U
m die Wahrheit zu sagen, war ich noch nie das klassische Mädchen gewesen. Eines jener, die sich bei einem Jungen auf den Schoß setzten und mit den Beinen nicht den Boden berührten. Symbolisch gesehen. Ich war niemand, der sich auf andere verließ, solange es nicht die engsten Vertrauten und die Familie war. Und ich war niemand, der es genoss, in Watte gepackt und in Sicherheit gewiegt zu werden.
Aber heute schon.
Dank Cal.
Erstaunlicherweise konnte ich diese Dinge nämlich doch ganz gut. Verwöhnt werden. Genießen. Sich fallen lassen. Es war jener Luxus, der für kein Geld der Welt zu haben war. Ein Urvertrauen, das man nicht kaufen konnte. Das brachte mir der wohl arroganteste und reichste Mann Nevadas in dieser Nacht bei.
Es fühlte sich wahrhaftig an, wie Cal für mich da war, weil er einfach nur da sein wollte.
Nachdem wir in der Dusche beide gekommen waren, wusch er mir die Haare, seifte meinen Körper ein und brachte mich durch seine Finger noch einmal zum Orgasmus. Wenn ich
ehrlich sein sollte, dann dachte ich eigentlich, dass unsere gemeinsame Nacht damit beendet wäre und Cal jetzt verschwinden würde, aber er hatte scheinbar andere Pläne. Er wickelte mich in eines der großen kuschligen Handtücher, trocknete mir die Haare und trug mich dann auf seinen Armen, nackt wie wir beide waren, zu dem riesigen Bett in dieser großen Suite. Trotzdem fühlte ich mich geborgen. Er bettete mich so sanft und hingebungsvoll, als wäre ich eine Königin, die er beschützen musste.
Niemand von uns sprach ein Wort, als er sich neben mich legte, als wäre es das Normalste der Welt. Meinen verwirrten Blick, der eindeutig fragte, was er hier gerade machte, tat er mit einem milden Lächeln ab und zog mich in seine starken Arme.
Und dort lag ich immer noch, als die Sonne durch einen Spalt der geschlossenen Vorhänge blitzte. Ich öffnete blinzelnd die Augen und bewegte mich vorsichtig bei ihm. Hatte ich die letzten Stunden tatsächlich hier mit ihm geschlafen? War ich einfach so ins Land der Träume gesunken – entgegen all meiner Vorsätze, niemals bei oder mit einem Mann zu übernachten?
Gestern Abend war ich offenbar zu schwach, körperlich und emotional zu erledigt gewesen, als dass ich mich dagegen hätte wehren können. Aber heute?
Oh nein, das war keine gute Idee! Ich sollte mir ganz schnell überlegen, wie ich aus dieser Nummer wieder herauskam. Übernachten, ein Bett teilen, kuscheln ... was auch immer, das war nichts für mich. Noch nie gewesen. Auch nicht mit Cal – egal, dass er gestern Abend so einfühlsam gewesen war und in mir die komplette emotionale Bandbreite offenbart hatte.
»Wo willst du hin?«, fragte er mich, spannte die Muskeln an seinem Arm an und hielt mich fest. »Denkst du, du kannst dich davonstehlen, als wärst du eine Affäre?«
Seine Worte ließen mich stutzen. Hatten wir nicht genau
das: eine Affäre?
»Wir können doch nicht ...«, begann ich, jegliche Grundlage der Argumentation verloren. Was war ich noch mal? Anwältin? Eloquent? Gut, dass ich hier kein Plädoyer halten musste.
»Was können wir nicht? Wer entscheidet, Scarlett?« Er betrachtete mich aufmerksam. Cal war wunderschön. Er sah aus wie der Teufel höchstpersönlich. Seine Haare waren verstrubbelt vom Schlafen, seine Augen funkelten wachsam. Die Bartstoppeln um seinen Mund und an seinem Kinn wirkten noch dunkler als gestern und ich streckte die Hand aus, um darüber zu streichen. Ich mochte es, dass er seinen Bart nicht abrasierte, sondern lediglich stutzte und in Form hielt. Er betonte seine Männlichkeit. Nur würde ich ihm das nicht sagen, sein Ego war sowieso schon aufgeblasen genug.
»Es ist nicht richtig«, flüsterte ich und schob die Decke zur Seite. Ein schiefes Grinsen zupfte an seinem Mundwinkel, als er mich packte und auf sich zog. Ich wehrte mich nicht. Wie konnte ich auch?
Er fuhr mit seinen Fingern über meine Brüste, spielte mit meinen Nippeln, die sich längst aufgerichtet hatten. Ich stöhnte und vergaß beinahe, was ich sagen wollte. »Bei mir hat noch nie ein Mann übernachtet und ... das sollte auch so bleiben.«
Er grinste und seine weißen, ebenmäßigen Zähne blitzten mir entgegen. Seine Finger erhöhten den Druck, massierten meine Brüste, stimulierten meine Lust. Ich hockte auf ihm, spürte seinen Schwanz hart und groß an meiner Mitte, und dann begann ich, mich zu bewegen. Langsam. Sinnlich. Verlockend. Cal schien im ersten Moment die Beherrschung zu behalten ... verlor sie aber, als ich mich erhob und ihn mit seiner gesamten Länge in mich aufnahm.
»Weißt du, wenn ich nicht hier bei dir übernachtet hätte ...«, er keuchte, biss sich auf die Unterlippe, da ich meine Muskeln um ihn herum anspannte, um ihn zu reizen, »... dann hättest du dir jetzt nicht das hier holen können.«
Ich legte den Kopf schief, platzierte meine Hände auf seiner Photoshop-Brust und bewegte mich in meinem eigenen Rhythmus. »Du magst recht haben«, erklärte ich zustimmend und seine Hand, die bis eben ruhig hinter seinem Kopf gelegen hatte, fuhr an meine Hüften und krallte sich dort fest, »aber dann hätte ich es mir eben allein gemacht.«
»Du hättest deine Finger und deinen Vibrator mir vorgezogen?« Der Spott stand ihm offen ins Gesicht geschrieben. »Du redest Scheiße!«
»Vielleicht«, seufzte ich und rieb meinen Kitzler. Ich bewegte mich schneller auf und ab, genoss seine Größe, wie er mich dehnte, wie tief er in mir war. »Vielleicht aber auch nicht.«
»Halt einfach die Klappe und nimm dir, was du brauchst.«
»Ich soll dich benutzen?«, fragte ich erstaunt und behielt den schnelleren Rhythmus bei. »Fühlst du dich dann nicht billig?«
»Wenn es das ist, was dir hilft, die Dämonen für den heutigen Tag fernzuhalten, dann nimm es dir.« Er knurrte plötzlich dunkel, richtete sich auf und packte meinen Nacken. Seine Nasenspitze war an meiner, seine Lippen auf meinem Mund, an meinem Hals. Er keuchte. Ich keuchte. Seine Hüften hoben sich an, er kam mir entgegen, passte sich meinem Rhythmus an. »Aber hör auf zu lügen und behaupte nie wieder, dass irgendjemand ... oder dein Vibrator dir das geben könnte, was ich dir geben kann, Babe.« Seine Worte begleitete er mit unnachgiebigen Stößen, die Hand fest an meinem Nacken. Auch wenn ich diejenige war, die ihn ritt, genoss ich seine Dominanz, seine Kraft und wie er mich trotz allem dazu aufforderte, mir zu nehmen, was ich wollte.
Ich liebte, wie ich bei ihm war, wie ich mich fühlte.
Und das war das Problem.
In dem Moment, als wir beide gleichzeitig kamen ... ging weit über die Wellen des Orgasmus hinaus. Ich genoss es nicht nur. Ich mochte es nicht nur.
Ich begann, es zu lieben.
»
G
uten Morgen, Scarlett!«, begrüßte mich Jim mit diesem schleimigen Grinsen, das ich damals in meinem Alkoholrausch aus welchen Gründen auch immer heiß gefunden hatte. »Wann hast du Zeit? Wir sollten unsere Ergebnisse zusammentragen und die Strategie besprechen.«
Nie!
»Heute Nachmittag vielleicht? Das erste Meeting ist erst Ende der Woche, aber ja, wir sollten uns zusammensetzen.«
»Wie wäre es beim Abendessen?«, formulierte er eine ziemlich dreiste Einladung.
»Ich halte das ...«, begann ich und wollte ihm sagen, dass es keine gute Idee sei, gerade im Kontext dieses großen Falls, der für meine und sicherlich auch für seine Zukunft entscheidend war, den professionellen Rahmen zu überschreiten. Aber so weit kam ich nicht.
»Lass mich dir bitte sagen, wie umwerfend schön du heute aussiehst, als wäre kein Tag vergangen.« Das klang, als hätte er mich zwei Jahrzehnte nicht gesehen und wäre darüber erstaunt, dass ich immer noch wusste, wie man sich anzog und schminkte. Ich glaubte nämlich nicht daran, dass es maßgeblich mit der Figur einer Frau zu tun hatte. Meine Freundin Cynthia zum Beispiel, war sehr weiblich und kurvig und ihr rannten jetzt die Männer immer noch sabbernd hinterher, obwohl sie vergeben war.
»Das, was du heute wieder ausgesucht hast ... Hach, dein Outfit ist einfach bezaubernd.«
Ernsthaft? War Jim sicher, dass er nicht doch schwul war? Verwirrt schaute ich von ihm zu mir. Ich trug eine schlichte schwarze Marlene-Hose, dazu ein lockeres Trägertop, dessen
Ausschnitt mit Spitze in der selben Farbe besetzt war. Okay, die schwarzen High Heels waren schon heiß – aber sonst? Meine Haare hatte ich zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden. Keine aufwendige Frisur, nur dezentes Make-up. Denn es war nicht so, als hätte ich heute Morgen sonderlich viel Zeit dafür gehabt, mir ein Outfit zu überlegen. Schon gar nicht für Jim! Der Morgen war ...
»Hörst du mir zu, Scarlett?«, fragte er und ich nickte abwesend. Klar hatte ich ihm zugehört, oder?
Jim rümpfte die Nase. »Ich meine das ernst, du bist wirklich die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe. Neben meiner Mutter und Tante Marcy natürlich, aber du bist in den TOP 3.«
»Wie lieb«, erwiderte ich sarkastisch und sehnte mich nach einer großen Tasse starken Kaffee. »Danke.«
»Und dein Selbstbewusstsein. Ich meine, das ist wirklich sexy, Scarlett. Du weißt immer, was du willst.«
Nein, nicht immer.
»Du nimmst dir, was du willst.«
Ja, neuerdings.
»Und du bist stark, eine Löwin, eine Kämpferin und ...« Er kam ins Stocken. »Du berauschst mich immer noch.«
Ehrlich?
»Jim«, versuchte ich erneut, ihm seine Illusion auf eine Fortsetzung unserer Liaison zu nehmen, aber er hob die Hand und ich schloss den Mund.
»Lass es mich sagen, Scarlett. Ich denke nur noch an dich. Und seit ich weiß, dass du wieder in der Stadt bist, will er ...« Deutete er jetzt tatsächlich auf seinen Schritt? »Kann er nicht mehr aufhören, sein Köpfchen in die Höhe zu strecken.« Er zwinkerte mir zu und ich unterdrückte ein Würgen. War das hier billiges Reality-TV? Heilige Maria! Ich faltete die Hände vor meinem Schoss, da ich drauf und dran war, diesem Wichser eine zu scheuern.
»Komm schon, Scar!«
Bitte? War ich etwa der Scheißlöwe aus dem Disney-Film? Niemand nannte mich Scar
. Das war wohl der dümmste Spitzname der Welt. »Du hast meine Anakonda doch auch geliebt.«
Ach du heilige Scheiße! Seine Anakonda? Wohl eher Blindschleiche.
»Jim«, sagte ich nun in scharfem Tonfall, trat einen Schritt auf ihn zu, um ihm direkt in die blassblauen Augen zu schauen. »Danke für die Komplimente, aber ich möchte weder mit deiner Mutter noch mit deiner Tante Marcy konkurrieren. Zudem habe ich kein Interesse, etwas über den Zustand deines Dings zu erfahren. Es gibt nur einen Grund, warum ich in Vegas bin, und zwar will ich diesen Prozess gewinnen. Können wir uns also auf eine professionelle Zusammenarbeit einigen, die nichts mit Schlangen zu tun hat?«
Jims Mund klappte auf, schloss sich wieder. Kein Wort drang über seine schmalen Lippen. Man sollte nicht meinen, dass er einer der begehrtesten Anwälte in Las Vegas war. Zumindest was Patentrecht anging. Er tat mir fast schon wieder leid, aber ich wollte meine harten Worte nicht abmildern, sonst würde ich ihn ewig an der Backe haben. Nein, ich musste sogar noch einen draufsetzen. »Außerdem bin ich vergeben.« Ich wählte die Worte mit Absicht in dieser Form und sagte nicht, dass ich einen Freund hatte, denn »vergeben« konnte schließlich auch bedeuten, dass ich für eine Affäre vergeben war, also lediglich mit einem anderen Mann vögelte und kein Interesse hatte. Oder? Himmel, jetzt jonglierte ich die Wahrheit hin und her!
Ich räusperte mich und fuhr dann sachlicher fort: »Fakt ist, wir müssen zusammenarbeiten, und das werden wir. Und wir werden diesen Fall auch gewinnen. Ich bitte dich also, davon Abstand zu nehmen, mich einzuladen oder mir Komplimente zu machen und diese eine gemeinsame Nacht endlich zu vergessen. Das zwischen dir und mir war eine einmalige Sache,
Jim. Okay?« Meine Worte schmerzten ihn, aber sie waren hoffentlich deutlich genug. Ich wollte ehrlich nicht, dass er sich noch weiter blamierte. Außerdem brauchte ich meine Ruhe, denn wie es aussah, hielt diese Stadt einiges für mich bereit, mit dem ich niemals gerechnet hätte und das wohl meine ganze private Aufmerksamkeit erfordern würde. Woher stammte nur dieser beschissene Spruch ›Was in Vegas passiert, bleibt in Vegas‹? Scheiße noch mal, ich hatte den Kopf gestrichen voll, da brauchte ich nicht auch noch Jim und seine verwichste Anakonda!
»Ich verstehe«, erklärte er schließlich mit deutlich abgekühlter Stimme. »Kein Abendessen, keine Komplimente und keine Anspielungen mehr.«
»Richtig«, erklärte ich, nickte und war froh, dass ich diese Schlacht für heute scheinbar gewonnen hatte.
»Dann schick mir bitte eine digitale Termineinladung, wann es dir heute Nachmittag am besten passt.« Distanz lag in seiner Stimme und ich atmete dankbar auf. Ich verstand nicht, warum sich Männer wie Jim so dermaßen erniedrigten. Ja, ich wollte manche Dinge auch ziemlich dringend, aber ich würde mich nicht auf die Knie werfen und darum betteln. Nichts anderes hatte er gerade getan. Und das war letztlich nur mein geringstes Problem. Ich stützte eine Hand in meine Hüften und fuhr mir mit der anderen über den Scheitel. Heilige Maria! Was lief schief in diesem Spielernest Vegas? Ich war noch nicht mal eine Woche hier, hatte die heißeste Affäre aller Zeiten und darüber hinaus neuerdings eine Schwester, falls es stimmte, was diese Frau behauptet hatte. Und dann sollte ich einen knallharten Prozess mit meinem winselnden Kollegen gewinnen, der mich genauso hübsch fand wie seine Mom und Tante Marcy. Ich meine, was zur Hölle war das hier für eine gequirlte Scheiße?
Ich griff nach meinem Handy und stellte fest, dass meine Freundinnen sich erkundigten, ob es mir gut ging. Ich lächelte.
Sie hatten ja gestern Abend nur mitbekommen, wie Cal hereingekommen war. Mit einer knappen Antwort teilte ich beiden mit, dass es mir großartig ging. Und Cynthia – sie wäre nicht sie selbst, wenn sie es nicht getan hätte – antwortete postwendend, dass sie froh darüber sei, wie guter Sex meine Laune heben würde. Von Helen kamen nur Lachsmileys und die Info, dass sie in einem Meeting wäre. Welche Art von Meeting, das wollte ich lieber nicht wissen. Meine Freundinnen schienen beruhigt zu sein und Cynthias weiteren Kommentar, in dem sie potenzielle Termine für den Trip nach Las Vegas angab, ignorierte ich geflissentlich. Mein Leben stand kopf, da brauchte ich jetzt nicht auch noch ein Touri-Programm mit meinen Mädels.
Nach dem Sex heute Morgen waren Cal und ich übereingekommen, dass wir es als lockere Affäre laufen lassen würden, allerdings exklusiv. Wenn er in meinem Bett schlief – Sexbeziehung hin oder her –, dann wollte ich nicht, dass er sich nebenbei mit anderen Frauen vergnügte. Er stimmte mir nicht direkt zu, lehnte aber auch nicht ab. Warum ließ er mich in der Schwebe? Vielleicht sollte ich einfach mal überraschend bei ihm im Club auftauchen und mir ansehen, was dort so abging. Eifersucht durchzuckte mich und ich schob dieses neue Gefühl ganz schnell zur Seite. Cal war nicht dieser knallharte Kerl, den er mir glauben machen wollte. Okay, er war schon hart und seine Welt düster, und ich war mir sicher, dass er mehr Frauen unter sich gehabt hatte, als ich überhaupt kannte ... aber er war auch für mich da gewesen, als gestern alles ins Wanken geriet. Ich war ihm dankbar dafür. Und so schlimm war es nicht gewesen, neben ihm aufzuwachen.
Zumindest nicht, wenn das diesen unfassbaren Sex beinhaltete.
V
iel schlimmer war das Thema Melina. Und meine Mutter.
Natürlich hätte ich Mom längst anrufen sollen und sie mit dieser unglaublichen Neuigkeit konfrontieren, aber ich war wie gelähmt. Ich konnte nicht, vielleicht weil ich hoffte, dass es nicht stimmte, was Melina erzählt hatte. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, brachte diese Vermeidungsstrategie null. Ich musste es hinter mich bringen.
Nach einem Blick auf die Uhr ging ich zur Bürotür, die momentan offen stand, und verschloss sie, damit ich in Ruhe telefonieren konnte.
»Mom«, sagte ich und war erstaunt, dass sie noch vor dem ersten Klingeln sofort am Telefon war.
»Scarlett, alles in Ordnung?« Ich schluckte schwer. Wie machte sie das nur, schon nach zwei Sekunden zu wissen, dass etwas los war.
»Ja, es ist alles gut.« Ich hörte, wie sie aufatmete. War es wirklich richtig, das am Telefon zu besprechen? Wäre es nicht besser, anständiger, wenn ich einfach warten würde, bis ich wieder zu Hause war? Es fühlte sich falsch an, ihr dabei nicht in die Augen sehen zu können. »Und bei dir?«, fragte ich unsicher, da ich mir gerade nicht zu helfen wusste. Normalerweise war ich diejenige, die Dinge stets durchdacht anging und niemals impulsiv reagierte. Dieses verdammte Vegas! Es musste die Hitze in dieser beschissenen Stadt sein.
»Alles gut, meine Süße. Wie geht’s dir in Vegas?«
»Ich hasse diese Stadt.« Ich sprach diese Worte resolut, stellte aber gerade fest, dass sich dieser Eindruck langsam wandelte. Hasste ich diese Stadt wirklich? Ich dachte an Cal und seine eindrückliche Beschreibung von Vegas.
»Ich weiß, Darling, aber es ist ja nicht für immer.«
»Ja, zum Glück!« Es fühlte sich seltsam an, das auszusprechen. Was war nur los?
»Wie kommst du mit dem Fall voran?«
»Gut. Es läuft gut. Heute Nachmittag haben wir das erste Meeting. Infos austauschen, bevor es Ende der Woche zum Mandanten geht.«
»Ich habe davon gehört. Der Skandal geht durch die Presse. Ich bin gespannt, wie du die Sache lösen wirst.«
»Wie immer, Mom«, erklärte ich und war froh, dass wir uns auf für mich vertrautem Terrain bewegten, »mit der Wahrheit.«
»Das ist mein Mädchen!« Sie räusperte sich. »Ich habe Helen neulich gesehen. Sie hat zugenommen, oder?«
»Mom!«, rief ich aus. »Ist doch vollkommen egal!«
»Aber sie war immer so süß und klein und zierlich und jetzt ...«
»Mom!«, grätschte ich noch mal dazwischen. Meine Mutter wusste, dass ich es hasste, wenn sie von einem Schönheitsideal anfing, das einfach nur in Zeitschriften existierte. »Lass es!«
»Ich weiß schon, Kindchen, ich darf dazu nichts sagen, aber ich könnte schwören, dass sie nicht nur einen Hamburger zu viel hatte.«
Oder Erdnussbuttersandwich, aber das ging uns einfach nichts an.
»Ich habe hier jemanden kennengelernt«, platzte ich heraus und schloss gequält die Augen. War ich eigentlich bescheuert? Vegas machte mir echt das Hirn weich.
»Ja?«, fragte Mom überrascht. »Ich wusste doch, der Anruf hat einen Grund. Deine Mutter kennt dich, Kindchen.«
»Es ist noch nichts Spruchreifes und es ist kompliziert.« Und das war glatt untertrieben. »Aber er ist sehr nett.«
»Nett?« Ich musste meine Mutter nicht sehen, um zu wissen, dass sie gerade die Nase rümpfte. Ihre Stimme sprach Bände. »Nett ist nicht ausreichend und nicht ansatzweise gut genug für dich.«
»Vergiss, dass ich was gesagt habe, Mom.« Ich starrte auf
meinen Computer und fragte mich abwesend, weshalb ich Melina noch nicht gegoogelt hatte. Vielleicht könnte ich mir so diesen Affentanz hier ersparen. »Ich muss Schluss machen, Mom. Eine Kollegin steht im Büro, die Arbeit ruft.« Die Lüge kam mir ganz leicht über die Lippen. Okay, eine winzig kleine Notlüge. Trotzdem, verfluchtes Vegas!
»Gut, mein Kind. Aber sag mir, sobald es etwas Neues gibt. Schick mir doch ein Foto dieses netten Mannes.«
Sicher nicht.
»Ach, und Kindchen ... ich würde mich sehr freuen, wenn du mich auf meine alten Tage endlich zur Großmutter machst.«
»Mom!«, sagte ich augenrollend. »Du bist gerade mal fünfzig, stehst voll im Berufsleben und ...«
»Ja, ich war so jung damals. Als ich dich bekam, hatte ich keine Wahl.«
Doch, du hättest verhüten können!
Nein, das würde ich ihr niemals sagen. Sie war meine Mom und ich liebte sie. Auch wenn ich bei einem One-Night-Stand entstanden und sie sehr jung gewesen war, bedeutete es nicht, dass sie mir nicht alles gegeben und ermöglicht hatte. Allerdings waren da auch Grandma und Grandpa gewesen, die dabei geholfen hatten, mich großzuziehen, damit sie ihr Studium abschließen und in einer Kanzlei einsteigen konnte. Meine Mutter sagte immer, man bräuchte nur einen Menschen, der einem eine Chance gab, dann konnte man alles erreichen. Sie war der beste Beweis dafür.
»Mom, ich kann dir versichern, dass ich so bald nicht schwanger werde. Das ist so klar, wie morgen die Sonne wieder am Himmel stehen wird.«
Oder Las Vegas ätzend ist.
»Wir werden ja sehen ...«, murmelte sie abwesend. »Melde dich bald und denk daran, dass ich keine uralte Granny sein möchte.«
»MOM!«
»Wie auch immer, Kindchen. Ich vermisse dich und drück dich aus der Ferne.«
»Ich vermisse dich auch.«
Wir beendeten das Telefonat und ich starrte noch eine Weile nachdenklich auf mein Handy. Meine Mutter hatte alles, wirklich alles, allein meistern müssen. So wie auch Melina. Gestern hatte mir meine vermeintliche Schwester von ihrem kleinen Sohn erzählt, der Jace hieß und auf den eine Nanny aufpasste, wenn sie arbeiten ging. Auf meine Frage, was genau sie denn arbeiten würde, hatte sie mir geantwortet, dass sie im Kundenservice tätig war. Eine ziemlich vage Beschreibung.
Deshalb öffnete ich jetzt die Google-
Seite und der Cursor wartete darauf, dass ich etwas eingab. Es fühlte sich seltsam an, als meine Finger ihren Namen eintippten ›Melina O’Brien‹. Gespannt schaute ich auf die Suchergebnisse, dachte darüber nach, mich bei Facebook einzuloggen, um dort ihr Profil unter die Lupe zu nehmen, aber ich wurde enttäuscht. Es gab nicht ein einziges Ergebnis. Außer zu einer Melina O’Brien, die aus Irland stammte und mit ihrem Ziegenkäse berühmt geworden war. Frustriert lehnte ich mich in meinem Bürostuhl zurück. Ich wusste nicht genau, was ich erwartet oder mir erhofft hatte, aber sicherlich mehr als dieses Nichts. Melina O’Brien tauchte nicht bei Google auf. Ob das nun gut oder schlecht war, stand auf einem anderen Blatt, aber definitiv war es seltsam.
Ich legte einen Zeigefinger an meine Lippen und starrte auf den Bildschirm. Wenn sie das nächste Mal hier war, und wir wollten uns noch einmal treffen, dann würde ich sie nach ihrem Ausweis fragen. Sicher war sicher. Nur für alle Fälle.
Seufzend wollte ich gerade den Browser schließen und mich damit zufriedengeben, als meine Finger wie von selbst erneut auf der Tastatur landeten und weitere Buchstaben tippten.