Kapitel 6

 

Der Geruch des Autopsie-Laboratoriums ließ ein flaues Gefühl in Kirks Magengrube entstehen, und der Anblick verstärkte seine Übelkeit. Die Gewebebrocken in den kleinen Stasisbehältern machten ihm nichts aus – sie waren bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt –, doch der zerstückelte Körper auf dem Tisch wirkte grässlich. Jim versuchte, allein an die wissenschaftlichen Aspekte zu denken.

»Dies ist natürlich nur eine Rekonstruktion, die einen ungefähren Eindruck vom Aussehen der Fremden vermittelt«, erklärte Lieutenant Steven Frazer, als er der Anordnung das letzte Körperteil – einen abgetrennten Fuß – hinzufügte. »Es standen keine strukturell kompletten Leichen zur Verfügung.«

Das überraschte Kirk nicht: Von dem Händlerschiff waren nur geborstene Stahlfragmente und Schlacke übriggeblieben.

»Weder Frenni noch Klingonen?«, fragte er.

»Richtig getippt.« Der Xenobiologe drückte sich erstaunlich umgangssprachlich aus – nur in schriftlichen Berichten wurde er zum unerträglichen Langweiler. McCoy hatte ihn einmal als typisches Produkt des marsianischen Schulsystems bezeichnet. Beim Gedanken an Leonard gingen weitere Warnsignale von Kirks Magen aus. Er riss sich zusammen und trat näher an den Tisch heran, um die Fragmente des fremden Wesens genauer zu betrachten.

Der Kopf war das größte und beeindruckendste Stück des anatomischen Puzzles. Er hatte das Vakuum des Alls mit verblüffend geringen Beschädigungen überstanden. Bei einem menschlichen Schädel wäre es sicher zu starken Blutungen gekommen, aber die Haut dieses Geschöpfes bestand aus einer gummiartigen stahlblauen Schicht. Durchsichtige Lider schützten große, feucht glänzende Augen, und Frazer hielt ihr fast grelles Rot für die natürliche Farbe. Die dunklen Fasern des Schädelkamms hatten sich im Tod versteift, und der Schnabel stand weit offen.

Der massive Kopf ließ eine breite, voluminöse Brust vermuten, doch nur einige schleimige Gewebefetzen deuteten ihre Konturen an. Daneben lagen Gliedmaßenteile und formten die vagen Umrisse einer aufrechten, zweibeinigen Gestalt mit zwei Armen. Doch nur ein Fuß und eine Klauenhand waren erhalten.

»Wie genau ist diese Rekonstruktion?«

»Nicht sehr, soweit es um die inneren Organe geht«, räumte Frazer ein und rückte unbekümmert blutiges Fleisch zurecht. Er war hochgewachsen und schlank, hatte rötliche Wangen und einen widerspenstigen Schopf aus braunem Haar. »Aber die allgemeine Form stimmt. Ich habe keine zusätzlichen Beine oder einen Schwanz vergessen.«

»Sieht scheußlich aus«, murmelte Kirk. Normalerweise neigte er nicht zu xenophobischen Reaktionen, doch diese Wesen hatten versucht, sein Schiff zu zerstören.

»Mr. Spock hielt es für angebracht, einen provisorischen klassifizierenden Namen ins Computer-Logbuch einzutragen«, sagte Frazer. »Aber bei der Crew hat sich bereits die Bezeichnung ›Raben‹ durchgesetzt.«

Als er dieses Wort hörte, erinnerte sich Kirk an den würzigen Duft von Iowa-Ackerland während der Erntezeit, an eine kleine, vornübergeneigt stehende Frau. Seine Großmutter hatte Raben ›Boten des Todes‹ genannt, und das Herz des Knaben pochte schneller, wenn er ihr lautes Krächzen hörte. Er sah sie erneut in den Bäumen unweit des Farmhauses: große, blauschwarze Vögel, schlau, aggressiv und immer hungrig – wodurch Konflikte mit den Bauern unvermeidlich waren. Ein angemessener Name für die Aliens, fand Kirk. Eine andere Parallele fiel dem Captain ein. Vor dem Rettungseinsatz hatte ihn einer der Fremden glauben gemacht, mit Esserass zu sprechen, und nur das große Vertrauen in die Fähigkeiten des Ersten Offiziers weckte Argwohn in ihm. Woher wussten jene Wesen soviel – genug jedenfalls, um ihn zu veranlassen, die Schilde zu senken?

»Handelt es sich um Telepathen?«, fragte er. Diese Fähigkeit konnte erklären, warum es dem Alien gelungen war, die Esserass-Rolle so gut zu spielen. Vielleicht hatte der ›Rabe‹ die notwendigen Informationen dem Bewusstsein des sanften, gutmütigen Frenni-Händlers entnommen. Oder meinem, fügte Kirk in Gedanken hinzu. Während wir miteinander sprachen

»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Frazer. »Seit einiger Zeit kennen wir die speziellen biochemischen Strukturen aller telepathischen Spezies. Bei diesen Fremden habe ich keine derartigen organischen Komponenten gefunden.«

Kirk verschluckte einen Fluch. Wahrscheinlich hat man Esserass unter der Folter gezwungen, sein Wissen preiszugeben, überlegte er. Bewusstseinssonden erfüllten den gewünschten Zweck, aber häufig führt ihr Einsatz zum Tod.

»Wie dem auch sei: Das Nervensystem ist ausgesprochen interessant«, fuhr der Xenobiologe mit jungenhafter Begeisterung fort. »Nie zuvor hatte ich Gelegenheit, so etwas zu untersuchen, und Dyson meinte, es verlange geradezu einen ausführlichen wissenschaftlichen Artikel.« Er griff nach dem Kopf und drehte ihn um. Mit der rechten Hand strich er den Schädelkamm beiseite. »Sehen Sie sich das an.«

Kirk kam der Aufforderung nach und schluckte, um nicht zu würgen. Unter dem Kamm erkannte er eine Rille, die den Schädel in zwei Hälften teilte.

»Der Kopf besteht aus zwei voneinander getrennten Kammern«, erläuterte Frazer. »Beide enthalten jeweils ein voll entwickeltes Gehirn ohne neurale Verbindungen. Jedes verfügt über einen eigenen Hirnstamm, und sie berühren sich erst an diesem Rückenmarkknoten.« Der Zeigefinger des Xenobiologen strich am Nacken entlang und verharrte dort, wo sich der Kopf vom Torso gelöst hatte.

»In höher entwickelten Spezies sind individuelle Doppelhirne sehr selten. In den uns bekannten Fällen dominiert ein Gehirn, während das andere kaum mehr darstellt als einen dichten Haufen aus Neuronen, der bestimmte Funktionen des vegetativen Nervensystems steuert.«

»Ein Mutant?«, vermutete Kirk.

»Nein. Nach den Gewebefragmenten zu urteilen, handelt es sich um ein für alle Raben typisches Merkmal.« Der junge Mann hob die Schultern. »Aber wir wissen noch nicht, welchem Zweck die beiden Gehirne dienen. Während der meisten kritischen Evolutionsphasen könnte so etwas ein fatales Handikap sein. Wir brauchen ein lebendes Exemplar, um mehr in Erfahrung zu bringen.«

Kirk verzog das Gesicht. »Die Begegnung mit einem lebenden Raben ist mit Abstand der letzte Punkt auf meiner Wunschliste.« Er nickte in Richtung der Fleisch- und Knochenbrocken.

Frazer lächelte. »Ja, ich verstehe. Was mich betrifft: Ohne einen Phaser möchte ich keinem derartigen Wesen gegenübertreten.« Der Xenobiologe legte den Kopf auf den Tisch und griff nach einer Hand. Er hielt sie am Gelenk, winkte damit und schien Kirks Blässe überhaupt nicht zu bemerken. »Diese Klauen sind nicht nur rasiermesserscharf, sondern auch giftig. Unter jedem Fingernagel befindet sich eine Giftdrüse, und ihre Absonderungen genügen, um ein Pferd zu lähmen.«

Kirk spürte das dringende Bedürfnis nach einem vergleichbaren Betäubungsmittel, doch Frazer reagierte überhaupt nicht auf den übelkeiterweckenden Geruch des zerstückelten Raben.

»Das Gift besteht aus verschiedenen Körperflüssigkeiten und einer komplexen organischen Komponente. Die medizinische Abteilung versucht gerade, ein neues Anästhetikum daraus zu gewinnen – das natürlich nur verwendet werden kann, wenn es möglich ist, die Wirkungen zu neutralisieren. Nun, nach der Strukturanalyse des Giftes bin ich vielleicht imstande, ein Gegenmittel zusammenzubrauen.«

»Sonst noch etwas?«, fragte Kirk mühsam. Er bedauerte es, eine Mahlzeit eingenommen zu haben, bevor er das Laboratorium aufsuchte, und sein Magen drohte, sich jeden Augenblick von der unwillkommenen Last zu befreien.

»Nein, das wär's im großen und ganzen«, sagte Frazer und ließ die Hand auf den Tisch fallen. Kirk vernahm ein feuchtes Klatschen.

Er verließ den Raum so schnell, wie es die Würde eines Captains erlaubte – sogar noch etwas schneller.

Als er den Shuttlehangar erreichte, enthielten seine Lungen nur noch Reste des widerwärtigen Gestanks im Autopsie-Labor, und der Magen gab den Protest auf. Vorsichtig wanderte er über das unebene Deck und betrachtete den an mehreren Stellen aufgerissenen Boden. Eine Raumfähre – die mit der Medo-Gruppe an Bord – war der Selessan bereits recht nahe gewesen, als sie den Rückkehrbefehl empfing. Die Pilotin wusste, dass sich die Enterprise ohne Schilde nicht vor einem Angriff schützen konnte – und dass Kirk die Deflektoren erst nach der Landung des letzten Shuttles aktivierte. Aus diesem Grund schaltete Prusinowski auf vollen Triebwerksschub. Sie gewann das Rennen zum Schiff, aber leider leitete sie das Bremsmanöver zu spät ein. Alle Personen an Bord kamen ums Leben, als die Fähre aufs Deck prallte. Das Shuttle rutschte durch den ganzen Hangar, prallte an die gegenüberliegende Wand und zerquetschte dabei zwei andere Besatzungsmitglieder.

Die schlimmsten Schäden waren inzwischen repariert, doch die Reste des Shuttles lagen noch immer in einer Ecke. Nicht weit davon entfernt ruhten weitere Trümmer. Traktorstrahlen hatten Teile des Frenni-Schiffes aus dem All geholt, und Scottys Techniker bargen andere Fragmente aus der Außenhülle der Enterprise. Seit fünf Stunden nahm Lieutenant Sulu Untersuchungen vor, in der Hoffnung auf zusätzliche Informationen über die Angreifer.

»Haben Sie etwas entdeckt?«, erkundigte sich Kirk, als er scharfkantigen Trümmerstücken auswich.

»Ich versuche noch immer, einen allgemeinen Eindruck zu gewinnen, Captain.« Sulu deutete auf das Durcheinander. »Es ist ein sehr kompliziertes Puzzle.«

Kirk kommentierte den vagen Bericht mit einem vagen Lächeln. Eigentlich glaubte er nicht, dass diese Suche zu einem Erfolg führte, aber sie mussten jede Möglichkeit nutzen, um mehr über die Raben herauszufinden. Der gegenwärtige Zustand des Schiffes erforderte nicht die Präsenz des Steuermanns auf der Brücke, und deshalb beauftragte Kirk ihn mit Nachforschungen. »Setzen Sie Ihre Bemühungen fort, Mr. Sulu.«

»Aye, Sir.« Sulu beobachtete das zerfetzte Stahlfragment in seiner Hand, bis der Captain außer Sicht geriet. Als die Luft rein war, spielte er ernsthaft mit dem Gedanken, das Metallteil einfach fortzuwerfen, entschied sich dann aber dagegen, weil er von einer derartigen Geste keine echte Befriedigung erwartete. Statt dessen legte er es zu einem Haufen, der rechts von ihm aufragte.

Ein dumpfes Stöhnen erklang unter den Trümmern – als beklagten die Geister der Fremden den Verlust ihres Schiffes. »Es ist sinnlos«, ächzte das Phantom.

»Nun, es war eine gute Idee – rein theoretisch«, erwiderte Sulu. Die Idee stammte von ihm, und er fühlte sich verpflichtet, sie zu verteidigen.

»Vielleicht.« Ein Kopf mit zerzaustem braunen Haar materialisierte auf der anderen Seite des Haufens. »Aber die Praxis sieht ganz anders aus.« Chekov stand auf, ging um den Trümmerberg herum und näherte sich Sulu. »In diesem Schrott finden wir bestimmt keine nützlichen Informationen.«

Der Steuermann seufzte zustimmend, zog eine verbogene Ventilplatte aus dem Chaos und hielt sie ins Licht. Dieses Stück gehörte zu den wenigen identifizierbaren Dingen. Durch die Kollision mit dem Verbindungsstutzen der einen Warpgondel war das Frenni-Schiff auseinandergeplatzt, und die zu späte Aktivierung der Deflektoren hatte große Teile zu Schlacke zerschmolzen. Das bewahrte die Enterprise zwar nicht vor starken Beschädigungen, aber dadurch blieben keine Hinweise auf den Ursprung der Angreifer übrig.

»Der Captain rechnet bestimmt bald mit Antworten.« Chekov klagte noch immer über Sulus Vorschlag, das Wrack zu untersuchen. »Schlimmer noch: Es wird nicht mehr lange dauern, bis Mr. Spock konkrete Ergebnisse von uns verlangt. Und es gefällt mir ganz und gar nicht, Mr. Spock zu enttäuschen.« Der Fähnrich verbrachte viele Stunden am Tag damit, für den wissenschaftlichen Offizier Daten zu sammeln und zu analysieren. Chekov erachtete diese Tätigkeit als ein tägliches Opfer, um einen besonders anspruchsvollen Halbgott zu besänftigen.

Sulu drehte die Ventilplatte. »Diese Vorrichtung erinnert mich an eine gestaltvariable Skulptur von Benega IV. Mein Stubenkamerad in der Akademie stammte von Benega, und er zeigte mir, wie man das Metall bearbeitet …«

Chekov übertönte den Rest der Erklärung mit einigen lauten russischen Flüchen.

 

Als Kirk aus dem Turbolift trat, verließ Spock sofort den Befehlsstand. Der Vulkanier zögerte nicht, die Pflichten des Kommandanten gegen die des Wissenschaftsoffiziers einzutauschen.

»Haben Sie Frazers Bericht gelesen?«, fragte Jim und nahm im Kommandosessel Platz.

»Ja, Captain. Höchst interessant.« Spocks Toleranz gegenüber Spott und Provokationen war recht groß, aber Kirk vermutete, dass er inzwischen seine Belastungsgrenze erreicht hatte – seit einiger Zeit mied er das Wort faszinierend.

»Ich nehme an, Sie haben ihn sogar verstanden«, seufzte Jim. Selbst McCoys Erläuterungen und Kommentare führten nicht dazu, dass Frazers Schilderungen einen Sinn für den Captain bekamen. Offenbar musste man mit solchen Dingen einigermaßen vertraut sein – und auch mit der Ausdrucksweise des Xenobiologen. »Nun, der Bericht lässt unsere wichtigsten Fragen unbeantwortet: Warum hat man uns angegriffen? Warum wollten die Raben unser Schiff vernichten? Warum waren sie bereit, dafür ihr Leben zu opfern?«

Spock erhob keine Einwände gegen die Bezeichnung ›Raben‹ – selbst die Angehörigen der wissenschaftlichen Abteilung benutzten diesen Begriff. »Ihr Verhalten zeigt tatsächlich ausgeprägte aggressive Tendenzen«, gestand der Vulkanier ein. »Bedauerlicherweise lassen sich ihre Motivationen nicht mit Hilfe einer Autopsie feststellen.«

»Habgier und Machthunger sind die üblichen Beweggründe für den Kampf«, überlegte Kirk laut.

»Territoriale Verteidigung stellt ebenfalls eine häufige Ursache für Kriege dar«, fügte Spock hinzu.

»Diesmal nicht. Immerhin befinden wir uns im stellaren Territorium der Föderation.«

»Vielleicht vertreten die Fremden einen anderen Standpunkt«, sagte der Vulkanier ruhig.

»Oder es war ihnen völlig schnuppe, in welchem Raumsektor sie angriffen. Vielleicht wollten sie ihn übernehmen. Territoriale Expansion bietet einen weiteren populären Anlass – zusammen mit Habgier und Machthunger –, um andere Leute ins Jenseits zu schicken.«

Spock mochte keine Spekulationen, die nicht auf einem festen Datenfundament basierten. »Fremde Philosophien und Kulturen enthalten häufig Aspekte, die sich unserem Verständnis entziehen.«

Kirk stöhnte und stützte den Kopf auf die Hände. »Leiden Vulkanier an Kopfschmerzen, die auf Stress zurückgehen, Mr. Spock?«

»Nein«, entgegnete der Erste Offizier. »Aber die menschliche Hälfte in mir konfrontiert mich manchmal mit derartigen Problemen.«

»Nun, wenigstens herrscht zwischen der Föderation und dem Imperium nach wie vor Frieden.« Kirk massierte sich die Schläfen, um das Stechen hinter der Stirn zu lindern. »Der angebliche klingonische Angriff war nur vorgetäuscht – um uns in die Falle zu locken.«

Spock wölbte eine Braue. »Das ist zweifellos die attraktivste Interpretation, Captain.« Er sah Jims Verärgerung und fuhr etwas sanfter fort: »Aber selbst im kühlen Licht der Objektivität scheint sie die wahrscheinlichste zu sein.«

Das Pochen in seinem Schädel, so merkte Kirk jetzt, entsprach dem Rhythmus des pulsierenden Lichts auf der Brücke. Die Alarmstufe Gelb dauerte nun schon fünfzehn Stunden.

Spock folgte dem Blick des Captains. »In einer Stunde und zweiundzwanzig Minuten haben wir wieder einsatzfähige Fernbereichssensoren.«

Und was finden wir dann?, dachte Kirk müde.