3.
D ie Vollmers lebten am Stadtrand, in einem liebevoll sanierten Fachwerkhaus, dessen Dach mit grauen Schieferschindeln gedeckt war. Der Vorgarten wirkte gepflegt, die niedrige, immergrüne Ligusterhecke war akkurat geschnitten und die Rabatten beidseits des Gartenweges waren zum Teil mit Tannengrün abgedeckt. Vermutlich, um die darunter befindlichen Pflanzen gegen den winterlichen Frost zu schützen. An der Haustür aus dunklem Holz hing ein Kranz aus mittlerweile etwas vertrockneten Tannenzweigen, dekoriert mit hölzernen Sternen, kleinen Zapfen und einer rot karierten Schleife.
Gruber läutete. Einige Minuten lang geschah nichts, doch gerade, als Bennos Partner die Hand hob, um ein weiteres Mal auf die Schelle zu drücken, wurde geöffnet. Nur langsam schwang die schwere Tür nach innen und eine schlanke Frau mittleren Alters erschien auf der Schwelle. Die Ähnlichkeit ihres Gesichts mit dem ihres toten Sohnes war frappierend, doch es drückte eine schwer zu fassende Mischung aus Angst und Hoffnung aus, die Benno nur zu gut kannte. Er hatte sie im Laufe seines Berufslebens schon mehr als ein Mal gesehen und nur selten hatte er positive Nachrichten für die jeweiligen Personen gehabt.
Er holte tief Atem und versuchte sich zu wappnen für das, was ihnen bevorstand. Es lag auf der Hand, dass die Frau vor ihm von dem Leichenfund im Wald wusste. Die Zeitungen waren voll davon gewesen und auch im Fernsehen und im Internet wurde darüber berichtet. Und nicht zuletzt hatte man die Familie um deren Einverständnis zur Herausgabe der zahnärztlichen Unterlagen gebeten.
„Guten Tag, Frau Vollmer“, hörte Benno Gruber jetzt sagen. „Gruber ist mein Name, Kriminalpolizei. Das ist mein Kollege Hagemann. Dürfen wir hereinkommen?“ Er hielt ihr seinen Dienstausweis vor die Nase, doch sie warf nur einen flüchtigen Blick darauf. Stattdessen blinzelte sie, verzog das Gesicht und Benno schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie in diesem Moment bereits im Bilde war. Kurz wankte sie, dann machte sie einen Schritt rückwärts und wies mit einer fahrigen Geste ins Innere des Hauses.
„Bitte“, sagte sie. Er folgte Gruber in die Diele und dann weiter ins Wohnzimmer.
„Nehmen Sie doch Platz“, bat Frau Vollmer und setzte sich mit eckig wirkenden Bewegungen in einen Sessel. Benno nutzte den Moment, um sich kurz umzuschauen, während er sich auf dem Sofa niederließ. Der Raum wirkte gemütlich. Die Decke war niedriger als bei modernen Häusern, dunkel gestrichene Balken lagen frei und gaben dem Zimmer, zusammen mit den grob verputzten und weiß getünchten Wänden, etwas Rustikales. Die meisten Möbel sahen nicht nur alt aus, sie waren es tatsächlich, wenn auch gut erhalten und gepflegt. Das galt sowohl für den schweren Esstisch mit den sechs Stühlen als auch für den wuchtigen Schrank mit den winzigen Butzenscheiben in seinen Türen und den Schreibtisch, der unter einem der drei kleinen Fenster auf der rechten Seite des Raumes stand. Der Computerbildschirm darauf stach heraus, fügte sich aber irgendwie trotzdem, ebenso wie die beiden modernen Bücherregale, einigermaßen harmonisch ins Gesamtbild ein. Auf dem blank polierten Holzfußboden waren gewebte Teppiche in warmen Farben verteilt und an den Wänden hingen gerahmte Familienfotos. Alles war sauber und ordentlich.
„Sind Sie allein im Haus?“, fragte Gruber als Erstes, erhielt darauf jedoch keine Antwort.
„Er ist es, nicht wahr? Sie haben Jonas gefunden“, stellte Frau Vollmer stattdessen fest, sah dabei von Benno zu Gruber und wieder zurück. „Ist es nicht so?“
Benno verspürte den Drang, ihrem Blick auszuweichen, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und nickte schließlich nur.
Ganz egal, was man während der Ausbildung bei der Polizei auch lernte, nichts davon bereitete einen wirklich darauf vor, einem anderen Menschen die Nachricht vom Tod eines Angehörigen zu überbringen. Und völlig egal, wie oft einem das passierte – zur Routine wurde es nie.
Natürlich gab es Notfallseelsorger oder -psychologen, die in größeren Städten mittlerweile schon fast routinemäßig zu solchen Gesprächen hinzu gebeten wurden. Aber hier, in der tiefsten Provinz, tickten die Uhren noch anders. Der eigentlich für solche Fälle zuständige Seelsorger war in Urlaub und seine Vertretung lebte rund 50 Kilometer entfernt in der nächsten Stadt.
Frau Vollmer schluckte, nickte dann ebenfalls und stand auf.
„Ich würde gern … bitte … könnten Sie mich allein lassen?“, sagte sie mit brüchiger Stimme.
„Das täten wir nur äußerst ungern, Frau Vollmer“, sagte Gruber und erhob sich ebenfalls. „Sollen wir jemanden für Sie anrufen?“
„Das wird nicht nötig sein“, erwiderte sie und tastete unsicher nach der Lehne ihres Sessels. Sie wankte und Benno reagierte instinktiv, sprang auf und erreichte sie in dem Augenblick, als ihre Knie endgültig nachgaben. Ihre Augen blieben offen, doch sie fiel wie ein nasser Sack und hing dann kraftlos in seinen Armen.
„Horst? Hilf mir mal“, bat Benno und gemeinsam hievten sie die reglose Frau auf das Sofa. Mit einem Kissen unter den Füßen lagerte Gruber ihre Beine hoch, während Benno nach einem Notarzt telefonierte. Er hatte das Gespräch kaum beendet, als Schritte von der Haustür her zu hören waren und ein Mann das Wohnzimmer betrat.
„Hella?“ Er stockte mitten in der Bewegung. „Was ist denn hier los? Was tun Sie hier? Wer sind Sie?“
Gruber wandte sich dem Neuankömmling zu.
„Guten Tag, Herr Vollmer. Mein Name ist Gruber, das ist mein Kollege Hagemann. Wir sind von der Kripo.“ Er zückte seinen Ausweis und präsentierte ihn dem Mann. „Entschuldigen Sie bitte die Aufregung, aber Ihrer Frau ist wohl schlecht geworden. Mein Kollege, Herr Hagemann, hat schon gerade medizinische Hilfe angefordert.“
„Was ist denn passiert?“, fragte der Mann und eilte an die Seite seiner Frau, die in keiner erkennbaren Weise auf ihn reagierte und nur stumm an die Decke schaute, als weilte ihr Geist komplett in anderen Sphären. „Ist es … ist es wegen Jonas?“
„Ja.“ Gruber nickte und der Mann presste die Lippen zusammen. Er war ein groß und kräftig und hatte eine beginnende Halbglatze, stellte Benno fest. Viel Ähnlichkeit mit dem toten Jungen vermochte er auf den ersten Blick nicht festzustellen, aber das bedeutete ja nichts. Menschen veränderten sich im Laufe ihres Lebens nicht nur innerlich und hier hatte die Natur offenbar beschlossen, Jonas mehr von den mütterlichen Genen profitieren zu lassen. Abgesehen von den blonden Haaren, denn beide Elternteile waren dunkelhaarig.
„Also ist der Tote, den man im Wald gefunden hat, wirklich unser Jonas?“ Es war eine Frage, doch im Ton einer Feststellung ausgesprochen.
„Ich fürchte, ja“, bestätigte Gruber.
Es dauerte keine zehn Minuten, bis der Notarzt eintraf, und nach einer kurzen Untersuchung gab er Frau Vollmer ein Beruhigungsmittel. Währenddessen telefonierte ihr Mann mit jemandem, von dem er als einem Freund der Familie sprach und der kurz darauf an der Haustür schellte.
Bei seinem Eintreffen nickte er den Anwesenden nur flüchtig zu und wandte sich dann an Hanno Vollmer, den Vater des getöteten Jungen. Benno registrierte, dass echter Schmerz in seiner Miene zu lesen war und wendete sich gleich darauf respektvoll ab, als die beiden Männer gemeinsam ihren Tränen freien Lauf ließen.
Da zu diesem Zeitpunkt der Notarzt mit Hella Vollmer beschäftigt war, richtete sich die Aufmerksamkeit des Neuankömmlings als Nächstes auf die anwesenden Polizisten. Er stellte sich Benno und Gruber vor und schüttelte ihnen nacheinander die Hand.
„Ich bin Martin Lehmann, der ehemalige Pfarrer der hiesigen Matthäuskirche. Die Vollmers und ich sind seit Jahren befreundet. Genauer gesagt seit Jahrzehnten. Deswegen hat Hanno – ich meine, Herr Vollmer – mich her gebeten, obwohl ich streng genommen kein Priester mehr bin.“
Ehemaliger Pfarrer?“ Gruber tauschte einen Blick mit Benno.
„Ja.“ Lehmann nickte und verschränkte die Arme. „So nennt man das doch, wenn man einen Beruf nicht mehr ausübt, oder?“
„Ach? Was hat Sie denn bewogen, diesen … Beruf aufzugeben?“, wollte Benno wissen und erntete sowohl von Lehmann als auch von seinem Kollegen irritierte Blicke.
„Am ehesten könnte man wohl sagen, so was wie Konflikte mit der Ausrichtung der Kirche in bestimmten Fragen“, erwiderte ihr Gegenüber schließlich. „Und Sie haben demnach die undankbare Aufgabe gehabt, einer Mutter die traurige Nachricht vom Tod ihres Sohnes zu überbringen, nehme ich an“, wechselte er dann übergangslos das Thema. Die Botschaft war eindeutig, aber auch nur zu verständlich. Immerhin hatten seine Beweggründe für das Ausscheiden aus dem Priesterberuf nichts mit dem Mord an Jonas zu tun. Daher verkniff Benno sich weitere Fragen zu dem Thema.
Er fragte sich natürlich trotzdem, warum der Mann seinen Talar an den Nagel gehängt haben mochte. Aus Altersgründen wohl kaum, denn er schien in etwa dasselbe Alter zu haben wie die Vollmers.
Rein äußerlich hätte Benno in ihm allerdings auch nicht unbedingt einen Vertreter der Geistlichkeit vermutet, sondern eher jemanden, der seinen Lebensunterhalt mit körperlicher Arbeit verdiente. Der Mann war einen guten Kopf größer als er selbst, wirkte ziemlich durchtrainiert und hatte Hände wie Baggerschaufeln.
Gruber nickte und seufzte.
„So ist es.“ Er blickte zum Ehepaar Vollmer hinüber und meinte dann: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns ein paar Fragen zu beantworten?“
Lehmann folgte seinem Blick und erwiderte: „Durchaus nicht. Aber vielleicht sollten wir dazu nach nebenan gehen.“
Gemeinsam verließen sie das Wohnzimmer und Benno fiel auf, wie selbstverständlich der Mann eine Tür ansteuerte, die – wie sich gleich darauf herausstellte – in die Küche führte. Der Eindruck verstärkte sich noch, als Lehmann zielstrebig einen Schrank öffnete und eine Dose sowie einen Keramikbecher herausnahm.
„Möchten Sie auch einen Kaffee?“, wandte er sich an die Polizisten.
Sie lehnten dankend ab, worauf Lehmann offenbar beschloss, ebenfalls zu verzichten und sowohl Dose als auch Becher zurückstellte.
„Setzen Sie sich doch“, bat er dann und nahm selbst auf einem der vier Stühle Platz, die rund um einen kleinen Tisch gruppiert waren.
„Herr Lehmann, wie gut kannten Sie Jonas?“, eröffnete Gruber das folgende Gespräch. Der Gefragte zuckte kurz die Achseln und meinte: „Tja, ich würde jetzt gern sagen, sehr gut. Immerhin war ich mit seinen Eltern schon vor seiner Geburt befreundet. Ich habe ihn getauft, ihm die Erstkommunion gereicht und auch seine Firmung noch vollzogen. Andererseits war er ein Junge in der Pubertät und wer kann schon sagen, dass er weiß, was im Kopf eines Jungen in dieser Phase seines Lebens alles vor sich geht?“
„Seine Mutter erzählte uns, dass er in der Zeit vor seinem Verschwinden öfters im Pfarrhaus gewesen ist. Da ich nicht annehme, dass Sie selbst noch dort wohnen, dürfte er also bei Ihrem Nachfolger gewesen sein. Haben Sie eine Ahnung, was er dort wollte?“, hakte Benno ein.
Einen Moment lang hatte er den Eindruck, Lehmann läge eine heftige Erwiderung auf der Zunge, doch falls dem tatsächlich so war, schluckte er sie herunter. Dafür schien sein Blick Benno jedoch erdolchen zu wollen.
„Das müssten Sie meinen Nachfolger schon selbst fragen, tut mir leid“, sagte er hölzern.
„Das werden wir tun, Herr Lehmann. Aber ich würde trotzdem gerne von Ihnen noch wissen, ob Ihnen irgendjemand einfällt, mit dem Jonas vielleicht Streit gehabt haben könnte.“
Der Mann schien ein wenig in sich zusammenzusacken und schüttelte den Kopf.
„Nein. Jonas war ein Mensch, der es nur schwer ertrug, andere streiten zu sehen und erst recht konnte er es kaum aushalten, wenn er das Gefühl hatte, jemand wäre schlecht auf ihn zu sprechen. Er war der Erste, der sich entschuldigte, wenn er mit jemandem aneinandergeriet, selbst wenn er gar nicht schuld an der Auseinandersetzung war. Er suchte immer den Kompromiss, verstehen Sie?“
Gruber nickte bedächtig.
„Und hatten Sie den Eindruck, er hätte sich irgendwie verändert? War er vielleicht besonders in sich gekehrt oder wirkte nachdenklich, als Sie ihn zuletzt gesehen haben?“
Lehmann runzelte die Stirn und schien zu überlegen. Schließlich schüttelte er den Kopf.
„Nein, nicht wirklich“, sagte er. „Allerdings habe ich Jonas vor seinem Verschwinden bestimmt fast einen Monat lang immer nur flüchtig gesehen. Ein bisschen hatte ich das Gefühl, er geht mir aus dem Weg, aber ich wüsste ehrlich nicht, warum er das hätte tun sollen. Eigentlich ist unser Verhältnis immer von großer Offenheit geprägt gewesen. Wäre er nicht verschwunden, hätte ich ihn sicher darauf angesprochen, aber so …“ Erneut zuckte der Mann die Achseln.
„Gut, dann vielen Dank fürs Erste, Herr Lehmann.“ Gruber stand auf und streckte dem ehemaligen Priester die Hand hin, der sie ergriff und schüttelte. „Sollte Ihnen noch etwas einfallen, melden Sie sich bitte bei uns und umgekehrt werden wir auf Sie zu kommen, sofern sich noch weitere Fragen ergeben.“
„Selbstverständlich. – Haben Sie vor, Jonas’ Eltern jetzt noch zu befragen?“, wollte Lehmann wissen. Gruber schüttelte den Kopf.
„Grundsätzlich ja, aber nicht gerade heute. Die Kollegen haben ja schon nach seinem Verschwinden das Wichtigste ermittelt und alles andere hat sicher Zeit bis morgen. – Wir finden allein raus, vielen Dank.“
Benno reichte dem Mann ebenfalls die Hand und dann verließen sie das Haus.
„An so was gewöhnt man sich nie“, stellte Gruber kopfschüttelnd fest, als sie endlich wieder in ihrem Dienstwagen saßen und sich auf den Rückweg ins Präsidium machten. „Egal, wie lange ich den Job jetzt mache, so was geht mir immer an die Nieren.“
„Stimmt“, pflichtete Benno ihm bei und sah aus dem Seitenfenster auf das Haus der Vollmers. Der Krankenwagen parkte mit eingeschaltetem Blaulicht davor, ebenso das Notarzteinsatzfahrzeug. „Eltern sollten ihre Kinder nicht überleben“, fügte er nachdenklich hinzu.
„Mhm. Aber sag mal, was sollte denn die Frage, warum der Lehmann seinen Beruf an den Nagel gehängt hat?“, wollte Gruber wissen. Benno zuckte die Achseln.
„Ach, das war nur so eine spontane Eingebung von mir“, sagte er. „Das hatte im Grunde nichts zu bedeuten. Ich hab nur noch nie einen Pfaffen getroffen, der freiwillig aus dem Verein ausgeschieden ist. Schon gar nicht einen Katholiken.“
„Aha“, machte Gruber. Eine Weile hingen sie schweigend ihren Gedanken nach. „Was hältst du denn sonst von diesem Lehmann?“, fragte Gruber dann. Überrascht hob Benno die Brauen.
„Wie meinst du das? Was ich von ihm halte?“
„Na ja, ist dir nicht aufgefallen, dass der Mann sich im Haus der Vollmers ziemlich gut auszukennen schien? Der wusste sogar, wo der Kaffee und die Tassen zu finden sind“, meinte sein Partner.
„Er hat doch selbst gesagt, dass er und die Vollmers seit ewigen Zeiten befreundet sind“, erklärte Benno.
„Stimmt schon“, gab Gruber zu. „Trotzdem, mir kam das komisch vor. Mein Eindruck war, dass er da regelrecht zu Hause ist. Ist das normal für einen Pfarrer, dass er eine so enge Freundschaft zu Gemeindemitgliedern pflegt?“
„Kann ich dir nicht sagen.“ Benno schüttelte den Kopf. „Ich zähle keine Pfarrer zu meinen Freunden. Genauer gesagt bin ich schon seit meiner Konfirmation in keiner Kirche mehr gewesen.“
„Also bist du ein Ketzer? Ein Protestant?“ Gruber grinste ihn an.
„Nope.“ Benno erwiderte das Grinsen. „Nicht mehr. Ich bin mit neunzehn komplett aus dem Laden ausgetreten. Damals hat der Pfarrer unserer Gemeinde meine Eltern zu überzeugen versucht, dass Homosexualität eine Krankheit ist und wenn ich mir zu dem Zeitpunkt auch über vieles im Zusammenhang mit meiner Sexualität noch nicht im Klaren war, dann zumindest doch so viel, dass das ausgemachter Bullshit ist.“
Gruber nickte zustimmend.
„Und deine Eltern?“
„Die haben den Pfaffen hochkant aus der Wohnung geworfen und anschließend die Gemeinde gewechselt.“ Benno lachte. „Meine Altvorderen sind schon ganz in Ordnung.“
„Scheint so.“ Gruber seufzte. „Solche Eltern hätte Dominik Werner auch gebrauchen können.“
„Mhm. Allerdings.“ Benno wurde ernst und dachte an den Jungen, der drei Menschen, darunter seine eigenen Eltern, umgebracht hatte. Beinahe wären ihm auch Benno und Dennis zum Opfer gefallen, aber glücklicherweise hatte das noch verhindert werden können.
Derzeit saß der junge Mann in der geschlossenen Abteilung einer forensischen Psychiatrie und wartete auf seinen Prozess. Benno seufzte.
„Der Kleine kann einem echt leidtun. Trotzdem sehe ich das etwas anders als du“, sagte er.
„Wovon redest du?“ Gruber blickte ihn an, das Gesicht ein einziges Fragezeichen.
„Na ja, du hast doch neulich mal gesagt, dass alle Eltern ihre Kinder verkorksen. Auf die eine oder andere Weise.“
„Richtig.“ Gruber nickte. „Und dazu stehe ich auch.“
„Ich nicht.“ Benno grinste schief und verschränkte die Arme vor der Brust. „Mein Verkorkst-Sein verdanke ich zum Beispiel ganz sicher nicht meinen Eltern. Das hab ich mir selbst eingebrockt.“
„Ach? Hast du?“ Sein Partner lüpfte skeptisch eine Braue. „Also hast du an dem besagten Abend diese Schwulendisco mit dem Vorsatz aufgesucht, dass dir irgendein Kerl was ins Glas schüttet und dich dann abschleppt?“
Benno runzelte die Stirn und sein Grinsen erlosch.
„Was?“, fragte er irritiert. Gruber zuckte die Achseln.
„Na, wie soll ich das denn sonst verstehen, dass du dir dein Trauma selbst eingebrockt hast?“
„Das ist totaler Quatsch und das weißt du auch!“, gab Benno zurück. Worauf wollte sein Kollege denn damit hinaus? „Und nur um weiterem Blödsinn deinerseits vorzugreifen: Meine Eltern sind jedenfalls ganz sicher nicht schuld an der Sache! Die wussten nicht mal, wo ich an dem Abend hinwollte!“
„Warum nicht?“, hakte Gruber nach und Benno stutzte. Was sollte das denn jetzt werden?
„Hast du mit achtzehn deinen Eltern immer alles erzählt?“, konterte er mit einer Gegenfrage.
„Ganz sicher nicht“, gab Gruber lächelnd zu.
„Na bitte!“
„Aber wenn ich dich neulich richtig verstanden habe, hast du ihnen doch bis heute nicht erzählt, was dir damals passiert ist, oder?“ Gruber ließ nicht locker.
„Nein. Habe ich nicht“, brummte Benno und zog die Brauen noch weiter zusammen. Hoffentlich bemerkte sein Partner dadurch, dass er im Begriff war, eine Grenze zu überschreiten.
„Und wieso nicht?“ Entweder war er extrem begriffsstutzig oder …
„Weil es nun mal Dinge gibt, die kann man nicht mal seinen Eltern erzählen. Oder gerade denen nicht!“, gab Benno genervt zurück. „Und nach dem ersten Besuch eines Schwulenclubs morgens in einem schmuddeligen Hotelzimmer aufzuwachen, festzustellen, dass man einen totalen Blackout hat und zu allem Überfluss auch noch vergewaltigt wurde, gehört für mich definitiv in diese Kategorie! Kapiert?“
Gruber schwieg. Lange. Schließlich holte er tief Atem und sagte: „Weißt du, wenn ich einen Sohn hätte und dieser Sohn wäre derjenige, dem das passiert wäre, dann würde ich es wissen wollen. Um ihm beizustehen, ihm zu zeigen, dass er nichts falsch gemacht hat, und um ihm zu helfen, das Geschehene zu verarbeiten. Ich würde mir wünschen, dass er mir diese Chance gibt, verstehst du?“ Er drehte den Kopf und sah Benno an. „Weißt du, Benno, ich kenne deine Eltern nicht, aber ich denke, sie haben einen guten Job gemacht, was dich angeht. Allein ihre Reaktion auf das Ansinnen eures Pfarrers beweist das zur Genüge. Aber ich denke auch, wenn du dich ihnen nach dieser Geschichte damals nicht anvertrauen konntest, dann hat das einen Grund. Nicht, dass ich Psychologe wäre oder so was. Das ist nur meine eigene, ganz private Meinung.“ Er zuckte die Achseln und warf Benno einen raschen Blick zu. „Und wenn ich von verkorksen rede, dann meine ich damit nicht, dass Eltern ihren Kindern immer einen psychischen Knacks anerziehen. Gott bewahre! Aber wir nehmen doch alle aus unserer Kindheit und Jugend Dinge mit, Verhaltensweisen, Ansichten, Denkmuster, die uns selbst oft gar nicht richtig bewusst sind. Und manche davon sind durchaus schädlich. Sie schaden uns selbst, gerade weil sie so versteckt in unserem Unterbewusstsein verankert sind und unser Denken und Handeln von dort aus beeinflussen. Du kennst doch sicher selbst die Statistiken, die für uns, in unserem Job, relevant sind. Dass Kinder, die misshandelt oder missbraucht wurden, als Erwachsene oft selbst auffällig werden und den ganzen Kram. Dominik Werner ist da ja nur ein Extrembeispiel.“ Er schnaufte und schüttelte den Kopf. „Was ich damit sagen will, ist nicht, dass deine Eltern schuld an deiner Vergewaltigung waren oder dass sie kein Verständnis für dich gehabt hätten, wenn du ihnen davon erzählt hättest. Darüber kann ich mir gar kein Urteil erlauben. Aber ich glaube, dass deine innere Haltung, dich niemandem anzuvertrauen und alles mit dir selbst abzumachen, irgendwoher kommen muss. Genau wie deine Neigung zu Alleingängen im Job. Irgendwo in dir steckt scheinbar was, das dich glauben lässt, du könntest dich auf niemanden verlassen außer auf dich selbst. Ich meine das nicht irgendwie böse oder so, aber du kennst ja sicher auch den blöden Spruch, dass man die Fehler und Probleme anderer immer sehr viel besser erkennt als die eigenen.“
Im ersten Moment wollte Benno widersprechen, im nächsten Moment wurde ihm jedoch klar, dass er es lediglich aus einer Art Trotzreaktion heraus getan hätte. Er schwieg also stattdessen und dachte über das Gehörte nach. Hatte Horst recht mit seiner Einschätzung?
„Ich hab mit Dennis darüber gesprochen“, murmelte er schließlich.
„Was?“ Gruber war abgelenkt gewesen, weil er gerade eine Kreuzung überqueren musste, und hatte ihn scheinbar nicht verstanden.
„Am Samstag. Als ich ihn aus der Klinik abgeholt habe, hab ich mit Dennis darüber geredet. Über das, was damals passiert ist“, wiederholte Benno.
„Gut.“ Gruber lächelte und nickte ihm zu. „Dann … darf ich wohl annehmen, zwischen euch läuft alles so weit gut?“
„Mhm. Darfst du. Details erzähle ich dir aber trotzdem nicht“, grummelte Benno bereits wieder halb im Spaß und fühlte, wie seine Ohren sich leicht erwärmten.
„Ich will auch gar keine hören. Hab ich doch schon gesagt. Verschon mich bloß damit, um Himmels willen!“ Gruber lachte, Benno stimmte ein und die leichte Missstimmung zwischen ihnen verflog.
Kurze Zeit später bog Gruber auf den Parkplatz des Präsidiums und stellte den Dienstwagen vor dem Eingang ab. Sie stiegen aus, betraten das Gebäude und Benno steuerte als Erstes den Kaffeeautomaten an.
„Für dich auch einen?“, fragte er über die Schulter hinweg in Grubers Richtung.
„Gern. Mit Milch und Zucker.“ Er blieb stehen und sah grinsend zu, wie Benno an dem Gerät hantierte.
„Was?“, wollte der wissen und schaute fragend, als er Grubers Blick bemerkte.
„Ach, nichts. Ich freu mich bloß, dass du doch noch zur Einsicht gelangt bist“, erwiderte der ältere Beamte.
„Hä?“ Benno verstand nur Bahnhof.
„Nun sag bloß, du hast unsere kleine Unterhaltung über Vorzimmerdrachen, die ihrem Chef den Kaffee servieren, schon wieder vergessen?“ Gruber nahm seinen Becher entgegen, pustete darüber und trank einen vorsichtigen Schluck.
„Ach, das meinst du.“ Benno musste lachen. Dann zuckte er die Achseln. „Erwartest du jetzt etwa, dass ich mir High Heels anziehe und die Fingernägel rot lackiere, bloß weil ich dir am Automaten einen Kaffee gezogen habe?“ Er entnahm den nächsten Becher aus dem Automaten und trank selbst davon. „Den ich übrigens nicht für dich umgerührt habe!“, flachste er, während sie gemeinsam den Flur zu ihrem Büro hinuntergingen.
„Du in High Heels?“ Gruber zog die Brauen zusammen und tat, als würde er ernsthaft darüber nachdenken. „Ich weiß nicht. Nur, wenn du dazu einen Rock kombinierst. Sonst kommen deine strammen Waden ja gar nicht richtig zur Geltung.“
Benno prustete und meinte dann: „Das bedeutet aber, dass du dann eventuelle Verfolgungsjagden zu Fuß allein durchführen musst. Das ist dir schon klar, oder?“
Gruber seufzte theatralisch und schüttelte den Kopf.
„Also, ihr Schwulen seid auch nicht mehr das, was ihr mal wart, was? Nicht mal …“
Ein Geräusch ließ die beiden innehalten und sich umdrehen. Zwei Streifenpolizisten waren soeben im Begriff gewesen, eins der Büros zu verlassen und standen nun da wie vom Donner gerührt. Benno kannte die beiden vom Sehen, hatte bislang allerdings nicht wirklich viel mit ihnen zu tun gehabt und wusste nicht einmal ihre Namen auswendig. Ihren Blicken nach zu urteilen hatten sie jedoch genau gehört, was Gruber gerade gesagt hatte, und ihm schwante, dass seine Sexualität in der nächsten Zeit zum Tratschthema Nummer eins des Reviers avancieren würde.
Nach einem Moment des Zögerns nickten die beiden Uniformierten ihnen zu, schoben sich auf den Flur und gingen wortlos davon.
„Scheiße.“ Gruber sah ihnen nach und schüttelte den Kopf. „Das war bescheuert von mir. Ich hätte das nicht so unüberlegt rausposaunen sollen. Nicht hier im Flur.“
Benno zuckte die Achseln.
„Was soll’s. Irgendwann wäre es sowieso rausgekommen.“ Er klopfte Gruber auf die Schulter und grinste, gab sich dabei aber lässiger, als er sich innerlich fühlte. „Konzentrieren wir uns lieber auf unseren Fall.“
In Wirklichkeit ahnte er jedoch, dass das ab sofort wohl leichter gesagt als getan sein würde.