9.
„
D
er Typ war ja ein echtes Sahneschnittchen, aber das war auch kein Ausgleich dafür, dass er mir fast 200 Euro für das bisschen Arbeit abknöpfen wollte“, sagte Dennis. Sie saßen einander an Bennos Esstisch gegenüber und eigentlich hatte es ein netter Abend zu zweit werden sollen. Benno hatte Pizza mitgebracht, stocherte jetzt aber reichlich abwesend in seiner eigenen herum, während er nur mit einem halben Ohr seinem Freund zuhörte, der ihm von seinem eigenen Tag zu erzählen versuchte. Stattdessen drehten sich seine Gedanken hauptsächlich um die nachmittägliche Unterredung mit Andreas Kolwitz.
„Mhm“, machte er, obwohl er kaum was von dem Gesagten mitbekommen hatte. Sein Freund seufzte, stockte kurz, dann fuhr er fort: „Aber na ja, alles halb so wild. Nachdem ich ihm erst mal einen geblasen hatte, ist er auf 150 runtergegangen.“
„Cool.“ Benno blinzelte, als ihm mit einiger Verzögerung bewusst wurde, was Dennis da gerade von sich gegeben hatte. „Moment! Du hast was?“
„Na endlich“, konstatierte Dennis ironisch und grinste. „Ich hab schon befürchtet, du kommst heute gar nicht mehr aus deinem Wolkenkuckucksheim.“
„Was? … Oh.“ Benno begriff und schämte sich augenblicklich. „Tut mir leid. Das war nicht okay von mir. Es ist nur … na ja, dieser Fall …“ Er legte seine Gabel hin und seufzte. „Das beschäftigt mich einfach.“
„Du meinst den Mord an dem Jungen?“, vergewisserte sich Dennis. Benno nickte.
„Ja. Die Familie ist ziemlich religiös und noch dazu erzkonservativ. Mit der Entdeckung, dass der Sohn schwul ist, sind sie wohl nicht so gut klargekommen und …“ Er hielt inne und verzog das Gesicht. „Eigentlich darf ich dir das alles ja gar nicht erzählen“, fügte er hinzu. Sein Freund machte mit der Hand eine Geste, als würde er einen Reißverschluss vor seinem Mund zuziehen.
„Meine Lippen sind versiegelt“, erklärte er und fasste nach Bennos Hand. „Allerdings fände ich es wirklich schöner, wenn du und ich jetzt allein hier miteinander am Tisch sitzen würden. Also, ohne irgendwelche toten Jungs und verklemmte Eltern.“ Sein Daumen streichelte Bennos Handrücken.
„Stimmt. Das wäre definitiv schöner“, gab der zu. „Ich reiß mich ab jetzt zusammen, okay? Also, was war jetzt mit dem heißen Handwerker?“
„Elektriker, mein Herzblatt. Der Mann war Elektriker. Und er hat den Fehler im Nullkommanichts gefunden und behoben. Danach hat er allerdings die Frechheit besessen, für das bisschen Arbeit einen Wucherpreis zu verlangen.“
Dennis schob sich ein weiteres Stück Pizza in den Mund, kaute und spülte mit einem Schluck Rotwein nach.
Anschließend betrachtete er Benno schweigend und spielte mit dessen Fingern, indem er sie mit seinen eigenen verschränkte.
„Weißt du, mir ist schon bewusst, dass ich manchmal wirke, als würde ich rein gar nichts ernst nehmen, aber ich begreife durchaus, was es bedeutet, mit einem Bullen zusammen zu sein. Noch dazu mit einem, der bei der Kripo ist und Schwerverbrecher jagt. Das ist bestimmt oft genug belastend. Und wenn es dir hilft, dann höre ich dir auch zu, okay? – Ja, schon klar“, beschwichtigte er, als Benno den Mund öffnete, um zu widersprechen. „Ich weiß, dass du mir nichts über die Ermittlungen oder über Verdächtige erzählen darfst. Aber du bist auch bloß ein Mensch und hast Grenzen. Abgesehen davon kann ich erstens schweigen und zweitens musst du mir ja keine ermittlungstaktisch wichtigen Dinge anvertrauen. Manchmal hilft es vielleicht schon, einfach mal die eigenen Gedanken … na ja, vielleicht ein bisschen zu entrümpeln, verstehst du was ich meine?“
Benno lächelte und erwiderte den Druck von Dennis’ Fingern, während er nickte.
„Ja, ich denke schon. Und ich danke dir wirklich sehr für das Angebot.“
„Aber?“ Dennis hob auffordernd die Brauen.
„Aber was?“
„Aber du wirst keinen Gebrauch davon machen, oder?“
Benno seufzte einmal mehr.
„Ich würde es gern tun. Aber wieso soll ich dir den ganzen Mist, mit dem ich mich rumschlage, auch noch aufbürden?“
„Zum Beispiel, weil Menschen, die eine Beziehung führen, so was tun? Kleiner Tipp, mein Schatz: Das nennt sich einander vertrauen.“
Benno war noch nicht ganz überzeugt und sah Dennis zweifelnd an. Zu lange war er es schon gewohnt, alles mit sich allein ausmachen zu müssen. Daniel hatte niemals hören wollen, was er so tagtäglich in seinem Beruf erlebte, im Gegenteil. Eher hatte er sich jedwede Erwähnung irgendwelcher potenziell belastenden Dinge strikt verbeten.
Aber Dennis ist nun mal nicht Daniel
, rief er sich in Erinnerung. Nicht zum ersten Mal.
„Na komm“, sagte Dennis. „Spuck es schon aus. Was ist es, was dich heute Abend so sehr beschäftigt, dass du ein Gesicht ziehst wie sieben Tage Dreckswetter und geistig in irgendwelchen fremden Sphären schwebst, anstatt meine zweifellos angenehme Gesellschaft voll und ganz zu würdigen?“
Diese Frage brachte Dennis zunächst ein abgrundtiefes Seufzen ein, dann ein Lächeln und schließlich gab Benno sich einen Ruck und sprang mit einem großen Satz über seinen Schatten.
„Also, wenn du es wirklich wissen willst: Ich hatte heute eine Unterredung mit einem katholischen Geistlichen, dem Pfarrer der hiesigen Matthäusgemeinde, den der tote Junge in der Zeit vor seiner Ermordung häufiger aufgesucht hat. Zumindest sagt seine Mutter das und er selbst hat es auch bestätigt“, entgegnete Benno und runzelte unwillkürlich die Brauen.
„Ach, du meine Güte! Dir bleibt in deinem Job aber auch nichts erspart“, flachste Dennis, allerdings nur halbherzig. „Deinem Ausdruck nach zu schließen war diese Unterredung nicht übermäßig erfreulich, oder irre ich mich?“
Benno schüttelte den Kopf.
„Nein. Und ehrlich gesagt glaube ich, der Mann verheimlicht uns was. Irgendwas, das mit dem Fall zu tun hat. Mein Bauchgefühl sagt, es ist was Wichtiges, aber er redet nicht. Stattdessen hat er sich bloß hinter Allgemeinplätzen verschanzt und auf die offiziellen Äußerungen seines heiligen Oberhaupts in Rom verwiesen.“ Er schnaubte abfällig. „Sein Gesicht hat dabei allerdings was völlig anderes gesagt, wenn du mich fragst.“
„Was anderes? Wie meinst du das?“, hakte Dennis nach.
„Na, als ob er … ich weiß nicht, im Grunde schon gern reden würde, sich aber nicht traut oder so ähnlich.“
Dennis schien zu überlegen.
„Denkst du, er hat vor irgendwas oder irgendwem Angst?“
Benno zuckte die Achseln.
„Angst ist vielleicht ein zu großes Wort, aber … Obwohl – doch, ja, im Grunde wirkte der Mann, als hätte er Angst“, bestätigte er.
„Hm“, machte Dennis und rieb sich das Kinn. „Der Kleine war also schwul. Wie steht es denn um den fraglichen Priester selbst?“, fragte Dennis als Nächstes. Benno wölbte erstaunt die Brauen.
„Na ja, ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Warum fragst du?“, wollte er wissen.
Sein Freund zuckte die Achseln.
„Ich weiß nicht, aber so, wie du die Sache beschreibst, klingt es schon ein bisschen nach einer miesen Seifenoper, findest du nicht? Ein junger Mann, der gerade seine Sexualität entdeckt hat, oder besser gesagt, deren Abweichung von der gesellschaftlich akzeptierten Norm. Dazu ein erzkonservatives Elternhaus und als Sahnehäubchen der gut aussehende katholische Geistliche. Ein bisschen wie Die Dornenvögel
in schwul, oder?“
„Findest du nicht, dass du da ein bisschen viel reininterpretierst? Und wann hab ich je gesagt, der Pfarrer wäre gut aussehend?“, fragte Benno skeptisch, obwohl Dennis im Grunde lediglich das in Worte fasste, was er selbst – wenn auch in wesentlich nüchterneren Bahnen – ebenfalls schon gedacht hatte.
„Was denn? Du hast doch vorhin selbst gesagt, die Familie wäre mit der Entdeckung, dass der Junge schwul war, nicht gut klargekommen und nachdem sogar in der Zeitung gestanden hat, dass die Vollmers seit Jahren in der hiesigen katholischen Gemeinde recht aktiv gewesen sind, schließe ich mal daraus, dass sie – wie man so schön sagt – einen ziemlichen Stock im Arsch haben“, verteidigte Dennis seine Theorie. „Der Junge war siebzehn Jahre alt, noch ziemlich jung, also hatte er vielleicht gerade erst gecheckt dass er doch anders tickt, als seine Altersgenossen und vor allem anders, als Mami und Papi sich das für ihren katholischen Musterspross gewünscht hätten“, führte er weiter aus. „Und dass der Junge ausgerechnet den Pfarrer in letzter Zeit öfters besucht hat, ist – soweit ich mich erinnere – nicht gerade das typische Verhalten eines durchschnittlichen Siebzehnjährigen. Noch nicht mal, wenn er aus einer religiös verknöcherten Familie kommt und vermutlich mit Weihwasser anstelle von Milch großgezogen wurde. Ich spekuliere also, dass er entweder …“ Dennis hob den rechten Daumen. „ … total mit sich und seiner Sexualität gehadert und deshalb anderswo nach Hilfe gesucht hat. Weil er sie zu Hause nicht bekam oder weil er gehofft hat, der Priester könnte ihn gesundbeten, was weiß ich, spielt auch erst mal keine Rolle. Oder aber …“ Der Zeigefinger gesellte sich zum ausgestreckten Daumen. „ … er schwärmte für den Gemeindepfarrer, was in Anbetracht aller Umstände zumindest nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Zufällig weiß ich nämlich selbst, dass der Seelsorger der hiesigen Katholiken noch recht jung und außerdem wirklich attraktiv ist, denn ebenso zufällig habe ich selbst letztes Jahr mit dem Mann gesprochen, als ich die Beerdigung von Dominiks Eltern organisieren musste. In beiden Fällen wiederum ergeben zum einen regelmäßige Besuche im Pfarrhaus durchaus Sinn, zum anderen bringt es mich zu der Frage, wie denn der gute Hirte selbst so tickt.“
Triumphierend sah er Benno an, dem nun vor Verblüffung angesichts dieser unerwartet ausführlichen Kette an Folgerungen seines Freundes die Kinnlade herunterklappte, und fuhr dann fort: „Tja, leider bin ich als typisches Kind des Zeitalters der Privatsender und bunten Boulevardblätter selbst geschädigt genug, um zu vermuten, dass die nicht eben alltägliche Tatsache, dass ein schwuler Siebzehnjähriger einen, wohlgemerkt, jungen
Priester häufiger in dessen vier Wänden aufsucht, zumindest den Verdacht nahelegt, da könnte womöglich mehr gelaufen sein als geistlicher Beistand oder gemeinsames Gebet um die Korrektur eines göttlichen Irrtums an der Natur. Und eben deshalb stelle ich auch die Frage nach der sexuellen Veranlagung des Priesters. Habe ich noch irgendwas übersehen oder war das einleuchtend, Herr Kommissar?“
Benno starrte ihn verblüfft an.
„Tja“, räumte er schließlich kopfschüttelnd ein. „Damit hast du meine eigenen Gedankengänge ziemlich gut zusammengefasst. Nur leider ist rein gar nichts davon erwiesen und somit alles blanke Spekulation.“
„Also hast du den geistlichen Herrn nicht auf seine sexuellen Vorlieben angesprochen, vermute ich mal.“ Dennis legte den Kopf schief.
„Nein“, bestätigte Benno. „Ich habe ihn zwar gefragt, wie seine Haltung zum Schwulsein aussieht, aber da hat er sich mit den erwähnten Plattitüden aus der Affäre gezogen und behauptet, keine eigene Meinung zu haben, da ihm das als Mann der Kirche nicht zustünde. Weil es angeblich bedeuten würde, seinem Glauben und den Vorgaben seiner Kirche zuwiderzuhandeln.“ Erneut schnaubte er. „Bullshit, wenn du mich fragst.“
„Ach, das kann man so oder so sehen“, meinte Dennis.
„Wie meinst du das?“
„Na ja, überleg doch mal. Im Grunde hat er dir damit doch schon eine ziemlich eindeutige Antwort gegeben. Indem er sagt, dass seine eigene Einstellung den Vorgaben der katholischen Kirche zuwiderlaufen würde, sagt er doch nichts anderes, als dass er kein
Problem mit Homosexualität hat, ergo legt das doch wiederum den Verdacht nahe, dass er selbst womöglich ebenso gestrickt ist. Zumindest ein kleines bisschen, meinst du nicht?“, erläuterte Dennis.
„Hm, stimmt. Da könntest du allerdings recht haben.“ Benno nickte nachdenklich. „Hast du eigentlich schon mal erwogen, selbst in den Polizeidienst zu gehen? Mit deiner Kombinationsgabe hättest du da womöglich eine glänzende Laufbahn vor dir.“ Er grinste schief.
„Ach, weißt du, ich beschränke mich lieber darauf, den Privatermittler zu geben und meinen persönlichen Lieblingsbullen in seinem Job zu unterstützen, indem ich ihn ab und zu an meinen überragenden geistigen Fähigkeiten partizipieren lasse“, feixte sein Freund zurück und hauchte ihm einen Kuss in die Handfläche. „Damit mache ich dich dann langsam, aber sicher von mir abhängig und ehe du richtig weißt, wie dir geschieht, kannst du nicht mehr ohne mich leben.“
Jetzt musste Benno lachen.
„Dir ist aber schon klar, dass du diesen tollen Plan jetzt gerade offen ausgeplaudert hast, oder? Jetzt weiß ich Bescheid und werde mich zukünftig hüten, dir noch weiter zu verfallen“, erwiderte er.
„Ach, wirklich?“ Dennis wurde ernst und beugte sich über den Tisch. „Eigentlich hatte ich ja gehofft, es wirkt bereits. Wenigstens ein bisschen.“
Bennos Herzschlag beschleunigte sich. Er neigte sich ebenfalls nach vorn, bis sein Gesicht dicht vor dem von Dennis war.
„Tut es ja“, flüsterte er und verband ihre Lippen zu einem kurzen Kuss. Für mehr war ihre Position zu unbequem, die Tischplatte zu breit. Doch er dachte nicht daran, sich die Stimmung davon vermiesen zu lassen, stand auf, ohne die Finger aus denen seines Freundes zu lösen, zog Dennis ebenfalls hoch und dann an sich. „Und wie“, murmelte er. „Merkst du das nicht?“
Erneut fanden sich ihre Lippen und sie schmusten voller Zärtlichkeit miteinander, hielten sich im Arm und Benno ließ sich einfach treiben. Gedankenlos, schwerelos und ohne dass in seinem Geist und Körper Raum gewesen wär, für irgendetwas anderes als seine wachsende Erregung.
Dabei hielt Dennis sich wie gewohnt zurück und berührte ihn nur über der Kleidung. Erst als Benno sein Becken enger an ihn drängte und seine eigene Erektion langsam an der seines Freundes zu reiben begann, rückte der ein Stückchen ab und schaute ihn fragend an.
„Entschuldige, falls ich jetzt die Stimmung kaputtmache“, raunte Dennis heiser und räusperte sich. „Aber vielleicht sollten wir hier besser stoppen. Ich fürchte, sonst kann ich für nichts garantieren.“
Bennos Herz schlug heftig in seiner Brust. Ein Hauch Beklemmung drohte nach ihm zu greifen, aber er verscheuchte ihn energisch. Er wollte
Dennis doch mindestens genauso sehr wie der ihn! Und sein Liebster hatte weiß Gott auch schon mehr als ein Mal bewiesen, dass er seine – Bennos – Bedürfnisse über die eigenen stellte.
Na ja, Daniel hat das am Anfang auch getan. Zumindest hat er das behauptet und was ist dabei herausgekommen?
, dachte er unwillkürlich, rief sich aber schon im nächsten Moment harsch zur Ordnung.
Dennis war nicht Daniel. Nicht nur das, die beiden Männer waren so grundverschieden, wie sie nur sein konnten! Vermutlich sollte er sich das endlich mal hinter die Ohren schreiben …
Benno schluckte. Trotz seiner Erregung, trotz seines Verlangens war er nervös und zitterte buchstäblich wie Espenlaub.
„Aber vielleicht … vielleicht möchte ich das ja gar nicht“, flüsterte er und legte die Stirn an Dennis’.
„Vielleicht möchtest du was nicht?“, fragte sein Freund, hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Lippen und musterte ihn fragend aus geweiteten Pupillen, die das Blau seiner Augen mittlerweile zu verschlingen drohten. Ein weiterer, deutlich sichtbarer Beweis seiner eigenen Erregung.
„Dass … dass du nicht …“ Benno musste tief Luft holen, weil ein plötzlicher Anfall wilder Panik ihn der Sprache beraubte und zu lähmen drohte. Mühsam rang er ihn nieder, wollte verhindern, dass sein Freund es bemerkte, doch natürlich hatte der es längst mitbekommen. Dennis’ Antennen waren, was Benno betraf, mehr als fein justiert.
„Pssst“, machte er beruhigend, schlang die Arme um seinen Freund und wiegte ihn sanft. „Es ist alles gut.“
Doch diesmal beruhigte Benno sich nicht wie sonst, im Gegenteil wallte jähe Wut in ihm hoch, ließ ihn regelrecht unwirsch reagieren und ein ärgerliches Knurren ausstoßen.
„Nein!“ Mit einer heftigen Bewegung befreite er sich, suchte jedoch schon im nächsten Moment wieder Dennis’ Nähe, schlang seine Arme um dessen Nacken und vergrub Schutz suchend das Gesicht an seiner Brust. Benno hasste sich selbst in diesem Augenblick, seine Schwäche und seine Unfähigkeit, das zu tun, was er tief drinnen mehr wollte als alles andere. Einmal einfach nur im Augenblick zu existieren, dem Verlangen nachzugeben, alle Bedenken, ohne großartig zu überlegen über Bord zu werfen, schon weil er ja im Grunde sowieso wusste, wie unsinnig sie waren.
Aber sein Kopf und sein Bauch stritten unvermindert um die Vorherrschaft über seine Reaktionen, warfen ihn zwischen Fluchtgedanken und dem Wunsch nach mehr körperlicher Nähe wild hin und her, Oder waren es vielleicht doch eher Kopf und Schwanz? Ach, egal …
„Nein“, wiederholte er heftig. „Es ist nicht
alles gut! Ich … verdammt, ich liebe dich und ich bin scharf auf dich! Und ich hab’s so was von satt, dass ich dir offenbar das Gefühl gebe, mich ständig mit Samthandschuhen anfassen zu müssen. Ich will mit dir schlafen, will erleben, wie sich das anfühlt, und nicht, dass du dich immer nur aus Rücksicht auf mich zurückhältst und deine eigenen Bedürfnisse unterdrückst, aus Sorge, dass ich ausflippen könnte! Scheiße noch mal, ich will endlich wieder ein Mann sein und keine Memme mehr! Ich … verflucht noch mal, ich will einfach mein Leben zurück!“
Nach diesem Ausbruch fühlte Benno sich atemlos, jeglicher Kraft beraubt. Seine Wut erlosch ebenso schnell, wie sie aufgeflammt war und er stand mit hängenden Schultern da, den Blick Hilfe suchend auf Dennis gerichtet, als hätte der die Lösung für alles. Doch dessen Gesicht spiegelte nur Bennos eigene Empfindungen: Rat- und Hilflosigkeit, kombiniert mit noch etwas anderem. War das etwa Mitleid?
Ein kalter Guss hätte kaum ernüchternder sein können. Enttäuschung machte sich in Benno breit. Dennis bemitleidete ihn also? Wie erbärmlich sich das anfühlte. Aber was hatte er auch anderes erwartet? Ein Kerl, der als erwachsener Mann nicht in der Lage war, sich unbefangen auf körperliche Nähe einzulassen, war doch fast schon so was wie ein Krüppel, oder? Zumindest aber frigide und das hatte Daniel ihm am Ende ja auch vorgeworfen. Da konnte er im Grunde ja schon dankbar sein, dass von Dennis lediglich Mitleid kam und keine Demütigungen wie von seinem Ex. Trotzdem krümmte Benno sich innerlich vor Scham.
„Es tut mir …“, setzte sein Freund an, doch er schnitt ihm mit einer harschen Handbewegung das Wort ab.
„Spar dir das“, fauchte er. „Ich will dein Mitleid nicht.“
„Bitte? Wer redet denn von Mitleid?“ Dennis runzelte die Stirn.
„Du nicht? Dann solltest du dein Gesicht vielleicht wegen Verleumdung verklagen!“, höhnte Benno und schnaubte. Dennis musterte ihn einen Moment lang, dann seufzte er.
„Eigentlich wollte ich mich gerade bei dir entschuldigen“, sagte er. „Dass ich meine eigenen Bedenken und Vorbehalte einfach auf dich übertragen habe, anstatt den Versuch zu machen rauszufinden, was du wirklich willst und brauchst. Dass ich dich quasi in eine Schublade gesteckt habe. Aber ich glaube, das rettet den heutigen Abend auch nicht mehr.“
„Da hast du verflucht recht!“ Benno schaltete erneut in den Wut-Modus. Er wollte nichts hören, was Dennis entlasten könnte. Und schon gleich gar nichts, was ihn darauf aufmerksam machen würde, dass er selbst im Gegenteil alles dafür tat, die ganze Situation weiter eskalieren zu lassen. Fast war es so, als hockte ein fieses kleines Teufelchen auf seiner Schulter, das ihm einflüsterte, immer noch mehr Öl in die bereits schwelende Glut kippen zu müssen und er konnte sich aus irgendeinem Grund nicht dagegen wehren.
„Und wenn du nicht mehr vorhast, mich heute Abend endlich mal zu ficken, dann haust du jetzt besser ab“, fügte er kühl hinzu, sehr wohl wissend, dass er Dennis damit endgültig vertreiben würde. Für den heutigen Abend auf jeden Fall und weiter dachte er erst mal nicht. Konnte er auch gerade nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, seine Beziehung – wenn man es denn so nennen konnte – vor die nächste Wand zu fahren, herzlichen Dank.
Einen endlosen Augenblick lang blieb es still. Dennis schien sprachlos, dafür war sein Blick umso beredter und sprach von Unglauben, von Enttäuschung und Verletztsein. Schließlich nickte er.
„Okay. Du hast recht. Das hier führt zu nichts. Es ist wohl wirklich besser, wenn wir es für heute gut sein lassen“, sagte Dennis. Dann wandte er sich ab und verließ die Küche, in der sie noch vor wenigen Minuten so harmonisch miteinander gesessen und geredet, ja sich sogar geküsst hatten. Benno schien es eine Ewigkeit her zu sein. Er horchte, während seine Chuzpe mehr und mehr bröckelte und Platz machte für Reue.
Verdammt, was hatte er da gerade getan? War er denn völlig bescheuert?
Jäh ernüchtert wirbelte er herum, stürmte in den Flur seiner Wohnung und sah gerade noch, wie die Tür hinter seinem Freund zuklappte. Ein Schluchzen drängte sich in Bennos Kehle, als er hinterhersprintete, sie aufriss und Dennis’ Namen rief.
Der war die ersten Treppenstufen bereits hinuntergestiegen, hielt aber jetzt inne und drehte den Kopf. Stumm abwartend schaute er zu Benno hoch.
„Es … es tut mir leid“, sagte der leise. „Ich … bin ein totaler Idiot.“
Wieder dehnten sich Sekunden zu Ewigkeiten, bis Dennis schließlich tief ein- und ausatmete, sich umdrehte und wieder nach oben kam. Benno ließ den Kopf hängen und sah deshalb nur die Schuhspitzen seines Freundes, als der vor ihm angelangt war. Beklommen wartete er ab, was nun kommen würde.
„Idiot trifft es nicht ganz, aber du warst gerade schon ein ziemliches Arschloch“, sagte sein Freund. Benno nickte.
„Du hast Glück, dass ich dich trotzdem liebe.“
Erleichterung durchflutete Benno bei diesen Worten. Er sah hoch und in Dennis’ Gesicht. Es war ernst, spiegelte aber auch tiefes Gefühl. Benno schniefte leise und blinzelte gegen aufsteigende Tränen an.
„Kommst du … kommst du wieder mit rein?“, wisperte er. Dennis nickte.
„Unter der Bedingung, dass wir reden“, sagte er. „Ich glaube, wir müssen da ein paar Dinge ein für alle Mal klären.“