Kapitel 10

 

CAPTAINS LOGBUCH: STERNZEIT 5524.2

 

Die Enterprise ist noch immer stark beschädigt, aber jetzt fliegen wir mit Impulskraft zur Wagner-Station. Wir haben nur halbe Waffenenergie; die Schilde sind destabil, und unsere Eskorte besteht aus einem klingonischen Schlachtkreuzer.

 

Kirk lehnte sich im Kommandosessel zurück. Die Brücke um ihn herum bot einen angenehmen und zufriedenstellenden Anblick von Effizienz. Alle Stationen waren besetzt; Indikatorlichter flackerten in regelmäßigen Abständen, und Instrumente summten pflichtbewusste Melodien. »Warpfaktor zwei.«

»Sir?«, fragte der Steuermann überrascht.

Der Captain seufzte. Er hatte diesen Gedanken nicht laut aussprechen wollen und fühlte sich nun ertappt. »Ein Viertel Impulskraft, Mr. Leslie.«

»Ja, Sir.« Sulus Stellvertreter unterdrückte ein mitfühlendes Lächeln – seine eigenen Überlegungen ähnelten denen des Captains. Eine gewisse Beklommenheit erfasste ihn, als er die Befehlssequenz eingab, um das Impulstriebwerk der Enterprise zu zünden. Das Raumschiff setzte sich in Bewegung, ohne dass es irgendwo knirschte und knackte. Mit anmutiger Eleganz glitt es durchs All.

Kirk hatte mit Erschütterungen und dem Heulen der Alarmsirenen gerechnet. Er ließ den angehaltenen Atem entweichen. »Gehen Sie auf halbe Impulskraft.«

»Kurs dreiundfünfzig Komma sechs«, meldete der Navigator. Die Interaktionen der Brückenoffiziere bildeten wieder das gewohnte Muster.

Kirk öffnete einen internen Kom-Kanal. »Mr. Scott, können wir auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigen?«

»Aye, Captain, das ist durchaus möglich«, tönte die Stimme des Chefingenieurs aus dem Lautsprecher. Seine Freude war deutlich zu hören. »Die gute alte Enterprise hat zwar eine Menge eingesteckt, aber sie hält noch immer zusammen.« Er sprach mit dem Stolz eines Vaters.

»Volle Impulskraft.« Das Schiff wurde schneller, und Kirk beobachtete, wie die Sterne über den Wandschirm glitten. Zu langsam, dachte er. Wir sind viel zu langsam.

»Mit unserer gegenwärtigen Geschwindigkeit erreichen wie die Handelsstation in zwölf Komma sechs Tagen«, sagte Spock mit zermürbender Gelassenheit.

Diese deprimierende Tatsache war nicht neu für Kirk – er hatte die Schätzung schon einmal gehört –, aber ihre Bedeutung wurde ihm erst jetzt im vollen Ausmaß bewusst. Eine Reise, die im Warptransfer nur wenige Stunden dauerte, dehnte sich jetzt auf fast zwei Wochen und erinnerte damit an die Weite des Alls. Während der letzten Tage habe ich genug demütigende Ereignisse hinnehmen müssen, dachte der Captain. »Uhura, setzen Sie sich mit der Schwert in Verbindung.«

Die dunkelhäutige Frau aktivierte eine besondere, für Kommunikationen mit dem klingonischen Schlachtkreuzer vorbereitete Frequenz.

»Lieutenant Sulu an Captain Kirk. Die Schwert meldet Bereitschaft für Impulskraft. Kurs zweiundfünfzig Komma sieben. Wir warten auf Ihren Befehl.«

»Bestätigung, Commander Sulu.« Kirk erwiderte die Förmlichkeit des jungen Mannes und erinnerte sich an seine eigene Nervosität als Junior-Offizier, der eine große Verantwortung wahrnehmen musste. »Impulstriebwerk aktivieren.«

Der Wandschirm zeigte nun das klingonische Raumschiff. Der gewölbte Bug wies Narbenmuster auf, und schwarze Brandspuren klebten an den stählernen Schwingen, aber die Konturen wirkten nach wie vor geschmeidig. Einige Sekunden lang rührte sich der Schlachtkreuzer nicht von der Stelle. Dann erzitterte er und sprang mehrmals ruckartig durch die Schwärze.

»Wir sind unterwegs, Captain«, berichtete Sulu tapfer. Einige Sekunden später bekamen seine Worte mehr Sinn: Das Schiff beschleunigte kontinuierlich und passte seinen Kurs dem der Enterprise an. »Wir lernen schnell. Bald kann ich mit diesem Ding die ersten Loopings drehen.« Das Kriegsschiff kippte zur einen Seite. Sulus Fähigkeiten standen denen eines Kunstflugpiloten in nichts nach; mehrmals hatte er damit die Enterprise vor der Vernichtung bewahrt.

»Achten Sie auf einen sicheren Abstand, während Sie Kampfmanöver durchführen, Sulu. Ich möchte eine neuerliche Kollision vermeiden.«

»Aye, Sir. Schwert Ende.« Der Steuermann stabilisierte die Lage des Kreuzers und neigte dann die Schwingen zum Gruß.

Das Bild auf dem Wandschirm wechselte – Sterne in der Schwärze. Ohne die Warpverzerrungen stellten sie kleine, beständig leuchtende Punkte dar. Kirk betrachtete ihre Konstellationen. Während der Reise zur Wagner-Station würden sie sich langsam verändern. Ein langer Weg … »Zwölf Tage?«

»Zwölf Komma sechs«, berichtigte der Erste Offizier pedantisch. Ungeduld gehörte zu den Schwächen, denen er nie nachgab.

»Jetzt haben Sie Zeit genug, sich auszuruhen und zu schlafen«, sagte Kirk.

Spock ließ sich nicht so leicht dazu verleiten, die menschliche Hälfte seines Wesens zu verraten. Er drehte den verbalen Spieß um. »Die Wirkung des Anregungsmittels hält nur noch wenige Minuten an. Sie sollten das Kommando delegieren, bevor sich Ihre Leistungsfähigkeit reduziert.«

»Wer könnte einen Unterschied feststellen?«, fragte Kirk kummervoll, als der Erste Offizier an den Befehlsstand herantrat. »Bei dieser Geschwindigkeit wäre ich imstande, das Schiff sogar im Schlaf zu kommandieren.« Pflichtbewusst unterschrieb er Spocks Datentafel. »Wer überwacht Ihre Leistungsfähigkeit?«

»Dr. Cortejo.«

Kirk glaubte, in dieser kurzen Antwort einen Hauch von Emotion zu hören. Teilte Spock die weit verbreitete Abneigung gegenüber Leonards Stellvertreter? »Na schön. Auch ich möchte, dass Dr. McCoy so bald wie möglich seinen Dienst wieder antritt.«

Spock nahm den subtilen Tadel mit einer gewölbten Braue zur Kenntnis, ohne Kirks Interpretation zu widersprechen. »Hat Dr. Dyson bereits eine Prognose entwickelt?« Damit stellte der Vulkanier die erste direkte Frage in Bezug auf McCoys Zustand.

»Sie wartet noch auf die letzten Resultate der neurologischen Untersuchungen«, entgegnete Kirk. Wer Spock nicht kannte, mochte seine Zurückhaltung mit Gleichgültigkeit verwechseln, aber der Captain wusste es besser. Die Sorge hatte zu tiefe Wurzeln, um in Worten Ausdruck zu finden. Er entsann sich an die Blutflecken auf dem Uniformpulli des Ersten Offiziers und spürte so etwas wie Mitgefühl. »Ich gehe jetzt zur Krankenstation.«

 

Kirk merkte die Anspannung sofort, als er das medizinische Forschungslaboratorium betrat. McCoy und Dyson reagierten kaum auf ihn. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Computerschirm und seinen Daten. Für den Captain blieben die Informationen ohne Bedeutung, ganz im Gegensatz zu den beiden Ärzten.

»Interessant.« McCoy musterte die Neurologin. »Ich bin kein Narr, Dr. Dyson.« Er wollte noch etwas hinzufügen, schwieg jedoch, als er den Captain sah.

Er vertraut mir nicht, dachte Kirk überrascht. »Was meine Crew betrifft, geht auch mich etwas an«, sagte er fest. »Und Sie sind mein Erster Medo-Offizier. Bitte glauben Sie mir, wenn ich darauf hinweise, dass uns eine lange Freundschaft verbindet.«

»In Ordnung, Captain«, brummte McCoy. »Dann sollten Sie wissen, dass Ihr Erster Medo-Offizier unzurechnungsfähig ist. Es lassen sich keine Gewebeschäden im Gehirn feststellen. Alles deutet auf ein hysterisches Fluchtsyndrom hin, dessen Ursachen psychologischer Natur sind.« Er lächelte schief. »In den Begriffen eines Laien: Bei mir sitzen einige Schrauben locker.«

»Stimmen Sie mit dieser Diagnose überein, Dr. Dyson?«, erkundigte sich Kirk. Also ist Leonard nicht imstande, wieder die Leitung der Krankenstation zu übernehmen.

Die junge Frau nickte. »Es handelt sich um eine direkte Schlussfolgerung auf der Grundlage dieser Daten. Posttraumatische Erinnerungslücken sind ein typisches Merkmal für Kopfverletzungen, aber normalerweise steht retrograde Amnesie in einem unmittelbaren Zusammenhang mit umfangreichen Hirnschäden, die zumindest ein messbares Ausmaß haben. Statt dessen entsprechen die Ergebnisse der Reaktionstests einer leichten Gehirnerschütterung: geringfügige Beeinträchtigungen der motorischen Koordinaten und der Wortassoziation. Diese Symptome sollten innerhalb weniger Tage verschwinden.«

Die Neurologin zögerte kurz. »Eigentlich habe ich das schon zu Anfang vermutet, aber jetzt liegt eine klare Bestätigung für meine Annahmen vor.«

Kirk überlegte. »Wenn ich Sie richtig verstehe, bedeutet es, dass die Erinnerungen nach wie vor existieren. Die Gedächtnislücken können geschlossen werden.«

»Ja, das sind die guten Neuigkeiten.«

»Aber es gibt auch schlechte Nachrichten«, warf McCoy ein. »Wir wissen noch immer nicht, wann – und ob – die Reminiszenzen zurückkehren.«

Kirk versuchte, den nächsten Gedanken zu verdrängen, aber er haftete im Fokus seines Bewusstseins fest. Nun, McCoy schien durchaus fähig zu sein, objektiv über dieses Thema zu diskutieren. Laut begann er: »Und wenn Mr. Spock …«

»Es wäre sehr gefährlich.« Dyson wusste sofort, was er vorschlagen wollte. »Zweifellos für Dr. McCoy und vielleicht auch für Spock. Wenn wir es tatsächlich mit einer psychologischen Ursache zu tun haben, so kommt es sicher zu einem starken geistigen Widerstand. Das menschliche Ich hat bemerkenswert viele Möglichkeiten, sich vor Schmerz zu schützen. Amnesie ist eine Reaktion auf unerträglichen Stress: Wenn die Erinnerungen nicht mehr existieren, verschwinden auch die damit einhergehenden inneren Belastungen. Aber wenn sie wiederhergestellt werden, bevor das denkende Selbst damit fertig wird, so könnten sich katastrophale Konsequenzen ergeben.«

McCoy trachtete danach, seinen Ärger im Zaum zu halten. Er hatte es satt, nicht zu verstehen, was um ihn herum vor sich ging. »Worüber reden Sie da?«

»Über die vulkanische Mentalverschmelzung.«

»Oh«, entfuhr es dem Arzt verblüfft. »Nein, danke. Ich behalte meine Psychopathologie lieber für mich.«

»Gibt es keine wirkungsvolle Möglichkeit, Leonard zu helfen?«, fragte Kirk. »Zum Beispiel eine psychiatrische Behandlung …«

»Ich brauche keine Psychoanalyse«, sagte McCoy. »Mit mir ist soweit alles in Ordnung. Der andere, stressbelastete McCoy benötigt Hilfe, aber er ist gerade beim Essen.«

Dyson ignorierte den Sarkasmus. »Man hat gewisse Erfolge mit Hypnose und Narkoseanalyse erzielt, wobei insbesondere Natriumamylobarbital verwendet wurde. Aber damit kenne ich mich nicht besonders gut aus – ich bin in erster Linie Bioneurologin. Das Schicksal hat uns einen Streich gespielt: Dr. McCoy ist wahrscheinlich der einzige Arzt an Bord, der solche Behandlungen durchführen könnte. Für gewöhnlich sind sie bei Besatzungsmitgliedern von Raumschiffen nicht nötig.

Im Grunde genommen ist alles eine Frage der Zeit. Entweder erreichen wir eine Starbase – oder die Erinnerungen kehren vorher spontan zurück. Trotz seines aktuellen Zustands zeigt Dr. McCoys Medo-Akte eine hohe Belastungsschwelle für psychologischen Stress. Irgend etwas hat ihn darüber hinausgeschoben, aber ich bin davon überzeugt, dass er nur vorübergehend an Amnesie leidet – sie gönnt dem Gehirn eine Ruhepause, damit es sich von dem Schock erholt.«

»Also habe ich mir selbst Urlaub gegeben«, witzelte McCoy. »Hoffentlich werde ich deshalb nicht vors Kriegsgericht gestellt.«

»Das reicht jetzt, Pille!«, donnerte Kirk. Einen Sekundenbruchteil später bedauerte er diese unüberlegten Worte.

McCoy zuckte so heftig zusammen, als habe er eine Ohrfeige erhalten. »Tut mir leid, Captain«, erwiderte er mit der kühlen Unnahbarkeit eines Fremden. »Ich bin weder an Raumschiffkommandanten noch ans militärische Protokoll gewöhnt.«

Pille – dieser Spitzname passte nicht mehr. Der vor Kirk stehende Mann würde wohl kaum mit einem temperamentvollen ›Verdammt, Jim‹ antworten, und er überhörte auch die Entschuldigung in seiner Stimme. »Es ist meine Schuld, Dr. McCoy. Ich vergesse immer wieder, dass Sie sich nicht an mich erinnern.«

»Schon gut, Captain«, entgegnete Leonard mit der übertriebenen Höflichkeit eines geistig gesunden Mannes, der versucht, einen Übergeschnappten zu besänftigen.

Unangenehme Stille folgte, und schließlich räusperte sich Dyson. »Meine offizielle Empfehlung für Dr. McCoy lautet: Er sollte beurlaubt werden, bis ich eine vollständige Genesung feststelle. Anders ausgedrückt: bis sich seine Gedächtnislücken geschlossen haben.«

»Ich akzeptiere Ihre Empfehlung, Dr. Dyson.« Der Captain sah den Ersten Medo-Offizier an. »Lieutenant Commander McCoy, ich befreie Sie hiermit von allen Pflichten als Leiter des medizinischen Bereichs der U.S.S. Enterprise.« Jede einzelne Silbe schmerzte in Kirks Hals, aber McCoy hörte unbewegt zu.

»Sie haben dienstfrei, bis Dr. Dyson und Dr. Cortejo bescheinigen, dass Sie auf Ihren Posten zurückkehren können.«

»Oder bis wir eine Starbase erreichen, die es mir ermöglicht, zur Erde zurückzukehren«, fügte McCoy hinzu.

Kirk nickte knapp, drehte sich um und verließ die Krankenstation.

»Dies ist sicher eine sehr schwierige Zeit für Sie, aber …« begann Dyson, als sie mit ihrem Patienten allein war.

»Bitte ersparen Sie mir einen Vortrag über emotionale Anpassung«, sagte McCoy. »Ich versuche, die absurde und groteske Situation ernst zu nehmen, aber ein Teil von mir sucht immer wieder nach dem Bühnenausgang. ›Pflichten als Leiter des medizinischen Bereichs der U.S.S. Enterprise‹ – um Himmels willen, ich habe gerade das erste Jahr meines Praktikums hinter mir.«

Dyson bedachte ihn mit einem nachdenklichen Blick. »Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?«

Leonard stöhnte. »Ich kann von Glück sagen, noch immer Arzt zu sein. Andy Gildstrom meinte, ich sei der ungeschickteste und dümmste …« Er unterbrach sich. »Was ist mit Ihnen?«

»Was soll mit mir sein?«, fragte die Neurologin unschuldig.

McCoy kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Als ich Gildstrom erwähnte, wirkten Sie … überrascht.«

»Vielleicht deswegen, weil ich gerade zum ersten Mal gehört habe, wie jemand Dr. Anderson J. Gildstrom ›Andy‹ nennt.«

»Sie kennen ihn? Womit gibt er jetzt an? Er ist – war – Assistenzarzt in Atlanta, der arroganteste Ich-weiß-alles-Typ, den ich jemals kennengelernt habe.«

Dr. Dyson lachte leise. »Er arbeitet als Generalstabsarzt, und sein Zuständigkeitsbereich umfasst das ganze Argelius-System.«

McCoy riss die Augen auf. »Generalstabsarzt. Meine Güte, ich würde ihm nicht einmal einen Grippe-Patienten anvertrauen, ganz zu schweigen vom medizinischen Wohl vieler Millionen Personen.«

»Ich schätze, während der vergangenen zwanzig Jahre hat er etwas dazugelernt«, sagte Dyson.

»Mag sein.« McCoy runzelte die Stirn und sah sich im Zimmer um. »Während mir die meisten Geräte in diesem Raum ein Rätsel sind. Neun Patienten liegen in der Intensivstation, und ich könnte höchstens ihre Bettlaken wechseln. Mit Schwester Chapels Hilfe bin ich vielleicht imstande, einige ambulante Behandlungen vorzunehmen. Verdammt, die Krankenpfleger an Bord dieses Schiffes verstehen mehr von Medizin als ich. Wenn ich hier wirklich Erster Medo-Offizier gewesen bin, so folgt daraus: Ich habe das in mehr als zwei Jahrzehnten angesammelte Fachwissen verloren.«

»Sie haben es nur verlegt.« Christine Chapel war unbemerkt hereingekommen. »Bestimmt finden Sie es wieder.«

»Sie scheinen sehr sicher zu sein, Ma'am.«

»Ja, das bin ich«, sagte die Krankenschwester. »Aber bis es soweit ist, muss ich Anweisungen von Ihrem Stellvertreter Dr. Cortejo entgegennehmen – dafür räche ich mich irgendwann an Ihnen, Dr. McCoy. Was Sie betrifft, Diana: Wenn Sie anderen Leuten von meiner Bemerkung erzählen, werden Sie es bitter bereuen. Und nun – verschwinden Sie. Ich kann Ihre Gesichter nicht mehr sehen.«

»Aber ich wohne hier«, wandte McCoy ein.

»Bis eben.« Chapel deutete zur Tür. »Man hat Sie gerade entlassen. Sie haben ein eigenes Quartier an Bord dieses Schiffes, und es wird Zeit, dass Sie dorthin umziehen – damit ich Ihr Bett jemandem geben kann, der weitaus dringender Hilfe braucht. Gehen Sie jetzt.« Sie durchbohrte McCoy mit einem gespielt finsteren Blick, aber er rührte sich nicht von der Stelle.

Dyson zupfte sanft an seinem Ellenbogen. »Sie werden nicht allein aus dem Paradies verbannt. Ich zeige Ihnen den Weg zu Ihrer Kabine. Kommen Sie.« Sie führte ihn durch ein verwirrendes Labyrinth aus Krankenzimmern und medizinischen Labors, erklärte ihm unterwegs in groben Zügen die Struktur der Enterprise.

»Hören Sie mir überhaupt zu?«, fragte sie schließlich. McCoys gemurmelte Antworten klangen geistesabwesend.

Leonard verharrte und sah sie an. »Bin ich ein guter Doktor gewesen?«

»Ja«, sagte Dyson und nickte nachdrücklich. »Einer der besten in Starfleet.«

»Dem Himmel sei Dank.« Er lehnte sich an eine Wand des Korridors und verschränkte die Arme. »Das letzte Jahr … Nun, ich habe daran zu zweifeln begonnen, ob ich mich überhaupt für die Medizin eigne. Verdammt, manchmal kam ich mir wie ein Narr vor. Ich blieb nur dabei, weil ich nichts anderes mit meinem Leben anzufangen wusste. Ich wollte immer Arzt sein – aber ein guter.«

Dyson lächelte. »Während des ersten Jahres fühlt man sich immer unfähig. Manchmal komme ich mir noch immer inkompetent vor – insbesondere dann, wenn ich die Strafpredigt eines älteren und erfahreneren Mediziners über mich ergehen lassen muss. Das geschah schon mehrmals, seit ich an Bord der Enterprise bin.«

»Habe ich Ihnen Strafpredigten gehalten?«

»Gelegentlich«, gestand die Neurologin ein. »Aber ich hatte sie immer verdient, und sie waren nie boshaft.«

McCoy schmunzelte plötzlich. »Im Gegensatz zu denen eines gewissen stellvertretenden Chefarztes?«

»Pst, nicht so laut«, warnte Dyson, doch in ihren Mundwinkeln zuckte es. »Oder wollen Sie, dass ich meinen Job bei Starfleet verliere?« Sie zog Leonard von der Wand fort. »Weiter nach Deck Fünf, Dr. McCoy. In fünfzehn Minuten muss ich mit meiner Runde beginnen.«

»Vergessen Sie die Führung durchs Schiff, Dr. Dyson.« Er ging neben ihr. »Erklären Sie mir statt dessen, was Sie hierherbrachte.«

»Meinen Sie damit die Enterprise oder Starfleet?«

»Beides. Sowohl das eine als auch das andere erscheint mir erstaunlich. Bevor ich an Bord dieses Raumschiffs erwachte, habe ich kaum über Reisen im All nachgedacht.«

»Weil Sie eine Landratte sind«, erwiderte die junge Frau geradeheraus. Als sie McCoys Verärgerung bemerkte, fügte sie hinzu: »Tut mir leid. Das ist nicht persönlich gemeint. Ich habe viele Jahre im Weltraum verbracht, und deshalb kann ich es mir gar nicht vorstellen, auf einem Planeten zu leben.« Sie erreichten eine Abzweigung und betraten den Hauptkorridor des Decks. Dyson schob ihr Mündel durch die Doppeltür des nächsten Turbolifts und nannte dem Computer das Ziel.

»Fahren Sie fort«, drängte McCoy, als sie die Transportkapsel einige Minuten später im Offiziersquartier verließen.

»Ich bin in ›Verlorener Morgen‹ aufgewachsen – eine ebenso kleine Raumstation wie die Wagner-Basis; dorthin sind wir jetzt unterwegs. Darüber hinaus ist sie ähnlich weit von den Zentralwelten der Föderation entfernt. Ich wollte Medizin studieren und der Zivilisation näher sein. Wenn man nicht sehr viel Geld hat, kann man sich diesen Wunsch nur mit Hilfe von Starfleet erfüllen. Die Flotte bezahlte meine Ausbildung, und dafür verpflichtete ich mich, zehn Jahre lang für die medizinische Sektion zu arbeiten. Ich halte das für eine faire Übereinkunft.«

»Nun, Sie haben Medizin studiert«, sagte McCoy. »Aber der Zivilisation sind Sie nur wenig näher gekommen.«

»Ja«, gab Dyson wehmütig zu. »Aber die Enterprise hat eine größere Bibliothek als ›Verlorener Morgen‹, und deshalb glaube ich, jetzt etwas besser dran zu sein.« Sie blieb stehen. »Ihre Kabine, Sir.«

Der Arzt las das Namensschild an der Tür:

 

Leonard McCoy

Dr. med.

3F 127

 

Seltsamerweise hielt er dies für den bisher überzeugendsten Hinweis auf seine Amnesie: der eigene Name auf einem Schild, das er jetzt zum ersten Mal sah.

Dyson zeigte dem Arzt, wie man den Zugangscode eingab, und als das Schott beiseite glitt, führte sie ihn hinein. Das Quartier des Ersten Medo-Offiziers bestand aus zwei Räumen. Der erste diente als Salon und Büro – die Einrichtung bestand aus Schreibtisch, Stühlen und Regalen –, der zweite hinter dem Gitterschirm als Schlafraum. Im Gegensatz zu Kirks Kabine herrschte hier ein auffallendes Durcheinander. Kleidungsstücke lagen auf dem Boden; Papier bildete hohe Stapel auf dem Schreibtisch und in den Regalen, neben achtlos beiseite gelegten Datenbändern; einige Topfpflanzen rangen mit dem Tod.

»Bin ich immer so schlampig gewesen?«, fragte McCoy und betrachtete das Chaos voller Abscheu.

»Keine Ahnung«, entgegnete Dyson amüsiert. »Sie haben mich noch nie in Ihr Quartier eingeladen.«

Leonard errötete. Die junge Frau achtete nicht darauf und zeigte ihm, wie man das Licht einschaltete. Darüber hinaus erklärte sie ihm die Funktionsweise des Interkoms und der Ultraschalldusche.

»Muss ich Ihnen für den Zimmerservice ein Trinkgeld geben?« McCoy folgte der Neurologin, als sie in den Korridor trat.

Dyson schob ihn sanft in die Kabine zurück. »Nein. Mein guter Rat ist ebenfalls kostenlos: Schlafen Sie.« Die Tür schloss sich direkt vor ihrem Gesicht.

McCoy seufzte und drehte sich mutig zur wartenden Leere um. Er wanderte von einer Ecke der Kabine zur anderen, spielte mit den verschiedenen Schaltflächen und verlor schon bald die Lust daran – ihr Repertoire an Pieptönen und bunten Lichtern erwies sich als recht begrenzt. Er begoss die Topfpflanzen, brachte es jedoch nicht über sich, die schmutzigen Kleidungsstücke zu berühren. Er hätte die Datenbänder und Ausdrucke gern irgendwo verstaut, wusste aber nicht, wohin er sie legen sollte. Deshalb beschränkte er sich darauf, die Stapel nur zurechtzurücken.

Als er keine andere Beschäftigungsmöglichkeit fand, zog er sich aus und ging zu Bett. Zwar lastete die bleierne Schwere der Müdigkeit auf ihm, aber er konnte nicht einschlafen. Reine Willenskraft hinderte ihn daran, sich hin und her zu wälzen.

Er suchte nach Ruhe, spürte statt dessen, wie die Anspannung in seinen Muskeln wuchs. Ein seltsames Unbehagen entstand in ihm.

Schließlich erkannte er das Gefühl und identifizierte es. Er kam sich wie ein Eindringling vor und wartete – auf den Bewohner dieses Quartiers. Es gelang ihm nicht, das bedrückende Empfinden abzustreifen. Alle dumpfen Schritte schienen sich der Tür zu nähern, und jedes leise Summen stammte vom aufgleitenden Schott.

Nachdem er zwei Stunden lang im Bett eines anderen Mannes gelegen hatte, sprang McCoy auf und zog sich wieder an. Es gab nur eine Lösung für sein Problem: Einzig und allein in der Krankenstation fühlte er sich einigermaßen wohl.

Wenn Schwester Chapel mein Bett einem Patienten zur Verfügung gestellt hat, schlafe ich auf dem Boden.

Er floh regelrecht aus der fremden Kabine und ging mit langen Schritten durch einen Korridor, der nun nicht mehr so hell erleuchtet war – an Bord der Enterprise begann die ›Nacht‹. Der Turbolift öffnete sich gehorsam vor ihm, und er betrat ihn.

»Krankenstation«, sagte McCoy ebenso laut wie unsicher. Verbale Kommandos – welch ein Unsinn. Doch die Transportkapsel setzte sich tatsächlich in Bewegung, und dadurch wuchs seine Zuversicht.

Als er die medizinische Sektion erreichte, seufzte er. Trotz der vielen hypermodernen Geräte nahm er die beruhigend vertrauten Gerüche und Geräusche der Medizin wahr. McCoy schlenderte durch verschiedene Abteilungen, ohne dass ihm die Pfleger und Schwestern der Nachtschicht Fragen stellten. Schließlich fand er den kleinen Lagerraum, den man für ihn hergerichtet hatte. Das Bett stand noch immer dort.

Er streckte sich darauf aus. In der unpersönlichen, neutralen Umgebung wich die Anspannung aus seinen Muskeln, und Erschöpfung lockte ihn schon nach kurzer Zeit in tiefen Schlaf. Stunden später zuckte er in dem vergeblichen Versuch, einem Albtraum zu entkommen, doch er wachte nicht auf.