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Glashäuser

Der Strand ist tiefschwarz, nur die Sandkörner unter Lolas nackten Füßen schimmern schwach. In Malibu, weit nördlich des Santa Monica Pier mit den Touristenhorden, die überall ihren Müll hinterlassen, ist der Sand so sauber und weiß wie die Schaumkronen der Wellen, die hier anbranden und abfließen, anbranden und abfließen. Lola würde gern mit den Füßen ins Meer, aber sie weiß, dass das Wasser zu kalt ist.

Aus den Fenstern des Strandhauses von Andrea und Jack hinter ihr fällt warmes gelbes Licht. Jack ist nicht da. Nur Andrea und ihr Vater sind darin. Lolas Männer – Jorge, Marcos, Manuel und Ramon – lassen den Pacific Coast Highway, der vorne am Haus vorbeiführt, nicht aus den Augen. Lola hört das Rauschen von Autos auf der vierspurigen Straße, auf der reiche Leute zwischen ihren Strandhäusern und der Zivilisation hin- und herfahren.

Andrea hatte mit ihrem Kontaktmann beim Rivera-Kartell, der sich El Médico nennt und mit verzerrter Stimme spricht, telefoniert. Lola hat die Stimme nicht gehört, aber sie ist sicher, dass er kein Arzt ist und seine Berufserfahrung sich vor allem auf das Zufügen von Leid und die Verabreichung von weißem Pulver beschränkt. Andrea hat einen Austausch arrangiert – den Anführer des Kartells gegen das Ende des Kriegs.

Lola wollte, dass das Ganze in der Nähe des Wassers stattfindet, aber erst beim Anblick des Ozeans mit seiner Brandung, die sie sich wilder gewünscht hätte, spürt sie das Adrenalin, nach dem sie sich gesehnt hatte, wie sie zugeben muss. Sie könnte beschließen, sich die Hände nicht selbst schmutzig zu machen, genau wie Andrea, die im Haus auf und ab geht und Angst hat, die Waffe gegen ihren Vater zu richten. Aber sie ist hier draußen, im Dunkeln, mit dem Ozean zu ihren Füßen.

»Lola«, sie hört seine Stimme, ehe sie ihn sieht.

»Dir hat man wohl erst sagen müssen, wo du mich findest?«, fragt Lola. Sie hatte sich geärgert, dass Hector sie nicht schon früher aufgesucht hatte. Er hätte sie leicht aufspüren und ihr zwischen die Augen schießen können, wenn er das wirklich gewollt hätte.

»Ich hab dich die ganze Zeit beobachtet«, sagt Hector.

Als sich Lola zu ihm umdreht, ist er noch zu weit entfernt, als dass sie das bekannte Lächeln auf seinem Gesicht erkennen könnte.

»Außerdem dachte ich, du würdest mich suchen«, sagt Hector. »Nach dem, was ich getan habe.« Das stimmt. Lola hätte die Männer und Mittel gehabt, ihren kleinen Bruder aufzustöbern und ihn für seinen Mordanschlag büßen zu lassen. Warum hat sie es nicht getan? Wollte sie auf Zeit spielen, oder hatte sie Angst vor dem, was sie tun musste, wenn sie ihn fand?

»Warum?«, fragt Lola. Stell keine Frage, wenn du die Antwort nicht schon kennst.

»Du hast mich ans Messer geliefert«, sagt Hector. »Du hast gewusst, was passieren würde, wenn ich den Mann in Locust Ridge töte. Und trotzdem hast du mir den Befehl gegeben.«

Diese Antwort hatte Lola erwartet, aber ihr eigentliches Ziel hat sie erreicht. Hector ist näher gekommen und baut sich vor ihr auf. Er klingt zornig. Schon seit er elf ist, überragt er Lola, aber sie hat keine Angst. Sie reagiert nicht einmal, außer dass sie die Arme vor der Brust verschränkt.

»Kalt hier draußen«, sagt sie.

Die Bemerkung über das Wetter macht ihn noch wütender.

»Du musst Verantwortung für das übernehmen, was du getan hast.«

Lola lächelt ihn an. Es ist ein freundliches, mitleidiges Lächeln, aber ein Teil von ihr ist auch traurig, dass er wie vorgesehen den Köder schluckt.

»Würdest du noch mal versuchen, mich zu töten, Hector?«, fragt sie.

»Könnte ich.«

»Klar.«

Dass sie keinen Widerstand zeigt, ärgert ihn noch mehr. Er tritt so nahe zu ihr, dass sie den leichten Pfefferminzgeruch seines Atems riecht. Als hätte er ein Date und wollte sich für einen unschuldigen Kuss wappnen. Im nächsten Moment hat er die Hände um ihren Hals gelegt und drückt zu.

Lola reißt den Mund auf. Sie bekommt keine Luft, blickt Hector aber weiter in die Augen, damit er sieht, dass sie keine Angst vor ihm hat, auch wenn er mit seinen Händen das Leben aus ihr herauspresst.

Der erste Schuss fällt eine gefühlte Ewigkeit später, als Lola meint, ihr Kopf müsste jeden Augenblick platzen, wenn sie nicht sofort Sauerstoff bekommt. Aber obwohl sich allmählich ein schwarzer Schleier über sie senkt, bekommt sie mit, dass der Schuss hinter Hector abgefeuert wurde und nicht ihr gegolten hat.

Sie ist auf einen Schusswechsel gefasst gewesen. Und doch erschrickt sie, als Hectors Hände von ihr ablassen und er zu Boden fällt. Sie möchte sofort nachsehen, ob ihr kleiner Bruder getroffen wurde, und wenn ja, ob es eine Fleischwunde ist oder ein tödlicher Treffer. Aber ihr ist schwindlig, ihr Kopf dreht sich, darin ist alles so dunkel wie in der Welt um sie herum. Sie sieht, dass Hector mit dem Gesicht auf dem Sand liegt, und für einen Augenblick kann sie ihm keinen Platz in ihrem Leben zuordnen. Wer ist dieser Mann, und warum berührt sie sein Anblick?

Ein paar Atemzüge später fällt es ihr ein – es ist ihr Bruder. Und sie hat sich getäuscht: Er ist nie ein Mann geworden. Er ist immer noch ein kleiner Junge, den sie beschützen muss.

»Hector«, schreit sie und wirft sich auf ihn. Weitere Kugeln pfeifen über sie hinweg, von ihren Leuten und seinen. Ein Krieg tobt über den beiden Geschwistern, die sich schutzsuchend in den Sand pressen.

Lola riecht Salz und Tang. Es fühlt sich beinahe so an, als wären sie und Hector unter Wasser. Die Schüsse, die in der nächtlichen Meeresluft knallen, scheinen von weit her zu kommen. Das Lauteste, was sie hört, ist nicht die Schießerei, sondern das Schluchzen ihres kleinen Bruders, an- und abschwellend wie der tödliche Ozean, der Welle um Welle anbrandet und abfließt.

»Hector«, sagt Lola. »Psst … sie dürfen dich nicht hören.«

Sie sind wieder in der scheußlichen Wohnung ihrer Kindheit mit dem Wohnzimmerschrank, in dem es nach Dosensuppe riecht und der verschwitzten Kleidung ihrer Mutter, wenn sie auf Entzug ist. Sie verstecken sich, damit Maria sie nicht findet. Hector weint, aber nicht aus Angst vor Entdeckung, sondern weil er nicht will, dass die bösen Männer zu seiner Schwester kommen.

Was ist nur mit uns passiert?, will Lola fragen, aber es ist Aufgabe ihres kleinen schluchzenden Bruders, Fragen zu stellen. Ihre ist es, sie zu beantworten.

»Lola, es tut mir leid«, sagt Hector. »Sie sind hinter mir her.«

»Wer?«

»Das Rivera-Kartell. Es … es ist nichts Persönliches … es ist nur … ich hab einen Befehl nicht ausgeführt.«

Lola braucht einen Moment, um zu verstehen, was Hector sagt. Der Anschlag auf sie war nicht seine freie Entscheidung. Er hat ihren Kopf unter Wasser gedrückt und sie zu erwürgen versucht, weil es ein Befehl war. Der Befehl eines anderen.

»Sie haben dich freigelassen, damit du an mich ran konntest.«

»Damit ich dich töte. Und ich … ich hab es nicht geschafft.«

Ein weiterer Schuss fällt, und dieses Mal ist das Geräusch näher. Lola drückt ihren kleinen Bruder in den Sand und schützt ihn mit ihrem Körper.

»Warum?«, fragt Hector unter Tränen.

»Ich weiß es nicht«, sagt Lola. Sie weiß nicht, wie es so weit kommen konnte, dass sie, die sich aneinanderklammern, in einem Kartellkrieg auf verschiedenen Seiten landen konnten.

»Kann ich zurückkommen?«

»Still, Hector«, sagt Lola. »Sie dürfen dich nicht hören.«

Hector unterdrückt ein Schluchzen.

Dann sagt Lola: »Wir müssen aufstehen.«

Sie weiß nicht, ob das die beste Option ist, aber wahrscheinlich lässt sich die Schießerei nur beenden, wenn sie sich selbst in die Schusslinie stellen. Es ist so wie damals, als sie Kinder waren und sich im Schrank versteckten. Irgendwann fingen die Mägen an zu knurren, Hector musste pinkeln, wollte aber nicht in die Hose machen, und Lola wusste, dass sie dem, was hinter der Schranktür auf sie wartete, irgendwann doch ins Auge sehen mussten.

»Ich kann nicht.«

»Ich helf dir.«

»Das darfst du nicht. Nicht vor ihnen.«

»Das lass mal meine Sorge sein.«

Lola stemmt ihren Bruder hoch, legt sich seinen Arm aber nicht über die Schulter, sondern an die Hüfte, so dass es aussieht, als würde er sie stützen.

Sie blickt in beide Richtungen. Hinter ihr stehen ihre Männer mit gezückten Waffen, und, obwohl sie es auf diese Distanz nicht genau sehen kann, ist das Rivera-Kartell anscheinend ein Haufen verdammter Gringos. Sie sind direkt zwischen den Fronten aufgestanden. Das Schießen hat aufgehört.

Plötzlich wird jemand herbeigeschubst. Andreas Vater. Geduscht und in einem weißen Leinenanzug.

Lola spuckt in den Sand. Kindisch, aber so fühlt sie sich heute Nacht.

Marcos und Manuel führen Andreas Vater in die Mitte. Keine Seite feuert einen Schuss ab, weil der weiße Mann wertvoll ist. Lola fragt sich, ob er seine Truppen darüber informiert hat, dass ihr Feind heute nicht die Latina ist, sondern seine eigene Tochter. Andrea hatte den Kartellkrieg begonnen, weil sie ihren Vater bestrafen wollte.

Aber jetzt weiß Andreas Vater, was aus seiner Tochter geworden ist, und nichts kann ihn hindern, dieses Wissen in die Welt hinauszuposaunen, falls er diese Nacht überlebt. Also muss er sterben. Und Andrea wird ihn nicht töten können.

»Alle nehmen die Waffen runter«, befiehlt der weiße Mann mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme, die gerade laut genug ist, um das Meeresrauschen zu übertönen.

Die Weißen gehorchen ihrem Boss, und Lola sieht, dass ihre Männer sie ansehen, ob sie ebenfalls Folge leisten sollen.

»Scheiße, nein«, sagt Lola, weil das Duell ohne Waffen nicht entschieden werden kann.

»Ich will eine friedliche Lösung«, sagt der Weiße, als ginge es nur darum, was er will.

»Erst versprichst du, aus Los Angeles zu verschwinden«, sagt Lola. »Du verziehst dich aus unserem Revier.« »Revier« scheint nicht das richtige Wort für eine so große Stadt, dass man sogar mit dem Flugzeug eine halbe Ewigkeit braucht, um die Stadtgrenzen hinter sich zu lassen.

»Geht in Ordnung«, sagt Andreas Vater. Lola braucht nicht lang zu warten, bis er seine Bedingungen nennt. »Aber ihn nehmen wir mit.«

Er meint Hector. Der liebenswerte Mistkerl von einem Bruder erstarrt neben Lola. Sie denkt, dass Andreas Vater nicht wissen kann, was eben im Sand passierte. Er kann gar nicht wissen, dass Hector sie gebeten hatte, ihn wiederaufzunehmen, und mit diesen Worten gleichzeitig das Rivera-Kartell verriet. Er kann es nicht wissen, und dennoch scheint er es zu tun. Erst jetzt bemerkt Lola, dass sie die Hand ihres Bruders hält und sie vereint gegen die um sie versammelten weißen und Latinosoldaten stehen.

»Nein«, sagt Lola, weil es zu spät ist. Sie kann ihnen Hector nicht überlassen. Sie werden ihn foltern und töten und ihn dann ins Meer oder in ein Säurefass werfen, so dass er nie betrauert werden kann.

Sie muss ihn beschützen, zumindest so lange, bis ihr gemeinsamer äußerer Feind vernichtet ist.

»Das ist nur fair«, sagt Andreas Vater. »Du hast mir nicht den wirklichen Boss gegeben, als ich dir deinen Bruder gegeben hab.«

»Wie?« Dann fällt Lola Garcia ein. Ohne hinzusehen weiß sie, dass die weißen Soldaten die Waffen wieder in Anschlag gebracht haben.

»Jetzt schuldet ihr mir einen von euch. Wenn du mir deinen Bruder nicht geben willst, nehm ich auch einen anderen«, sagt Andreas Vater und nickt erst zu Marcos, dann zu Manuel. Aber weder Marcos noch Manuel haben es verbockt. Hector ist es, der schon bei ihrer ersten Übergabe für das Los-Liones-Kartell die Gang in Gefahr brachte. Hector zwang Lola dazu, Darrel King zu töten. Und Hector wurde zum Verräter, als ihm Andreas Vater viel Geld und viele Frauen in Aussicht stellte, was er mit Sicherheit getan hat, denkt Lola. Erst als Hector mit seiner Schwester im Sand lag und sich vor den Schüssen duckte, wollte er wieder zurück.

Dann sieht Lola sie: im Sand, knapp vor der schäumenden Brandung, die sie jeden Augenblick erfassen kann. Lucy steht in einem Meer von weißen Wellen und Männern. Aber sie haben den Anstand, die Waffen zu senken, als das Mädchen nach vorne geht.

Ohne lange zu überlegen sagt Lola: »Dann nimm ihn.« Mit der eigenen Hand stößt sie ihren Bruder von sich, hin zu Folter und Schmerz.

Hector schüttelt den Kopf. »Lola, tu das nicht.«

»Geh«, sagt Lola.

»Ich kann nicht.«

»Du kannst auf dich selbst aufpassen. Sie nicht. Schau sie dir an.«

Hector blickt zu Lucy. Dann senkt er beschämt den Kopf und geht los.

»Lola.« Manuel, sanft, ehrerbietig. Lola weiß sofort, was er fragt. Was sollen wir mit dem Weißen machen?

»Lasst ihn gehen.«

Marcos und Manuel lassen Andreas Vater los. Das war nicht Teil des Plans, genauso wenig Lucy oder Hectors Bitte, ihn wieder aufzunehmen. Bis zu dieser Nacht wollte Lola nicht sehen, dass Hector in seiner Treue schwankend ist, zappelnd wie ein Fisch an Land, der nur irgendwie zurück ins Wasser möchte.

Lucy setzt so vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als ginge sie auf einem Hochseil, nicht über den festen Sand der kalifornischen Küste.

»Schau mich an«, sagt Lola.

Lucy ist jetzt ganz nahe, nur noch fünf, sechs Meter entfernt, und Lola verspürt den Drang, zu ihr zu laufen. Wenn sie tut, was sich in diesem Moment gut anfühlt, würde sie mit Sicherheit erschossen werden und Lucy hätte keine Mutter mehr.

Sie muss darauf vertrauen, dass Lucy es schafft. Dass sie zu Lola gehen kann.

Plötzlich werden auf der Seite der Weißen die Scheinwerfer von vier Autos angeschaltet. Lola weiß nicht, wie sie hierhergekommen sind, aber jedes Fahrzeug steht an einer Ecke eines imaginären Rechtecks auf dem Strand. Noch ehe sie die Seile sieht, weiß Lola, was das bedeutet.

»Nein!«, schreit sie und läuft los. Ihre Füße graben sich in den Sand, und sie rudert mit den Armen, um schneller voranzukommen. Beinahe stürzt sie, als Schüsse peitschen, mit denen die Männer des Rivera-Kartells sie daran hindern wollen, zu ihrer kleinen Tochter zu laufen. Das Mädchen bleibt stehen, als es den ersten Schuss hört.

»Auf den Boden«, ruft Lola, aber vielleicht ist der Tod durch eine Kugel ein gnädigeres Schicksal als das, was Andreas Vater im Sinn hat.

Lucy sieht im selben Moment wie Lola die vier kreuzförmig ausgelegten Seile, die sich in der Mitte treffen. Jedes ist an einem Auto befestigt.

»Stopp«, sagt Andreas Vater zu Lola.

Lola bleibt nicht stehen.

Der nächste Schuss streift sie an der Schulter. Sie blutet.

»Stopp, oder wir fesseln sie«, sagt Andreas Vater.

Lola bleibt stehen. Lucy sieht ihre Mutter an.

»Komm her«, sagt Lola.

»Aber dann erschießen sie mich«, sagt Lucy.

»Nein«, sagt Lola, »das tun sie nicht.«

»Nicht schön«, sagt Andreas Vater, »wenn einem das eigene Kind nicht gehorcht. Mein kleines Mädchen hat von hinten auf mich geschossen. Wie kann man ihnen erklären, dass das, was man tut, nur zu ihrem Besten ist?«

»Lucy«, sagt Lola, »komm her.«

»Wirst du mich beschützen?«, fragt Lucy.

»Ja.«

»Kannst du es auch?«, hakt Lucy nach.

»Ja«, lügt Lola, weil es wahr wird, wenn Lucy es glaubt.

Das Mädchen macht einen Schritt auf sie zu. Trotz der an den Strand rollenden Wellen hört Lola etwas hinter sich klingeln. Spielen ihr die Ohren einen Streich, oder ist das wirklich ein Alarm?

Noch ein Schritt. Und noch einer. Ein Fuß vor den anderen, bis Lucy Lola erreicht. Die schließt ihre Tochter in die Arme und läuft zu ihren Männern zurück.

»Bringt sie ins Haus«, sagt Lola, nachdem sie Lucy schnell nach Kratzern und Schrammen abgesucht hat – nichts. Die weißen Männer haben sie offenbar anständig behandelt. »Bist du okay?«

Lucy nickt. »Sie haben mir Eis mit Streuseln drauf gegeben.«

»Schön. Prima. Marcos und Manuel gehen jetzt mit dir ins Haus.«

»Jemand sollte bei dir bleiben«, sagt Manuel.

»Nein, das muss ich allein zu Ende bringen.«

»Dann lass ich dir wenigstens meine Waffe da«, sagt Manuel.

Als Lola sie nicht nimmt, legt Manuel sie ihr vor die Füße in den Sand.

Dann sind sie weg. Lola ist allein, vor ihr bereiten die Folterer die Bühne. Seile, ein Rechteck und Hector, der nur ein heller Fleck in der Dunkelheit ist. Aber er scheint zu wissen, was ihn erwartet, denn er ruft verzweifelt ihren Namen: »Lola!«

Sie läuft auf ihn zu, als die Weißen die vier an den Autos befestigten Seile jeweils an ein Hand- oder Fußgelenk binden. Sie wollen ihn in Stücke reißen, so langsam Glied für Glied aus dem Körper reißen, dass es die ganze Nacht dauert.

Das nächste Strandhaus neben dem von Andrea ist gut vierzig Meter entfernt. Von dort ist offenbar keine Hilfe zu erwarten, vielleicht sind die Fenster wie bei Andrea Schallschutzfenster, weil reiche Leute nur ans Meer ziehen, um es auszuschließen.

Sie haben Hector so schnell festgebunden, dass Lola noch mehrere Meter von ihm entfernt ist, als der Weiße nickt. Das Startsignal. Die Motoren werden angelassen, und als die Fahrer das erste Mal Gas geben, schreit Hector auf. Lola stellt sich vor, wie seine Gelenke im Lärm der Motoren und Schmerzensschreie unhörbar krachen und brechen.

»Lola!«, schreit Hector wieder. Oder glaubt sie nur, dass er ihren Namen ruft?

Bei den nächsten Zentimetern, die die Autos weiterfahren, werden Hectors Schreie unmenschlich, ein einziges schrilles, schmerzverzerrtes Kreischen. Lola fängt einen Blick von Andreas Vater auf. Er lächelt, und sein Lächeln ist nicht unfreundlich.

»Willst du mich erschießen?«, fragt er. Erst jetzt merkt Lola, dass sie Manuels Waffe aufgehoben hat und in der Hand hält.

Erneut schreit Hector auf, und inzwischen ist Lola so nahe, dass sie die ausgerenkten Glieder, die gebrochenen Knochen und sogar den Schweiß auf seiner Stirn sieht, so als würde er nicht nur entzweigerissen, sondern auch noch geröstet.

Der Schmerz ist zu groß. Das ist zu viel.

»Ich hab was gefragt«, wiederholt der Weiße. »Willst du mich erschießen? Es ändert nichts, wenn du das tust, sie werden trotzdem weitermachen.«

»Ich weiß«, sagt Lola. Sie hebt die Waffe. Der Weiße zuckt nicht mal mit der Wimper.

Dann schwenkt sie die Waffe nach rechts. Sie ist eine gute Schützin. Sie zielt zwischen die Augen ihres kleinen Bruders und drückt ab.

Gleich darauf hören die Schreie auf. Die Motoren verstummen, ihr kleiner Bruder verstummt.

Das hat Andreas Vater nicht erwartet. Sie richtet die Waffe wieder auf ihn.

»Sie sollen ihn losmachen. Und auf dem Sand liegen lassen. Und dann verpisst ihr euch alle aus meiner Stadt«, sagt Lola.

Erst als sie von der Leiche ihres kleinen Bruders weggeht, bemerkt sie die Sirenen – Wie lange jaulen sie schon? – und sieht, wie ein Heer an Uniformierten mit gezogenen Waffen auf die Männer des Rivera-Kartells zustürmt. Auch Andrea stürzt aus dem Haus. Sie spielt ihre Rolle als schwaches Weibchen mit Bravour. Der graue und der hellbraune Trenchcoat laufen zu den beiden Frauen. Andrea erreicht Lola vor den beiden.

»Alles in Ordnung?«, fragt der hellbraune Trenchcoat.

Der graue Trenchcoat wartet die Antwort nicht ab. Lola sieht die Decke, die er ausgebreitet hält. Sie macht einen Schritt zur Seite, damit er sie um den zukünftigen District Attorney legen kann, aber der graue Trenchcoat folgt ihr und legt die Wärmedecke um Lola. Noch nie hat sich etwas so gut angefühlt.