12
Cal
» S carlett, es ist nicht, wie du denkst!«, sagte ich mit ruhiger Stimme und unterdrückte mühsam das Verlangen, Jim meine Waffe an den Kopf zu halten.
»Ach nein?«, fragte sie und Jim grinste breit. Vielleicht würde ich sie ihm nicht nur an den Kopf halten, sondern sogar abdrücken. »Wie ist es denn dann?«
»Bitte komm mit und lass es mich erklären!«
»Ja, Scarlett, geh mit ihm mit und lass es dir erklären.« Vielleicht würde ich ihm nicht in den Kopf schießen, das war zu leicht. Vielleicht würde ich ihm in den Bauch schießen, beide Beine brechen und ihn langsam und qualvoll ausbluten lassen.
Scarlett kam auf uns zu, witternd wie eine Katze. Ihr Blick lag voller Abscheu auf Jim. »Ich wusste es, dass du irgendeine Scheiße im Schilde führst. Ich wusste es einfach!« Hasserfüllt sah sie ihn an, und wäre es eine andere Situation gewesen, wäre ich vermutlich stolz auf sie. Sie war wahrlich eine Underground Princess. Das, was ein jeder Mann in Las Vegas, der mit dem Gesetz in Konflikt kam, an seiner Seite wollte, brauchte, haben musste.
»Du musst nicht glauben, dass ich dir das vergebe, Cal!«, sprach sie nun an mich gerichtet.
»Es ist nicht so, wie du denkst«, erklärte ich noch einmal mit mehr Nachdruck. »Ich erzähle es dir, ohne Ausflüchte, ohne Lügen.«
»Lass mich in Ruhe. Ich will deinen Scheiß nicht hören. Ernsthaft, es reicht!« Sie warf mir einen bitteren Blick zu und knallte ihren Daumen auf den Knopf des Fahrstuhls. Sie ignorierte, wie Jim irre grinste. Ich hasste diesen Wichser. Ja, qualvoll ausbluten lassen, das wäre es.
»Ich meine es ernst, Cal!« Ihre Stimme klang weder wütend noch zornig. Sie wurde nicht laut, sie klang einfach enttäuscht.
»Scarlett«, sagte ich und hielt sie am Handgelenk fest, als sich die Türen des Fahrstuhls zur Seite schoben. »Bitte!«
Bedeutungsvoll, genauso wie an jenem Abend, als ich sie bat, nicht mit ihren Freundinnen auszugehen, sah sie auf meine Finger, die sie umklammert hielten. Wie ein liebeskranker Trottel ließ ich sie los, war getroffen von ihrem kalten Gesichtsausdruck und beobachtete, wie sich die Türen schlossen. Es dauerte nur einen Atemzug lang und ich stürmte zum Treppenhaus, schoss die Stufen hinunter, um sie einzuholen. Solange sie nicht wusste, wie die Sache aussah, war es nicht fair, voreilige Schlüsse zu ziehen. Das machte mich wütend, weil es nicht zu Scarlett Preston passte. Ich verbarg einiges und ja, vielleicht hatte ich auch schon gelogen, aber sie regte sich über Dinge auf, die überflüssig waren. Hätte Scarlett nämlich ihre Hausaufgaben gemacht, dann wüsste sie, dass ich im Aufsichtsrat saß. Und sie wüsste auch, wieso.
»Scarlett«, donnerte ich also, als wir beide auf dem Gehsteig standen. »Herrgott, Scarlett!«, rief ich, spurtete los und holte sie mit zwei langen Schritten ein.
»Was?«, rief sie und verlor die Beherrschung. »Was willst du von mir, Cal?«
»Ich will, dass du es mich erklären lässt!«
»Was gibt es zu erklären? Du bist im Aufsichtsrat von Nevada Pharmaceutics , du bist der Vorstandsvorsitzende und hast das Zepter in der Hand!«
»Ja und?«
»Siehst du nicht diesen Interessenkonflikt?«
Scheiße, so weit hatte ich nicht gedacht.
»Ganz zu schweigen davon, dass du mich schon wieder angelogen hast!«
»Ich habe dich nicht angelogen. Ich habe es nicht erzählt, da ist ein Unterschied!«
»Und warum?« Ihre Stimme war nun wieder ganz leise, die Passanten gingen kopfschüttelnd weiter. Toll, die letzten Jahre hatte ich es geschafft, nicht negativ in der Presse aufzufallen, und Scarlett schaffte es jeden Tag mit etwas anderem.
»Warum hast du es nicht einfach erzählt?«
»Nicht hier«, sagte ich leise. »Bitte!« Mein Wagen hielt neben uns und ich öffnete ihr die Tür. Bo war der Fahrer und ich wusste, er würde keine dummen Fragen stellen, zumindest nicht jetzt. »Bitte steig ein!«, setzte ich nach. Seufzend drehte sich Scarlett um und kroch in das Innere des Wagens. Ich folgte ihr und schloss die Tür der Limousine.
»Ein Drink?«, fragte ich, Bo verriegelte und fuhr an. Mit einem Knopfdruck ließ ich die Trennscheibe nach oben fahren. Er musste nicht alles wissen.
»Nein. Ich will eine Antwort, warum du mich belogen hast.«
»Ich habe dich nicht belogen, Scarlett. Ich habe es dir nicht erzählt, weil ich es nicht für wichtig hielt.«
»Du wusstest, dass ich wegen eines großen Falls in der Stadt bin, der ausschlaggebend ist für meine Karriere.«
»Ja, das wusste ich. Aber ich wusste nicht, dass es dabei um Nevada Pharmaceutics geht. Ich wusste bis vor zwei Wochen, als ich hier war, um mit Mr. Pete zu sprechen, nicht einmal, dass du direkt involviert bist.«
»Und dann hast du es nicht für nötig gehalten, mich darüber zu informieren, nachdem es dir bekannt war?«
»Ich wollte keine schlafenden Hunde wecken. Genau aus dem Grund, aus dem wir jetzt hier streiten.«
»Das ist ein Interessenkonflikt, ich kann dich nicht weiter vertreten.«
»Wenn man es genau nimmt, dann schon.«
»Ach so?«, fragte sie spöttisch. »Ich will das aber nicht.«
»Scarlett, bitte, du musst uns helfen!«
»Das hättest du dir überlegen müssen, bevor du mich wieder angelogen hast.« Sie sah mir fest in die Augen. »Du hast mir erzählt, dass du dich in mich verliebt hast, Cal. Dass du das mit mir wirklich probieren willst und ich habe mich darauf eingelassen, obwohl ich mich noch auf niemanden eingelassen habe. Und jetzt finde ich heraus, dass du mir elementare Dinge verheimlichst. Meine Karriere ist am Arsch! Und meine Statistik für ernsthafte Beziehungen auch.«
»Scarlett, ich habe die Firma erst vor drei Wochen übernommen. Da warst du schon an dem Fall dran.«
»Du hast die Firma erst dann übernommen?«, fragte sie und hob die Brauen. »Wieso ist mir das entgangen?«
»Das weiß ich nicht, vermutlich warst du abgelenkt.«
»Ja, scheiße! Ein Grund mehr, warum ich die Namenspartnerschaft nicht verdient habe.«
Ich ging nicht weiter auf ihre Worte ein, sondern erklärte: »Dieses Medikament, das Nevada Pharmaceutics herstellt, ist lebenswichtig. Vielleicht nicht für dich, vielleicht nicht für mich, aber für viele Menschen in meinem Umfeld.«
»Ich verstehe nicht«, begann sie vorsichtig. Erleichtert stellte ich fest, dass Scarlett ihren verkrampften Muskeln nachgab, damit sie wieder einigermaßen atmen konnte.
»Schau, es ist eine Art Kreislauf. Meine Mom, Gott hab sie selig, war die Vorsitzende des Frauenbundes in Las Vegas. Dazu gehören Frauenhäuser, Mutter-Kind-Einrichtungen, Obdachlosenheime und all so was. Sie war diejenige in unserer Familie, die das Geld, das mein Großvater, Vater und auch ich angehäuft hatten, in etwas Gutes verwandelte. Zuerst sah ich es wie mein Dad, dass es sie ruhigstellte, dass sie, wenn sie eine Aufgabe hatte, nicht so genau hinsehen würde, was wir so trieben. Denn immerhin kann man das Ausmaß, das unsere Aktivitäten angenommen hatte, irgendwann nicht mehr schönreden. Na ja, wie auch immer. Meine Mom kümmerte sich um die Frauen, die hier niemanden hatten. Es waren auch Frauen dabei, die drogensüchtig waren. Und bei Gott, wir leben in Las Vegas, du wärst erschüttert über die Dunkelziffer an Frauen, die dazu gezwungen werden, ihren Körper zu verkaufen, zu strippen oder sich anderweitig dem Abschaum zur Verfügung zu stellen. Entweder, weil sie bereits drogensüchtig sind, oder aber sie werden abhängig gemacht.«
Ich betrachtete Scarlett aufmerksam und sie sah mich an, sie hörte zu, sie hörte tatsächlich mich, die Vision meiner Mom, uns. »Dann hat Nevada Pharmaceutics ein Medikament entwickeln können, das zum einen ein Drogenersatzstoff ist und zum anderen Schwangeren nicht schadet. Frag mich nicht, wie genau die Wissenschaft dieses Wunder umgesetzt hat, aber es funktionierte. Schwangere Drogensüchtige mussten also nicht mehr um ihr Kind bangen, sondern sie schafften es, mit dem Ersatzstoff ihre Kinder auf die Welt zu bringen und die ersten Monate bereits einen Entzug überstanden zu haben. Dafür nutzte meine Mom einen erheblichen Teil unseres Geldes.« Ich fuhr mir durch mein sowieso schon zerzaustes Haar. »Sie bewirkte Gutes, Scarlett. Sie bewirkte viel Gutes und wir alle waren stolz. Dann erschien ein weiteres Medikament, das wesentlich billiger war, aber fast identische Inhaltsstoffe hatte, nur kann es das ungeborene Baby nicht schützen.«
»Verstehe. Das Medikament war billiger und da das Gesundheitssystem in den USA sowieso schon am Boden ist ...«
»... beziehungsweise nicht vorhanden ist, wurde das Medikament der Überflieger.« Ich nickte zustimmend. »Wir fanden heraus, dass jemand die Rezeptur geklaut haben musste. Das hat mir einer meiner Kontakte im hiesigen Patentamt verraten.«
»Scheiße!«
»Zu dem Zeitpunkt waren die Umsätze bei Nevada Pharmaceutics aber schon massiv zurückgegangen, dass die Finanzlücke mit Spendengeldern nicht mehr zu überbrücken war.«
»Also hast du dich bereiterklärt, die Anteile zu kaufen.«
»Ich habe die Mehrheitsanteile gekauft und das Geld für die weitere Produktion zur Verfügung gestellt. Mit dem Hinweis, dass ich zwar eingetragen bin, aber lediglich im Hintergrund als stiller Chairman fungieren möchte.«
»Und darum sagte mir das niemand.«
»Ja. Hättest du richtig tief gegraben, wozu im Grunde kein Anlass bestand, hättest du es herausgefunden.«
»Und das war jetzt die letzten Wochen erst?«
»Ja, war es.« Ich nickte und stellte fest, dass Bo schon das zweite Mal am Bellagion vorbeifuhr. Er schien zu merken, dass dieses offene und ehrliche Gespräch gar nicht schlecht lief. »Aber da ist noch mehr.«
»Was?«, quietschte sie. »Ernsthaft, Cal, es reicht langsam an Informationen.«
Ein mildes Lächeln zupfte an meinem Mundwinkel. »Nur damit die Story rund ist und du nicht wieder meckerst«, sagte ich und sie lächelte ebenfalls zaghaft. »Die meisten Frauen aus dem Programm brachte ich bei uns unter. Nachdem sie nachweislich clean und sauber waren, gestatteten wir ihnen, sofern sie wollten, dass sie in einem meiner Clubs anfangen durften. Sauber. Ja, ich weiß. Immer noch strippen und anzüglich, sexy und verrucht, aber dafür sauber und sicher. Meine Mädchen werden niemals gegen ihren Willen angefasst, sind in Wohnungen untergebracht, in denen sie mit ihren Kindern leben können und für die eine Nanny zur Verfügung steht, wenn sie arbeiten müssen. Wir geben ihnen eine Chance auf einen Neustart, quasi ein Sprungbrett für eine wirkliche Zukunft.«
Bis auf Melina, aber das verschwieg ich. Das schlechte Gewissen angelte sofort nach mir, aber ich unterdrückte es mit aller Macht. Melina stand einfach auf einem vollkommen anderen Blatt, ebenso wie Scarlett.
»Das bedeutet also, du bist gar nicht so böse, wie du tust?« Nun lächelte sie ehrlich.
»Na ja, doch, das bin ich schon. Die Unterwelt ist nicht so easy, wie es in irgendwelchen Hollywood-Gangsterfilmen dargestellt wird. Konkurrenz, Mafia, Drogenbosse, die davon ausgehen, man nimmt ihnen die Ware weg. Denn nichts anderes sind diese Frauen für sie ...«
»Ware«, vollendete Scarlett meinen Satz. Sie verstand es, sie verstand es wirklich. Ich fand den Mut, mich langsam vorzutasten, Stück für Stück.
»Wir haben eine Frau bei uns, die wir beschützen müssen.«
»Wie meinst du das?«, fragte sie und ich legte den Kopf schief. Immerhin war es ja ein Teil der Wahrheit, oder?
»Na ja, ihr Vater ist ein ziemlich übler Kerl und ihre Mutter war eine Freundin meiner Mom. Also versprach ich ihr, dass ich für das Mädchen sorgen und sie verstecken würde. Gerade dann, wenn ihr Vater oder seine Häscher in der Stadt sind und nach jungen Dingern Ausschau halten, die sie dann ...«
»Menschenhandel?« Ich nickte. Mehr konnte und würde ich nicht sagen – schlechtes Gewissen hin oder her. »Die Welt ist nicht nur weiß oder schwarz, gut oder böse. Es gibt Milliarden Schattierungen dazwischen, und ich nutzte die Grauzonen eben aus.«
»Ich verstehe ...«, erklärte sie und räusperte sich. »Dann muss ich mich jetzt wohl entschuldigen?«
Fragend hob ich eine Braue.
»Na du scheinst nicht der Fiesling und hässliche Lügner zu sein, zu dem ich dich abgestempelt habe, oder?«
Wieder lächelte ich. Doch, der war ich. Aber ich konnte es ihr noch nicht sagen. Ich hatte ja noch nicht mal die Eier, sie gehen zu lassen.
»Lass dich nicht täuschen, Scarlett. Ich bin ein Bastard. Ich habe Menschen wie Scheiße behandelt, ich habe sie sogar getötet. Ich habe Dinge getan, die nicht schön waren und mit denen du in deiner reinen Art nicht in Berührung kommen solltest. Aber ich habe all diese Dinge getan, weil es diese Menschen verdient hatten. Nicht, weil es mir einen persönlichen Vorteil verschaffte, mehr Kohle oder Ansehen. Im Gegenteil! Ich tat es, weil mir keine andere Wahl blieb.«
»Weil du den Frauen helfen wolltest«, wisperte sie und ich antwortete nicht darauf, denn auch das wäre nur die halbe Wahrheit gewesen. Es war unerträglich genug, Scarlett davon zu erzählen und sie in diese Situation zu bringen, ihr sagen zu müssen, dass ich ein krimineller Wichser war. Aber es platzte einfach aus mir heraus.
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war ich noch nicht so weit, die Sache mit ihr abzuschließen, auch wenn das weitaus einfacher gewesen wäre.
Und deshalb erzählte ich es ihr.
Aus rein egoistischen Gründen.
Ich war nicht bereit, Scarlett Preston freizugeben.
Ich sagte doch, ich war ein verfickter Bastard.