Siebzehntes Kapitel
Berliner Congreß

I

Im Herbst 1875 erhielt ich in Varzin ein chiffrirtes Telegramm unsres Militärbevollmächtigten, des Generals von Werder1, aus Livadia, durch welches er im Auftrage des Kaisers Alexander eine Aeußerung von mir darüber verlangte, ob wir neutral bleiben würden, wenn Rußland mit Oesterreich in Krieg geriethe. Bei der Beantwortung desselben hatte ich zu erwägen, daß Werders Chiffre innerhalb des Kaiserlichen Palais nicht unzulänglich sein werde, hatte ich doch die Erfahrung gemacht, daß selbst in unsrem Gesandtschaftshause in Petersburg durch keinen künstlichen Verschluß, sondern nur durch häufigen Wechsel der Chiffre das Geheimniß derselben zu bewahren war. Ich konnte meiner Ueberzeugung nach nichts nach Livadia telegraphiren, was nicht auch zur Kenntniß des Kaisers kommen würde. Daß eine solche Frage überhaupt auf solchem Wege mir gestellt werden konnte, hatte schon eine Verschiebung der geschäftlichen Traditionen zur Voraussetzung.[437] Wenn ein Cabinet Fragen der Art an ein andres stellen will, so ist der correcte Weg eine vertrauliche mündliche Sondirung durch den eignen Botschafter oder von Souverän zu Souverän bei persönlicher Begegnung. Daß die Sondirung durch eine Anfrage bei dem Vertreter der zu sondirenden Macht seine Bedenken hat, hatte die russische Diplomatie durch die Vorgänge zwischen dem Kaiser Nicolaus und Seymour erfahren. Die Neigung Gortschakows, telegraphische Anfragen bei uns nicht durch den russischen Vertreter in Berlin, sondern durch den deutschen in Petersburg zu bewirken, mag dieselbe aus dem Pauschquantum für Telegramme oder aus andern Gründen zu erklären sein, hat mich genöthigt, unsre Missionen in Petersburg häufiger als an andern Höfen darauf aufmerksam zu machen, daß ihre Aufgabe nicht in der Vertretung der Anliegen des russischen Cabinets bei uns, sondern unsrer Wünsche an Rußland liege. Die Versuchung für einen Diplomaten, seine dienstliche und gesellschaftliche Stellung durch Gefälligkeiten für die Regierung, bei der er beglaubigt ist, zu pflegen, ist groß und wird noch gefährlicher, wenn der fremde Minister unsern Agenten für seine Wünsche bearbeiten und gewinnen kann, ehe derselbe alle die Gründe kennt, aus welchen für seine Regierung die Erfüllung und selbst die Zumuthung inopportun ist.

Außerhalb aller aber, selbst der russischen, Gewohnheiten lag es, wenn der deutsche Militärbevollmächtigte am russischen Hofe mir persönlich, und während ich nicht in Berlin war, auf Befehl des russischen Kaisers eine politische Frage von großer Tragweite in dem kategorischen Stile eines Telegramms vorlegte. Es wäre nicht gegen unsre Traditionen gewesen, wenn Werder die an mich nach Varzin gerichtete Frage direct an den Kaiser telegrafirt hätte; denn ich hatte, so unbequem sie mir auch war, nie eine Aenderung in der alten Gewohnheit erlangen können, daß unsre Militärbevollmächtigten in Petersburg nicht, wie andre, durch das Auswärtige Amt, sondern direct in eigenhändigen Briefen an Se. Majestät berichteten, – einer Gewohnheit, welche sich davon herschrieb, daß Friedrich Wilhelm III. dem ersten Militärattaché in Petersburg, dem früheren Commandanten von Kolberg, Loucadou, eine besonders intime Stellung zu dem Kaiser gegeben hatte. Freilich meldete der Militärattaché in solchen Briefen Alles, was der russische Kaiser über Politik in dem gewohnheitsmäßigen vertraulichen Verkehre am Hofe mit ihm gesprochen hatte und war das nicht selten viel mehr, als Gortschakow mit dem Botschafter sprach; der Pruski Fligeladjudant, wie er am Hofe hieß, sah den Kaiser fast[438] täglich, jedenfalls viel öfter als Gortschakow, der Kaiser sprach mit ihm nicht blos über Militärisches, und die Aufträge zu Bestellungen an unsern Herrn beschränkten sich nicht auf Familienangelegenheiten. Die diplomatischen Verhandlungen zwischen beiden Cabineten haben ihren Schwerpunkt, wie zur Zeit Rauchs und Münsters, oft und lange mehr in den Berichten des Militärbevollmächtigten als in denen der amtlich accreditirten Gesandten gefunden. Da indessen der Kaiser Wilhelm niemals versäumte, mir seine Correspondenz mit dem Militärbevollmächtigten in Petersburg nachträglich, wenn auch oft zu spät, mitzutheilen, und politische Entschlüsse nie ohne Erwägung an amtlicher Stelle faßte, so beschränkten sich die Nachtheile dieses directen Verkehrs auf Verspätung von Informationen und Anzeigen, welche in solchen Immediatberichten enthalten waren. Es lag also außerhalb dieser Gewohnheit im Geschäftsverkehr, daß der Kaiser Alexander ohne Zweifel auf Anregung des Fürsten Gortschakow, Herrn von Werder als Organ benutzte, um mir direct jene Doctorfrage vorzulegen. Gortschakow war damals bemüht, seinem Kaiser zu beweisen, daß meine Ergebenheit für denselben und meine Sympathie für Rußland unaufrichtig oder doch nur »platonisch« sei, dessen Vertrauen zu mir zu erschüttern, was ihm denn auch später gelungen ist.

Bevor ich die Werder'sche Anfrage sachlich beantwortete, versuchte ich es mit dilatorischen Rückäußerungen, bezugnehmend auf die Unmöglichkeit, mich auf eine solche Frage ohne höhere Ermächtigung zu äußern, und empfahl auf wiederholtes Drängen, die Frage auf amtlichem, wenn auch vertraulichem Wege durch den russischen Botschafter in Berlin im Auswärtigen Amte zu stellen. Indessen schnitten wiederholte Interpellationen durch Werder'sche Telegramme diesen ausweichenden Weg ab. Inzwischen hatte ich Se. Majestät gebeten, Herrn von Werder, der in Livadia diplomatisch gemißbraucht werde, ohne sich dessen erwehren zu können, telegraphisch an das kaiserliche Hoflager zu berufen und ihm die Uebernahme von politischen Correspondenzen mit mir zu untersagen als eine Leistung, die dem russischen, aber nicht dem deutschen Dienste angehöre. Der Kaiser ging auf meinen Wunsch nicht ein, und da der Kaiser Alexander endlich auf Grund unsrer persönlichen Beziehungen die Aussprache meiner eignen Meinung unter Betheiligung der russischen Botschaft in Berlin von mir verlangte, so war es mir nicht länger möglich, der Beantwortung der indiscreten Frage auszuweichen. Der Sinn meiner Antwort war, unser erstes Bedürfniß sei, die Freundschaft zwischen den großen[439] Monarchien zu erhalten, welche der Revolution gegenüber mehr zu verlieren, als im Kampfe unter einander zu gewinnen hätten. Wenn dies zu unsrem Schmerze zwischen Rußland und Oesterreich nicht möglich sei, so könnten wir zwar ertragen, daß unsre Freunde gegen einander Schlachten verlören oder gewönnen, aber nicht, daß einer von beiden so schwer verwundet und geschädigt werde, daß seine Stellung als unabhängige und in Europa mitredende Großmacht gefährdet würde. Diese unsre Erklärung, welche von uns in zweifelfreier Deutlichkeit zu erzwingen Gortschakow seinen Herrn bewogen hatte, um ihm den platonischen Charakter unsrer Liebe zu beweisen, hatte zur Folge, daß das russische Gewitter von Ostgalizien sich nach dem Balkan hin verzog –, und daß Rußland anstatt der mit uns abgebrochenen Verhandlungen dergleichen mit Oesterreich, so viel ich mich erinnere, zunächst in Pest, zur Anbahnung der Convention von Reichstadt, wo die Kaiser Alexander und Franz Joseph am 7. Juli 1876 zusammentrafen, einleitete unter dem Verlangen, dieselben vor uns geheim zu halten. Diese Convention, nicht der Berliner Congreß, ist die Grundlage des österreichischen Besitzes an Bosnien und der Herzegowina und hatte den Russen während ihres Krieges mit den Türken die Neutralität Oesterreichs gesichert.[440]

 

Fußnoten

 

1 Bernhard Franz Wilhelm von Werder, geb. 1823.