16 Kanaka

Am Checkpoint Harmony, dem Übergang zu Zone 1, überkommt sie beide doch so etwas wie Beklemmung. Auch wenn sie es sich nicht eingestehen, beschleicht sie das dunkle Gefühl, verbotenes Terrain zu betreten. Wie haben sie es bloß geschafft, uns glauben zu machen, dass diese Welt ihnen gehört?, fragt sich Sparak und presst die Kiefer zusammen. Der Checkpoint ist nicht mit dem zu vergleichen, der die Zonen 2 und 3 voneinander trennt. Es geht gemächlicher und besonnener zu. Keine langen Autoschlangen, kein Lastwagenchaos, keine Lieferanten, die genau erklären müssen, was sie geladen haben. Nur wenige Leute haben einen Grund, in die Zone 1 zu fahren, und so ist es am Checkpoint absolut ruhig. Während sie sich ihm nähern und Salia ihre Akkreditierung vorzeigt, zählt Sparak unwillkürlich die Kameras. Eine wahre Festung. Sein Gesicht ist bestimmt schon fünfmal gescannt worden. Ein paar Hunde schnüffeln am Wagen herum. Ein Flachroboter hat sich unter das Auto geschoben und überprüft das Fahrgestell. Ein schneller und komplett reibungsloser Vorgang, aber sie werden durchsucht und analysiert, ihre Einreise wird datiert und archiviert. Schließlich hebt sich die Schranke, sie dürfen passieren und fahren die Harmony Avenue entlang. Die Gegend ist von überwältigender Schönheit. So schön grün, so friedlich. In Zone 2 herrscht nicht einmal in den Wohnvierteln ein derart abgeklärter und souveräner Luxus. In der Ferne erkennt Sparak den Mount Alliance, wo sich dem Vernehmen nach das Leben der Zone 1 ballt, und den großzügig angelegten und von prächtigen Villen gesäumten Park Rami. An den Hängen dieses Hügels haben sich renommierte Läden angesiedelt, und von den edlen Restaurants aus genießt man einen atemberaubenden Blick auf das Wasser der Saule, die hier nicht so ölig und schmutzig wie in Zone 3 ist. Alles ist offenbar am richtigen Platz. Und im Überfluss vorhanden. Sie biegen Richtung Esplanade of Managing Directors ab, das mächtige Viertel, in dem mehrere Kommissionen ihren Sitz haben. Es ist ihnen verboten, vom ihnen vorgeschriebenen Weg zum Gesundheitsausschuss abzuweichen, und sie haben einem sogenannten Pilotfahrzeug zu folgen. Es handelt sich dabei um ein autonomes Fahrzeug, das sie führt und aufpasst, dass sie nicht den ihnen erlaubten Kurs ändern. Und da sie über diese Straßen gleiten, spüren sie beide, dass irgendjemand für all den Wohlstand dienen muss und es eine Autorität gibt, die über der Polizei steht und in deren Augen ihre Abzeichen und Dienstgrade überhaupt nichts gelten: die Autorität der bestehenden Ordnung.

 

Der Gesundheitsausschuss befindet sich in einem riesigen, kühn gestalteten Gebäude, ganz aus Glas und mit sanften Kurven. Die Eingangshalle mit einem hängenden Garten, der scheinbar schwerelos fünf Meter über dem Boden schwebt, ist gewaltig. Als sie am Empfangstresen melden, dass sie einen Termin bei Herrn Kanaka haben, schickt man sie ins oberste Stockwerk. Sie schleichen so lautlos wie möglich zum Fahrstuhl. In der Etage angekommen, zeigt sich, dass auf den sechs höchsten Ebenen Pflanzengärten angelegt sind. Sie werden von einer Mitarbeiterin erwartet, sie weist ihnen den Weg zu einem Flur, der in einen Raum mit großen Glasfenstern mündet, in dem glänzende Ledersofas thronen. Sie nehmen beide in großem Abstand voneinander Platz und sitzen da in einer Stille, in der selbst das leiseste Quietschen des Leders unangenehm auffällt.

 

Soll ich mich schämen, weil ich in diesem geschlitzten rosafarbenen Tanga und mit körbchenlosem BH vor dir knie? Soll ich mich schämen, weil ich mich über dich beuge und spüre, wie du unter meinen Händen am ganzen Körper zitterst, wie du ungeduldig wirst, kommen willst, weil ich dich zärtlich streichle, tue, was du verlangst, dir einen blase, wenn du magst, dich kratze, wenn dir das lieber ist, das Tempo so drossle und beschleunige, dass es dich noch geiler macht? Soll ich mich schämen, weil ich dir lächerliche Namen gebe, wie sie junge Frauen älteren Herren nun mal geben, weil ich mich beleidigen lasse, damit dein Blut in Wallung kommt, alles über mich ergehen lasse, weil es im Grunde ja egal ist, Schlampe, meine kleine Hure, »willst du mehr?«, weil ich alles ohne mit der Wimper zu zucken und mit einem Lächeln schlucke, es kümmert mich ja nicht, und es schadet mir nicht. Ich mache alles, ohne lange zu fackeln. Deswegen bin ich doch da. Aber hinterher verlange ich was dafür. Und auch dafür schäme ich mich nicht. Ich rede nicht um den heißen Brei herum, gehe nicht auf Nummer sicher, ich sage, was ich will, mit fester Stimme, so fest, dass man nicht weiß, ob ich einen Wunsch vorbringe oder eine als Frage verkleidete Forderung stelle. Ich möchte in Zone 2. Ich möchte ein neues Leben. Genau das. Ich möchte, dass du alles für mich tust, was du kannst, und ich glaube, du kannst eine ganze Menge tun. Das habe ich sofort erkannt, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. An deinem Gang, an der Art, wie du geredet hast, wie du deinem Chauffeur immer kurze Anweisungen gegeben hast. Ich halte mich nicht zurück mit meinen Forderungen, denn ich weiß, ich bin ein Kind der Zone 3, und es gibt Dinge, die ich nicht verlangen kann, weil ich schlicht keine Ahnung habe, dass sie existieren. Ich bin noch immer Ira Cuprack. Das ist mein Handicap, ich hänge an der Leine von Zone 3. Also überlege ich, wie ich sie kappen könnte, und da kommt mir die Idee, etwas völlig Unmögliches zu verlangen. Du lächelst? Du glaubst, ich denke an Geld, nicht wahr? Oder an Champagner, Schmuck, teure Kleider, aber du kennst mich nicht, kapierst nicht, dass ich mir geschworen habe, alles hinter mir zu lassen, und da sage ich dir, dass ich ein Implantat will. Auf einmal bist du still. Lachst nicht mehr. Musterst mich genau, als sähst du mich zum ersten Mal. Ich lese Angst in deinen Augen. Sie ist ganz schnell wieder weg, aber sie ist mir nicht entgangen. Die Angst vor meinem unergründlichen Selbstbewusstsein. Du stehst auf. Du hast mir nicht geantwortet und hast auch nicht vor, es zu tun. Du legst Scheine auf den Schreibtisch. Viel mehr als erwartet, und das ist nun doch eine Antwort, eine Art, mir zu verklickern, dass du mir einen Haufen Geld geben wirst, aber nichts anderes. Ich könnte mich eigentlich freuen. Vor ein paar Monaten hätte ich das auch getan. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass man in einer einzigen Nacht eine so horrende Summe verdienen kann. Aber heute freue ich mich nicht. Denn ich weiß, dass das Geld auf dem Schreibtisch Nein bedeutet. Und das macht mich fertig. Aber ich werde nicht lockerlassen. Ich werde nicht wieder Ira Cuprack werden. Du bist der Einzige, der die Kraft und die Macht hat, mich in Zone 2 zu führen, und du wirst mir das Leben schenken, das ich mir wünsche. Das schwöre ich dir. Ich habe Geduld, ich werde nicht zulassen, dass du mich vergisst, ich werde bald wiederkommen, um meine Forderung zu wiederholen.

 

Inzwischen warten sie seit fünfundzwanzig Minuten. Es hat geheißen, Herr Kanaka würde Ihnen zur Verfügung stehen, sobald seine Besprechung zu Ende ist. Je länger sie da sitzen, desto wütender wird Sparak. Auf die Stille, die Schönheit des Orts. Auf die Hostessen, die sich gedämpften Schrittes bewegen, auf die exotischen Pflanzen auf den Außenterrassen. Auf das Glas Wasser, das man ihm gebracht hat, an dessen Rand eine Limettenscheibe steckt. All das macht Lust, wieder Hund zu sein, den Sofatisch umzuwerfen, zu bellen, zu knurren, die Harmonie zu zerstören und zuzubeißen, wie nur Hunde zubeißen können, zubeißen und die Beute einfach nicht mehr loslassen.

 

Endlich öffnet Attilo Kanaka die Tür seines Büros. Er schaut sie ausdruckslos an und sagt:

»Ich habe zehn Minuten Zeit. Keine Minute länger.«

Dann bittet er sie per Handzeichen herein, und sie folgen seiner Aufforderung mit einer Unterwürfigkeit, die ihnen selbst zuwider ist. Nachdem sie sich hingesetzt haben, ergreift Kanaka wieder das Wort:

»Was kann ich für Sie tun?«

»Herr Kanaka«, fängt Salia an. »Ich möchte mich zunächst einmal bedanken, dass Sie uns hier empfangen.«

Sie tastet sich heran, will ihrem Gegenüber vermitteln, wie sehr sie sich darüber im Klaren ist, dass ihrer beider Erscheinen einer Erklärung bedarf. »Wir kommen wegen …«

»Machen Sie es kurz«, unterbricht sie Kanaka. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, ich habe wenig Zeit.«

Sie lächelt. »Natürlich«, entgegnet sie leise.

Sparak fragt sich, was Salia eigentlich vorhat. Sich der Macht zu beugen oder ihr zu trotzen.

»Kennen Sie Malek Pamuk?«

»Nein.«

Sie können ihre Verwunderung nur mit Mühe verbergen, vor allem Salia. Ihr Ton wirkt etwas unschlüssig.

»Sind Sie sich sicher? Wenn Sie vielleicht einmal einen Blick auf dieses Foto werfen möchten …«

Sie reicht ihm das Bild, aber er guckt es kaum an.

»Nein«, wiederholt er.

Er gibt sich offensichtlich keinerlei Mühe.

»Sind Sie sich wirklich sicher?«

»Absolut. Sind wir jetzt fertig?«

Sparak räuspert sich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Herr Kanaka, haben Sie schon einmal einen Fisch aufgeschnitten?«

»Bitte?«

»Und ihn ausgenommen, ihm die Eingeweide herausgerissen, wissen Sie, was ich meine?«

»Nein«, gibt Kanaka harsch zurück. Und er setzt spitzzüngig hinzu: »Wie Sie sich unter Umständen vorstellen können, sind die Fische, die ich esse, bereits angerichtet …«

Er lächelt, zufrieden über seinen Scherz, doch Sparak fährt unbeirrt fort:

»Ja, natürlich. Verstehe. Aber wissen Sie, das ist gar nicht so einfach … Die Gedärme sind fest. Man muss richtig ziehen und die Hände reinstecken, damit man alles rauskriegt …«

»Wollen Sie hier einen Kochkurs für mich geben?«, fällt Kanaka ihm ins Wort.

Sparak sieht ihn scharf an.

»Nein. Aber genau das hat man mit Pamuk gemacht. Und ihm dann das Eternytox geklaut, das man ihm großzügigerweise eingesetzt hatte. Können Sie sich ausmalen, was das heißt?«

Kanaka wird bleich. Er presst die Kiefer zusammen. Sparak ist klar, dass er ihn mit seiner Ungeschlachtheit beleidigt hat und das der Grund für diese Blässe ist, nicht etwa die Schilderung der Tat. Die Indisponiertheit dauert jedoch nur einen kurzen Augenblick. Kanaka fasst sich:

»Es tut mir sehr leid für den Mann. Aber wie gesagt, ich kenne ihn nicht. Sollte Ihr Kommen damit zusammenhängen, dass ich die Implantationsvergabekommission leite, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich an das Sekretariat wenden könnten, das Ihnen eine Liste der vorgenommenen Operationen aushändigen wird, wie sie auch im Journal des Implantationsdiensts veröffentlicht ist.«

Und er setzt selbstsicher hinzu:

»Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, ich habe zu tun.«

Er rührt sich nicht von der Stelle, schaut sie stattdessen eindringlich an, um sie zum Gehen aufzufordern.

»Herr Kanaka.« Salia versucht, die Konsequenzen der Äußerung abzuwägen, die ihr gleich über die Lippen kommen wird. »Ich fürchte, unsere Unterredung dauert ein bisschen länger, als Sie geplant haben.«

Verwirrt von so viel Unverschämtheit, sieht er sie an, bemüht sich aber offensichtlich, seine Wut im Zaum zu halten, denn er bleibt stumm. Salia fährt fort:

»Wir haben von der Aufnahme eines Strafverfahrens gehört. Anscheinend hat Malek Pamuk Sie im Anschluss an einen Kongress übel belästigt. Die Polizei hat eingegriffen. Erinnern Sie sich daran?«

»Glauben Sie, dass ich sämtliche Leute, denen ein Implantat eingesetzt wird, persönlich kenne?«

»Ich denke, zumindest die Namen sollten Ihnen etwas sagen. So viele sind es ja nicht, soweit ich das verstanden habe, und als Vorsitzender des Ausschusses geht jedes Implantat, das bewilligt wird, über Ihren Schreibtisch …«

»Und ich sage Ihnen zum wiederholten Male, dass mir dieser Herr nicht bekannt ist.«

Salia verzieht leicht verärgert das Gesicht.

»Das glaube ich Ihnen, Herr Kanaka …« Dass eine gewöhnliche Polizistin darauf kommt, dass ihre Meinung für ihn irgendwie von Belang ist, treibt ihm die Zornesröte ins Gesicht. »Aber vielleicht wollen Sie mich noch in einem Punkt aufklären, der mir etwas rätselhaft ist …«

Kanaka sagt nichts, sondern wartet ab, bis sie zu Ende geredet hat.

»Der Gerichtsmediziner hat uns bescheinigt, dass das Implantat echt war. Wir sind zur Registratur gegangen, und seltsamerweise taucht der Name Pamuk nirgendwo auf. Können Sie uns diese Unregelmäßigkeit erklären?«

Kanakas Blick wird auf einmal lebhafter. Er beugt sich nach vorne und schaut Salia tief in die Augen.

»Ich habe Ihnen gesagt: Ich kenne den Mann nicht. Und der Implantationsdienst kennt ihn offensichtlich auch nicht. Es scheint mir daher naheliegend, dass Ihrem dummen Gerichtsmediziner ein Fehler unterlaufen ist und dem Herrn ein Imitat eingepflanzt wurde. Die Fälscher werden immer besser, und die Teile, die sie produzieren, sehen tatsächlich echt aus. Was die andere Sache betrifft: Ich kann mich absolut nicht daran erinnern, dass der Kerl mich belästigt hat, ich denke, Sie können sich vorstellen, dass ich in meiner verantwortungsvollen Position auf Kongressen, Meetings, Versammlungen sehr viele Menschen treffe. Aber ich bin nicht zuständig für den Gemütszustand der Leute dort. Wenn dieser Herr Pamuk recht erregt war, müssen Sie die Gründe dafür in seinem Leben suchen. Und jetzt werde ich Sie bitten zu verschwinden. Die zehn Minuten sind längst vorbei, und Sie haben letztlich nur dafür gesorgt, dass ich spät dran bin.«

 

Eigenartig, wie Kanakas Stimme und seine Wortwahl auf dem langen Weg zurück nachhallen. Das ganze Dekor strahlt Arroganz aus, als sie mit dem Aufzug wieder nach unten fahren und durch die monumentale Eingangshalle laufen. Sie folgen dem Pilotfahrzeug zum Checkpoint, umgeben von der verlogenen Stille der Zone 1. Das Bild des genervten Kanaka vor Augen, der die Lippen zusammenpresst, weil er es nicht gewohnt ist, dass man ihm die Stirn bietet und unangenehme Fragen stellt. Sie wechseln kein Wort miteinander, aber sie haben beide das gleiche Gefühl, das Gefühl, dass sie ihren Job getan haben, Pech, wenn nun dunkle Wolken aufziehen, wenn dieses Gespräch Konsequenzen haben wird, weil man einen Ausschussvorsitzenden nicht ungestraft stört. Sie sind beide stolz.

In Zone 2 erwartet sie ein Kontrastprogramm. Eine dichte Menschenmenge. Auf den Straßen herrscht die Stimmung eines freien Sommerabends. Dicke rotglühende Streifen ziehen über den Himmel. Die Aufregung der Passanten steigt. Alle sind in Eile. Der LOve Day steht bevor.