Es wurden immer mehr. Die Einwohner von Zone 3 sahen sie jeden Morgen an den Straßenecken, den Bushaltestellen, den Häuserfassaden und den Schaufenstern der Läden. Man betrachtete die nachts gesprühten Graffiti, verstand zwar nicht, was sie zu bedeuten hatten, begriff jedoch, dass irgendetwas im Gange war. Die Graffiti ähnelten Stammeszeichen. Zwei parallele Linien, die die gleiche Kurve beschrieben, oder ein Dreieck mit einem Kreis darin. Die geometrischen Figuren riefen zum Aufstand auf. Und schon bald fanden die ersten Demonstrationen statt. Die Protestierenden bemalten sich die Gesichter mit den Symbolen, die die Stadt überzogen hatten. Eine Horde von kräftigen Jugendlichen, mit seltsamen Mustern geschmückt. Es gab unterschiedliche Kriegsbemalungen: Ein dicker Strich auf der Nase, der sich dann über dem Mund gabelte. Zwei Streifen und ein Augenpaar auf beiden Wangen. Die jungen Leute erinnerten an eine Kampftruppe, die merkwürdige, unbekannte Codes benutzte. Sie veränderten ihr Erscheinungsbild, um die algorithmische Gesichtserkennung der Drohnen zu täuschen, die ständig patrouillierten und die Demonstranten registrierten. Sie vernebelten den Robotern die Sicht, damit die Androiden sie für Objekte hielten oder die Vorderseiten ihrer Gesichter mit Profilansichten verwechselten, damit sie nichts mehr erkennen konnten und die Stadt ihnen entglitt.
In Zone 3 war der Zorn ausgebrochen, und es lag auf der Hand, dass die Zahl der Demonstranten weiter steigen würde. Auch das Management spürte das. Man schickte eine stattliche Drohnenflotte, die möglichst viele Personen scannen und identifizieren sollte. Sie kreiste ununterbrochen wie ein Insektenschwarm über der Menge. Die Sicherheitskommission warnte: Jeder, der gegen die geltende Ausgangssperre verstieß, werde als Demonstrant betrachtet und nach erkennungsdienstlicher Behandlung umgehend gekündigt. GoldTex wollte die Proteste im Keim ersticken. Die Drohnen flogen, erfassten Daten und fahndeten nach Lücken in den Stammesmaskierungen, um die Namen der Leute herauszufinden. Wer nicht gut geschminkt war, empfing auf seinem Armband die Nachricht, dass er fristlos entlassen war. Wenn man den Status eines BiFs verloren hatte, hatte man sich unverzüglich zu einem Ausreisebüro zu begeben. Die Nachrichten wurden zügig verschickt, aber nicht so schnell, wie sich gleichzeitig die Zahl der Aufständischen erhöhte. Am dritten Tag marschierte ein Zug, aufgebracht gegen die Drohnen, die wie Fliegen um ihn herumschwirrten, auf den Checkpoint Western Fosse am Ende der Avenue I zu und suchte die Konfrontation. Kaum angekommen, rannten die Ersten los, ließen ihrer Wut freien Lauf und griffen den hinter Betonpollern und Stacheldraht verbarrikadierten Checkpoint an. Die Wachen hatten mit dieser Attacke nicht gerechnet, sie waren lediglich zu acht. Sie sahen bestürzt mit an, wie der Pulk sich näherte, und überlegten, wie sie reagieren sollten. Unschlüssig, ob sie lieber schießen oder sich verkrümeln sollten, standen sie wie angewurzelt da, wie Kaninchen vor der Schlange, so lange, bis die Demonstranten sich mit Geschrei und Gebrüll auf sie stürzten und mit ihren Fäusten alles zertrümmerten. Innerhalb von wenigen Minuten fiel der Checkpoint. Zur großen Überraschung derer, die ihn eroberten. Der Sieg war also möglich … Etwas war in Bewegung geraten. Es war förmlich zu spüren. »Zündet alles an! Zündet alles an! Rechte für die Zone 3!« Die Schar nahm die Slogans mit glühender Begeisterung auf. Die Überwachungsdrohnen preschten hin und her, bekamen die gewaltigen Massen aber nicht unter Kontrolle. Unter den Ordnungskräften machte sich Unruhe breit. Auf jeder Polizeistation fragte man sich, ob man vielleicht als Nächstes an der Reihe war. Unterstützt von Nachbarn, die den Frontkämpfern Getränke und Essen lieferten, blieb der Checkpoint die ganze Nacht besetzt. Alle glaubten, dass GoldTex nachgeben und eine neue Zeit beginnen würde.
Am Morgen des vierten Tages tauchten Sonderkommandos auf. Sofort war klar, dass die Inbesitznahme des Checkpoints Western Fosse eine mächtige Unterdrückungsmaschinerie in Gang gesetzt hatte. Langsam und leise pirschten sie sich heran, bewaffnet mit Wasserwerfern und Tränengas, die Einsatzkräfte trugen Panzerausrüstungen, die ihnen das Aussehen von hochmodernen Skarabäen verliehen. Sie schritten voran und schlugen alles kurz und klein. Es war die erste Straßenschlacht der zehn Tage dauernden Krawalle. Die Aufständischen verteidigten den Checkpoint leidenschaftlich, doch am Ende mussten sie einlenken und ihn aufgeben. Der folgende Polizeisturm trieb sie Richtung Stadtzentrum. Stellenweise wurden Feuer gelegt. Die Ordnungskräfte schossen mit scharfer Munition. Drohnen, die die Protestierenden mit ultrahohen Tönen beschallten, rauschten über die Barrikaden, sie verursachten Hörschäden und schlugen die Menschen in die Flucht. Unaufhörlich wurden Straßensperren durchbrochen und wieder aufgebaut, aufgelöst und neu errichtet. Die jungen Leute steckten alles in Brand, was sie zwischen die Finger bekamen, um die Avenuen zu blockieren und den Polizeiverkehr zu behindern. Tag und Nacht skandierten die Einwohner der Stadt, deren Wut nicht nachließ, mit müder werdenden Stimmen den Slogan: »Zündet alles an! Zündet alles an!« Niemand glaubte mehr daran, dass die Krise in Verhandlungen münden würde. Niemand hoffte mehr auf Fortschritte oder Zugeständnisse. Es gab keinen Weg zurück.
Als Angehöriger der Sicherheitskräfte wurde auch Zem Sparak in die Zone 3 beordert. Am fünften Tag des Aufruhrs wurde er einem Sturmtrupp zugeteilt. Zwei Tage lang spielten er und seine Brigade mit einer kleinen, flinken Gruppe, die sie in Fallen lockte und Steine von Häuserdächern schleuderte, Katz und Maus. Er lud seine Waffe und lud sie nach, immer und immer wieder. Er hörte den heiseren Atem seiner Kollegen, stundenlang. Er drosch auf Leute ein und trat brutalen Angriffen mit aller Kraft entgegen. Schläge. Knüppel. Elektroschocker. Ein Leben im Kampfrhythmus. Bis zu dem Tag, an dem er auf der anderen Seite des Checkpoints, in der Avenue VIII oberhalb der Slums am Big Fosse eingesetzt wurde. Sie nahmen in dichten Reihen Aufstellung. Sie hatten den Befehl, um keinen Preis zurückzuweichen. Wenn die Demonstranten von Zone 3 in Zone 2 vordrangen, drohte ein Chaos, mit ungewissem Ausgang für Magnapolis. Sie standen hintereinander in vier Ketten, Sparak in der vordersten. Die Stimmung war angespannt. Die Polizisten bissen die Zähne zusammen. Ihnen war klar, die Auseinandersetzung würde heftig sein. Die Einstellung der Rebellen aus Zone 3 war nicht mehr dieselbe. Sie hatten sich versammelt, angespornt von dem irren Verlangen, die Grenze zu überqueren und endlich die Straßen der Zone 2 zu fluten. Die beiden Lager begegneten sich. Er wäre am liebsten weggelaufen. Nicht aus Angst, sondern aus Abscheu vor dem, was jetzt kam. Ihm war, als würde er die Niederschlagung des griechischen Aufstands noch einmal durchleben. Er schaute sich die Menschenmenge an und fragte sich, warum er nicht Teil davon war. Doch der Kampf fand gar nicht statt. Gerade als die Demonstrierenden losstürmen wollten, gab es gleichzeitig zwei Explosionen, bei denen auch die Einsatzkräfte zusammenfuhren. Einige Augenblicke rührte sich nichts. Alle guckten sich verwundert um. Jeder versuchte zu begreifen, was passiert war. Dann brach ein lautes Geschrei aus. Die Aufständischen wurden von Panik ergriffen. Der Boden unter ihren Füßen schwankte. Die Detonationen hatten die beiden tragenden Pfeiler der Brücke am Nordende der Avenue gesprengt. Innerhalb von Sekunden stürzte alles ein. In Zeitlupe, wie in einem Albtraum. Die Polizisten bewegten sich nicht von der Stelle. Unter ihren Füßen blieb der Boden fest. Sie sahen zu, wie der Asphalt nachgab, wie sich die ersten Löcher auftaten und größer und größer wurden, bis das Pflaster schließlich auseinanderbarst. Die Brücke krachte unter dem grässlichen Knirschen von auf Metall reibendem Stein zusammen und riss unzählige Menschen in die Tiefe. Zwanzig Meter weiter unten prallten sie in einer dicken weißen Staubwolke auf. Ein Abgrund lag nun zwischen den Sicherheitskräften und der Zone 3. Niemand würde den Verletzten zu Hilfe kommen. Man würde nicht einmal die Zahl der Toten erfassen. Die Aufrührer waren gestraft. Sparak hätte über diesen Ausgang, durch den ein Zusammenstoß vermieden worden war und der den Beginn der Rückkehr zur Ordnung markierte, wohl froh sein müssen, aber er war es nicht. Er sah die in den Tod Stürzenden immer wieder vor sich, hörte das monströse Grollen des Gerölls. Er traf an dem Tag eine Entscheidung. Er würde von nun an in Zone 3 leben, unter ihnen, in Gedenken an die gesprengte Brücke, die so viele Menschen unter sich begraben und so viel Wut zum Schweigen gebracht hatte.