18
Cal
S carlett war nun schon eine Woche weg und ich ertrank im Schmerz. Er lähmte mich, hüllte mich in einen dämpfenden, trügerisch warmen Kokon. Und ich mochte es, in ihn abzutauchen, mich haltlos darin zu verlieren.
Das Wasser prasselte auf meine Haut. Ich stand unter der Dusche, weil Bo mich dazu gezwungen hatte. Na gut, um die Wahrheit zu sagen, zwingen konnte man mich nicht, aber ich ließ ihn in dem Glauben. Mein wahrer Antrieb war nämlich der Nachricht geschuldet, dass Scarlett heute Morgen den Flug aus New York zurück nach Vegas genommen hatte. Sicherlich war sie müde, wenn sie heute Abend hier eintraf, denn wir waren ja drei Stunden hinterher. Ich spielte mit dem Gedanken, sie am Flughafen abzuholen. Bo hielt die Idee für bescheuert, aber ehrlich gesagt war es mir fuckegal, was er dachte. Er war nicht in meiner Situation, er musste nicht all diese Gefühle ertragen.
Es war schrecklich, weitaus schlimmer als alles, was ich jemals empfunden hatte. Okay, das war nicht viel, schließlich nannte ich mich einen harten Kerl.
Die Geschäfte lagen zum Glück gerade ruhig, es gab keinen Ärger und nichts, worum ich mich persönlich kümmern musste. Dabei sehnte ich mich beinahe schmerzhaft danach, jemandem wehzutun. Bo hatte mich davon überzeugt, dass es mich auch nicht glücklich machen würde, wenn ich Ärger provozierte und ein paar Leute abknallte.
Jetzt stand ich unter der Dusche, seifte mich mit Duschgel ein und verfluchte meine Erinnerungen an Scarlett, wie sie mit mir hier ... Ach, Scheiße!
Melinas Idee, wie ich Scarlett zurückgewinnen konnte, war absolut idiotisch. Trotzdem zog ich sie in Erwägung, denn irgendetwas musste ich tun. Eines war immer noch klar: Ich konnte ohne diese Frau nicht mehr leben.
Ich würde ihr anbieten, mich aus dem Escort-Service zurückzuziehen. Denn wenn ich alles Revue passieren ließ, dann war das der Knackpunkt, der uns immer wieder an unsere Grenzen geführt hatte. Falls sie sich auf ein Gespräch mit mir einließ, und das hoffte ich mit jeder Faser meines Körpers, dann würde ich diesmal tatsächlich ehrlich zu ihr sein. Okay, ich konnte ihr nicht die Sterne vom Himmel holen, denn mein Stern war längst verglüht, aber ich konnte ihr versprechen, dass ich sie immer lieben würde. Ob das reichte? Ich war ein beschissener Anfänger auf diesem Gebiet, ein unwissender Idiot, aber ich liebte sie. Und wenn ich ihr das sagte, wenn ich ihr beweisen würde, dass sie alles und noch mehr von mir haben konnte, dann würde sie mich vielleicht zurücknehmen.
Es gab nur diese eine Chance, das wusste ich. Und ich durfte sie nicht verkacken!
Melinas Idee war es gewesen, dass ich nach New York fliege und sie in der Bar überrasche, in der wir uns kennengelernt hatten. Aber nein, das hielt ich für das Grundverkehrte. Ich war ein Arsch, aber ich war mir sicher, dass Scarlett ihre Ruhe wollte. Ansonsten hätte sie auf meine Nachrichten reagiert, oder?
Außerdem würde mein Auftauchen in dieser Bar nur die Erinnerungen wecken, dass ich unsere Begegnungen damals inszeniert hatte. Keine gute Idee! Ich hatte kapiert, dass es falsch von mir gewesen war. Und genau deshalb ließ ich ihr den nötigen Freiraum und gab mich der romantischen Hoffnung hin, dass sie es nicht als Desinteresse wertete, sondern mich vermisste. Denn man konnte nur vermissen, was man nicht hatte. Die Bedeutung dieser indischen Weisheit lernte ich gerade am eigenen Leib kennen, also setzte ich darauf, dass sie mich tatsächlich vermissen würde, wenn sie nichts weiter von mir hörte.
Ob es mir leichtfiel? Einen Scheißdreck tat es! Aber ich zog es durch.
Mehr für sie, weniger für mich.
Wehmütig beobachtete ich, wie der Schaum des Duschgels seinen Weg in den Abfluss fand. Der Druck in meiner Brust wurde übermächtig, während der Gedanke in mir keimte, dass sie womöglich nie wieder mit mir sprechen wollte.
Nein, ich würde nicht aufgeben. Und wenn ich bis zum letzten Tag meines Lebens darum kämpfen musste, dass sie mir zuhörte – und vergab.
Und den Anfang machte ich heute, indem ich mich aus dem Escort-Service zurückzog. Dieses Gefühl, dass es genau das Richtige war, kam plötzlich. Eigentlich hatte mich Melina darauf gebracht – durch ihre Kündigung und die Bitte, dass sie eine verantwortungsvollere Position innehaben wollte. Es war wohl das erste Mal, dass ich ernsthaft darüber nachdachte, wie es sich für die Mädchen anfühlte, ihren Körper für Geld zu präsentieren. Nicht jede machte das gern, wahrscheinlich sogar die wenigsten. Die letzten Tage und Nächte hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen und war zu dem Schluss gekommen, dass ich niemals so blütenweiß wie Scarlett sein konnte, aber es dennoch möglich war, ihr wenigstens einen Schritt ins Licht entgegenzukommen. Denn wenn ich ehrlich war, dann konnte es keine Kompatibilität unserer Leben geben, solange ich auf der dunklen Seite stand und sie auf der hellen.
Die Tatsache, dass ich gelogen hatte, war das eine, aber ich würde das Unkraut an der Wurzel entfernen, nicht nur pseudomäßig absäbeln. Oh nein, ich würde grundlegend etwas ändern.
Energisch drehte ich das Wasser ab, fuhr mir mit beiden Händen über das Gesicht, bevor ich nach einem der weichen Handtücher griff, das ich mir um die Hüften band. Mit einem zweiten rieb ich meine Haare trocken.
Es musste einfach klappen. Es musste!
Ansonsten konnte ich mir gleich die Kugel geben.
Ich stützte mich mit beiden Händen auf dem Waschtisch aus schwarzem Marmor ab. Ohne Scarlett war es kalt hier. Vielleicht nicht die Temperaturen, aber es fehlte etwas. Der Topf mit ihrer Gesichtscreme, ihre Zahnbürste, ihre Haarbürste und ein paar der Klammern, mit denen sie ihre Haare manchmal hochsteckte. Jetzt lag dort ein fein säuberlich gestapelter Turm aus schneeweißen Handtüchern. Ordentlich und steril. Diese Hotel-Suite war erst durch Scarlett zu einem Zuhause geworden, in dem Leben herrschte.
Und jetzt? Jetzt wirkte alles trostlos und kalt. Seufzend blickte ich in den Spiegel und entdeckte tiefe Ringe unter meinen Augen, die eingefallenen Wangen, mein Gesicht, das sich in dem beschissenen polierten Marmor spiegelte.
Ich vermisste sie so sehr.
Scarlett musste mir noch eine Chance geben.
Koste es, was es wolle.
» U nd darum möchte ich dir anbieten, den Club zu übernehmen«, schloss ich meinen fünfminütigen Monolog. Sprachlos saß Melina vor mir und starrte mich an.
»Du machst Witze, oder?«
»Eigentlich nicht, nein.« Genervt fuhr ich mir zum bestimmt tausendsten Mal an diesem Tag durch die Haare. Warum konnte Melina nicht einfach zustimmen und fertig? Es war schwer genug, diesen Teil meines Lebens ins Klo zu spülen, auch wenn es sich richtig anfühlte.
»Du willst mir die Leitung für den Escort-Service und den Stripclub übergeben?«
»So sieht es aus.«
»Und welche Rolle spielst du dabei?«, fragte sie skeptisch und ich war echt versucht, meine Faust auf den Tisch zu donnern.
»Ich bin raus aus der Nummer.« Zumindest hoffte ich das. Denn ich hatte nicht einkalkuliert, dass Melina natürlich jemanden brauchte, der für sie die ein oder andere Drecksarbeit erledigte. Deshalb ergänzte ich jetzt mein Angebot: »Natürlich bekommst du auch entsprechende Kontakte und Security gestellt. Ich erwarte, dass du sie fair bezahlst wie alle anderen auch.«
»Und der Laden gehört dann mir?«
»Jepp. Du kannst ihn haben.«
»Und die anderen Clubs im Land, was machst du mit denen?«
»Die werde ich nach und nach abstoßen«, erklärte ich. »Wenn du richtig wirtschaftest, kannst du sie mir auch abkaufen.« Für das Underground wollte ich nichts, nicht mal einen Anteil am Gewinn. Doch ich war Geschäftsmann und konnte natürlich nicht mein halbes Vermögen einfach so verschenken.
»Und du bist sicher, dass das Hotel und das Casino dich glücklich machen?«
»Wir werden sehen«, erwiderte ich und hatte tatsächlich keine Ahnung, was mich mehr glücklich machen würde als Scarlett. »Da ich weiterhin im Vorstand von Nevada Pharmaceutics sitze und das Programm meiner Mutter für Schwangere leite, werden wir schon noch zusammenarbeiten.«
»Du willst sicherstellen, dass die Mädchen unterkommen«, begriff sie schnell. Ich nickte.
»Das ist meine zweite Bedingung. Ich will, dass die Frauen hier einen Job bekommen, wenn ich sie im Hotel nicht unterbringen kann.« Mahnend hob ich den Zeigefinger und sah ihr fest in die Augen.
»Du wirst dich langweilen, Cal«, resümierte sie und ein schwaches Lächeln zupfte an meinem Mundwinkel.
»Das lass mal meine Sorge sein.«
»Du tust das für Scarlett, richtig?« Melina lehnte sich grinsend zurück. »Jetzt verstehe ich.«
»Wenn du das jemandem verrätst, werde ich dich aufhängen.«
»Wirst du nicht«, sagte sie lässig und schüttelte den Kopf. »Niemals! Du gibst mir diesen Club, dein Baby, das dir bis zu Scarlett das Wichtigste war.«
»Falsch!«, erklärte ich. »Ich gebe dir das, was mir dabei geholfen hat, das fortzuführen, was mir am wichtigsten ist.«
»Das Vermächtnis deiner Mom.«
»Richtig«, gab ich zu. »Aber das hat dich eigentlich nicht zu interessieren.«
Ich strich mir die Krawatte glatt. Sie war schwarz wie mein Anzug.
»Ich finde es bemerkenswert, dass dir deine Mom mehr bedeutet als dein Vater. Es wirkt nach außen immer anders.«
»Weil die Leute keine Ahnung haben, was dahintersteckt. Aber ich kann dir eines mit auf den Weg geben, Melina: Urteile niemals vorschnell, niemals! Denn auch wenn ein Mensch lacht, dich ansieht und Späße treibt, hat auch dieser Mensch sein Päckchen zu tragen und kämpft vielleicht gerade in diesem Moment mit seinen Dämonen. Also stecke andere niemals in Schubladen, auch wenn du glaubst, sie gehören dorthin!«
»Wow! Ein weiser Rat von Cal Denton, der nichts mit Waffen zu tun hat.«
»Ich bin vielleicht ein herrischer Bastard und ein arroganter Wichser, aber kenne die Menschen und das Leben mit all seinen Schattenseiten.«
Melina sah mich nachdenklich an. Ich war noch nie zu jemandem so aufrichtig gewesen, der nicht Scarlett hieß oder meine Mutter war.
Mein Vater war erschossen worden, die Medien hatten jedes Detail breitgetreten, ohne Rücksicht darauf, wie meine Mutter oder ich mich dabei fühlten. Ja, auch ich hatte mein Päckchen zu tragen, die Popularität meiner Familie und das öffentliche Interesse daran. Menschen, die mich nicht kannten, steckten mich in Schubladen. Ich war es so leid.
»Und ab wann möchtest du, dass ich das Underground übernehme? Ich habe keine Ahnung davon, wie man einen Club führt.«
»Du kannst Buchhaltung, oder?«, fragte ich und zwinkerte ihr zu. »Zumindest hast du das in deiner Bewerbung behauptet.«
»Du hast sie gelesen?«
»Wie gesagt, ich bin ein Wichser, aber dafür habe ich meine Gründe.«
»Verrätst du mir ein paar Tricks?«, fragte sie und ich schüttelte den Kopf. War ja klar. »Sei doch einfach zufrieden damit, was ich dir anbiete. Ich verstehe gar nicht, dass ich hier Überzeugungsarbeit leisten muss. Ich dachte, das wäre das, was du dir erhoffst!«
»Ist es auch. Nur ... ich bin überrascht.«
»Weil?«
»Was, wenn Scarlett dir nicht vergibt und du alles zurückhaben willst?«
»Dass Scarlett mir nicht vergibt, ist keine Option. Aber das geht dich einen Scheiß an, Melina!«
»Verstehe«, erwiderte sie mit einem ironischen Augenrollen. »Du weißt, dass sie heute wiederkommt?«
»Hat sie sich bei dir gemeldet?«, fragte ich mit mehr Hoffnung in der Stimme, als ich zugeben wollte.
»Nein. Bo hat es mir gesagt.«
»Bo sollte dringend lernen, die Fresse zu halten. Aber ihr beide seht euch ja jetzt eh nicht mehr oft.«
Melinas Gesichtsausdruck veränderte sich, wenn auch nur kurz. Mir war es nicht entgangen, doch ich hatte keine Lust, darüber zu sinnieren, ob die beiden nun etwas miteinander hatten.
»Also sind wir uns einig?«
»Ich denke schon«, erklärte sie euphorisch.
»Dann lasse ich meinen Anwalt die Papiere aufsetzen.«
»Das klingt gut.« Melina legte die Füße auf den Schreibtisch, als wäre sie bereits die Chefin.
Ich verkniff mir einen Kommentar und sagte lediglich: »Sobald Mr. Simon den Vertrag aufgesetzt hat, gebe ich dir Bescheid.«
»Das heißt, ich mache jetzt erst einmal Urlaub?«
»Das heißt es. Ich melde mich bei dir.«
»Danke, Cal. Jace und ich wissen das zu schätzen.«
Meine Kehle schnürte sich zu. Nicht auf die Art, dass ich heulen musste. Nein, so weit hatte ich mich Gott sei Dank im Griff. Eher auf die Art, dass ich mich fragte, wohin mein Weg mich führen würde. Natürlich konnte ich im Andenken an meine Mutter das Geschäft nicht komplett aufgeben, weil eben genau das auch mich glücklich machte, Menschen dort draußen zu helfen, denen das Leben nicht so gut in die Karten gespielt hatte wie mir.
Doch ich war nicht nur der Sohn meiner Mutter, sondern auch meines Vaters. Deshalb würde ich meine Geschäfte weiter unter dem Deckmantel des größenwahnsinnigen, aggressiven Scheißkerls führen.
Das war gar nicht so übel.
Dann hatten die Leute wenigstens Respekt.
Und auch Melina war die Tochter ihres Vaters.
Sie würde ihren Platz finden, mit aller Konsequenz.
Wer konnte sich schon seinen Genen entziehen?
Hoffentlich würden wir es besser machen als unsere Väter.