das Zeug ist wirklich furchtbar. Bestimmt wird sie schon von diesem winzigen Schluck morgen Kopfweh haben.

»Auf das Ende dieses Kriegs«, sagt Andrea.

Lola fühlt, wie der Tequila ihren Magen umdreht, gerade so, als würde ein gewalttätiger Verwandter betrunken und mit einer Waffe in der Hand an einem Festtagstisch erscheinen. Sie erkennt, wie Teile von Andreas Vergangenheit sich mit ihrer – Lolas – Gegenwart decken.

»Und wie machen wir das?«, fragt Lola, obwohl sie es schon weiß. Stell vor Gericht keine Frage, wenn du die Antwort nicht schon kennst.

»Wir müssen meinen Vater töten«, sagt Andrea.