Lola ist mit Andrea im Bay Cities Deli, aber anders als bei früheren Treffen sitzen sie nicht im Hinterhof. Sie sitzen einander gegenüber an einem Tisch am Lincoln Boulevard. Lola probiert etwas Neues aus – mit Ahornsirup glasierten Truthahn, Havarti-Käse und Chili im italienischen Weißbrot –, denn endlich weiß sie, was Andrea mag, und das will sie auch versuchen.
»Am besten noch ein bisschen salzen und pfeffern«, sagt Andrea. »Das gibt ihm den letzten Pepp.«
Heute isst Lolas Partnerin mit Wonne und beißt so herzhaft ins Sandwich, dass Senf herausquillt. Neben Andrea liegt ein Stapel dünner Servietten, und sie nimmt drei davon und wischt sich den Mund ab. Mit dem Ergebnis, dass der Senf jetzt über beide Mundwinkel verteilt ist.
»Lass mich mal«, sagt Lola, gibt etwas Wasser aus ihrer Flasche auf eine Serviette und tupft Andreas Mund ab – wie bei einem ungeduldigen Kind, das sich nicht beherrschen konnte. Über Selbstbeherrschung hat Lola viel gelernt, seit Lucy in Blooming Gardens ist. Erst vor kurzem wurde Zachs Tochter Charlie von der Schule verwiesen, weil Miss Laura eine anonyme Postsendung mit einer Tonaufnahme erhalten hat. Darauf ist Charlie zu hören, die Lucy und einer anderen Klassenkameradin mit Ausweisung droht. Beim Verkabeln der ahnungslosen Lucy hatte Lola darauf spekuliert, dass Charlie Wiederholungstäterin ist und zu faul, sich eine andere Drohung auszudenken, um Lucy ihren Willen aufzuzwingen.
Charlies Schulverweis veranlasste Susan, für ihre Tochter das alleinige Sorgerecht zu beantragen, und als jemand die Aufnahme der Los Angeles Times zuspielte, blieb das liberale Establishment, das bislang das authentische mexikanische Essen eines weißen Kochs hochgeschätzt hatte, dem El Norte fern. Jetzt gilt er als Rassist und Betrüger. Lola hätte ihn töten können, aber sie beherrschte sich, denn ihr fiel eine viel bessere Strafe ein.
Sie und Andrea haben ihm das Restaurant unterm Hintern weggekauft.
Andrea schüttet ein paar Salt-&-Vinegar-Chips auf die Verpackung, die Lola unter ihrem Sandwich ausgebreitet hat.
»Die kann ich nicht alle essen«, sagt Andrea.
Lola leckt den Salz-Essig-Geschmack von einem Chip und lässt ihn auf der Zunge bitzeln. Ihre Geschmacksknospen schlagen Alarm. Noch nie hat sie so was Leckeres gekostet.
Es ist ein Samstagnachmittag im Dezember. Fast ein Monat ist vergangen, seit Lola Hector getötet und Andreas Vater am Leben gelassen hatte.
Bei der Beerdigung erlebte Lola die Trauer ihrer Mutter, die über Hectors Sarg zusammenbrach. Die Trauerfeier fand in einem Beerdigungsinstitut in Huntington Park statt. Nachdem er wegen der Haft und seiner Abkehr von ihr so lange nicht mehr hier war, war es eine Art Heimkehr.
»Es tut mir so leid«, hatte Lolas Mutter schluchzend über Hectors friedlicher Leiche geflüstert. »Alles, was ich ihr angetan habe … und was du miterleben musstest.«
Mehr hatte sie nicht gesagt, weil die Worte, nach denen sich Lola sehnte, in Tränen untergingen. Am liebsten hätte Lola ihre Mutter an den Schultern gepackt und geschüttelt, bis sie weiterredete. Aber sie beherrschte sich.
Eine junge Frau tritt zu Andrea, die heute ausnahmsweise kein Maßkostüm trägt, sondern eine dunkle Jeans und eine lila Strickjacke.
»Entschuldigung, aber sind Sie nicht Andrea Whitely? Ich habe gerade an der UCLA das Jurastudium begonnen und weiß, dass Sie auch da studiert haben. Ich will Ihnen nur alles Gute für die Wahl wünschen und sagen, dass ich Sie und Ihre Arbeit sehr bewundere.«
Für Lola klingt die Rede einstudiert, auch wenn die Worte in einem einzigen Schwall aus dem Mund der jungen, frischen Frau in Jeans und T-Shirt kommen, die wegen dem schweren Rucksack voller Bücher, der an ihren Schultern hängt, kaum gerade stehen kann.
Über den Tisch hinweg streckt Andrea der errötenden Studentin die Hand entgegen. »Freut mich, Sie kennenzulernen …«
»Candace.«
»Candace.« Als Andrea ihre Hand schüttelt, strahlt Candace über das ganze Gesicht.
Achtundvierzig Stunden nach seiner Verhaftung hatte sich Andreas Vater in seiner Gefängniszelle in Twin Towers erhängt. An jenem Tag hatte er keinen Besuch außer der für seinen Fall zuständigen Staatsanwältin – Andrea Dennison Whitely.
»Das ist Lola Vasquez, wir arbeiten zusammen«, sagt Andrea zu Candace. Die junge Weiße sieht Lola an. Wieder wartet die Jüngere darauf, dass ihr die Ältere die Hand anbietet. Lola tut es.
»Freut mich«, sagt Lola.
»Was machen Sie denn für Miss Whitely?«, fragt Candace. Es ist eine verständliche Frage, die Lola nicht unhöflich findet. Immerhin bewirbt sich Andrea um das Amt des District Attorney von Los Angeles, und in dieser Position hat man niemanden mehr neben sich.
»Ach, so dies und das«, sagt Lola.
»Nein, Candace«, sagt Andrea, »Lola arbeitet nicht für mich, sie arbeitet mit mir.«
»Ach so, Entschuldigung.« Candace sagt das in einem so selbstverständlichen Ton, dass sich die weiße Welt der Westside für Lola zu öffnen scheint wie der Ozean an einem sonnigen Wintertag wie dem heutigen, mit milden zwanzig Grad und einem blauen, nur von kleinen weißen Wolken gesprenkelten Himmel.
»Dann störe ich Sie bei einem Arbeitsessen, oder?«, fragt Candace und legt sich im nächsten Moment die Hand auf den Mund, weil sie merkt, dass sie zu weit gegangen ist.
»Nein«, sagt Andrea. »Ich helfe ihr beim Umzug.«
»Wow, dann müssen Sie ja echt eine gute Freundin sein, Miss Whitely«, sagt Candace.
»Auch das kann ich sein«, lacht Andrea, aber Lola weiß, dass sie keinen Scherz macht.
Andrea war es, die die Geschichte über Zachs rassistische Tochter der Los Angeles Times zugespielt hatte. Andrea wollte auch nicht, dass Lola sich die Hände schmutzig macht und ihren Vater umbringt. Andrea sorgte dafür, dass einer der Handlanger des Rivera-Kartells für den Tod Hectors zur Rechenschaft gezogen wurde. Lola hätte Andrea den Vorwurf machen können, dass sie durch ihr Handeln Hectors Tod erst herbeigeführt hatte, aber in Wirklichkeit hatte Andrea Lola nur das wahre Wesen ihres Bruders vor Augen geführt – dass er ein Verräter und Schwächling war und Lolas Tod wollte.
Dann lud Andrea Lola zu einem Abendessen bei sich ein und stellte ihr ihre Familie vor. Jack mixte für Lola einen seiner berühmten Manhattans; weil Manuel an diesem Abend fuhr, hatte er seinen dankend abgelehnt. Rayna kümmerte sich rührend um Lucy, eine Metamorphose vom verzogenen Teenager zur reizenden großen Schwester, die Lola einerseits beängstigend, für ein Mädchen in Raynas Alter aber auch normal fand.
Auch der frisch aus der Klinik entlassene Christopher war aus seinem Zimmer gekommen, um sich mit der Frau, von der seine Mutter gemeint hatte, er müsse sie kennenlernen, an einen Tisch zu setzen. Er konnte sich nicht an Lola erinnern. Sie streckte ihm die Hand entgegen, und sagte: »Schön, dass ich dich endlich kennenlerne, Christopher. Deine Mutter hat so viel Nettes über dich erzählt.«
Und Andreas Sohn hatte geantwortet: »Ganz meinerseits.«
Jetzt kommt Rayna aus dem Bay Cities und sagt: »Gib mir lieber die Hand, Lucy, auf dem Lincoln Boulevard ist immer so viel Verkehr.«
Lucy gehorcht und blickt sofort nach links und nach rechts, so als wäre die Terrasse von Bay Cities schon die vierspurige Straße.
»Wir haben Hafer-Erdbeer-Riegel gekauft«, verkündet Christopher, während er Lucy auf die Betonbank hilft.
»Für jeden einen«, sagt Lucy.
»Für jeden einen.« Rayna lächelt.
»Aber erst esst ihr eure Sandwiches auf«, sagt Andrea zu ihrer Tochter. In einem pubertären Rückfall verdreht Rayna die Augen, doch als sie Lucys Blick bemerkt, wird sie sofort wieder zum Vorbild.
»Was meinst du, Lucy, essen wir erst die Sandwiches?«, fragt Christopher.
Lucy nickt, als hätte man ihr eine schwierige Frage gestellt. Lola sieht, wie ihre Tochter in das weiße Brot beißt und kaut, und ihr wird ein bisschen mulmig, weil sie Lucy in die Westside verpflanzt hat und Hector nicht mehr da ist. Hector gehörte zu Huntington Park – genau wie das Verstecken im Schrank, um Maria fernzuhalten, das Grübeln über Mathe-Arbeitsblättern an einem abgewetzten Küchentisch, das irgendwie zusammengekratzte Frühstück, damit die Mägen nicht knurrten.
Aber Lola hat es satt, sich schuldig zu fühlen für ihr Glück und für den Tod ihres Bruders. Sie erträgt die guten Wünsche ihrer Nachbarn aus Huntington Park nicht mehr, von Menschen wie Veronica, der besten Freundin ihrer Mutter, die ihr zu jedem Abendessen einen fetttriefenden Auflauf mit zu viel Käse bringt, weil sie weiß, dass Lola viel zu viel um die Ohren hat, um zu kochen. Sie mag sich nicht mehr dafür entschuldigen, dass sie Geld hat, weil sie hart arbeitet, und dass sie mehr aus sich gemacht hat, als je vorgesehen war.
Es ist ein neuer Tag. Ein Tag des Aufbruchs. Der Umzug steht an.
»Und dann brauchst du natürlich einen Inneneinrichter«, sagt Andrea. Und fügt mit leiser Stimme an: »Ich kenne da jemanden. Allerdings war er auf Drogen und könnte rückfällig werden. Ich hoffe, das stört dich nicht?«
»Ach, ich bin da nicht wählerisch«, sagt Lola. Sie merkt, dass sie die Hand auf den Kopf ihrer Tochter gelegt hat und ihre seidigen schwarzen Haare streichelt. Lucy beißt wieder in ihr Sandwich. Und dann noch mal, damit sie eines Tages größer und stärker ist als Lola.
Am Ende ist es das Einzige, was zählt.
Und doch – so privilegiert zu sein, gibt Lolas Herzen einen Stich. Deswegen sagt sie zu Lucy: »Sollen wir heute Abend Isa zum Essen einladen?«
»Ja!«, ruft Lucy und freut sich, ihre Freundin zu treffen. Eine echte Freundin und die, die sie am längsten kennt.
Lola hat keine Freundinnen aus Kindertagen. Für sie war die Kindheit traumatisch und einsam. Sie sieht zu Andrea, die mit besorgtem Blick beobachtet, ob ihre Teenager-Tochter genug Gemüse isst, und die im nächsten Moment lächelt, weil ihr Sohn einen Hafer-Erdbeer-Riegel verschlingt und nicht nach Heroin giert. Dann wendet sie sich mit einem weiteren Ratschlag an Lola: »Außerdem brauchst du natürlich eine Alarmanlage.«
»Kandidiert sie auch für ein Amt?«, fragt Rayna mit ernster Miene.
»Das könnte schon sein«, sagt Andrea in einem Ton, der Lola verrät, dass ihre Freundin das glaubt.