Er hat zwar nicht vorgehabt, den Vormittag mit ihr zu verbringen, zusammen zu frühstücken und dabei zu besprechen, was sie nun unternehmen wollen, aber er wundert sich doch, als er allein aufwacht. Es ist fünf Uhr morgens. Schon seit zwei Minuten klingelt sein Armband. Er registriert als Erstes, dass sie nicht da ist. Ein Blick auf die Nachricht. Es ist die Aufforderung, sich dringend an einem Tatort einzufinden. Der Tod hat ihn geweckt. Er steht auf, überlegt einen Moment, weil er nicht mehr weiß, wo das Badezimmer ist, macht die Tür auf und steigt wie ein Automat unter die Dusche. Als er wieder herauskommt, schaut er sich seine Nachrichten genauer an. Er stellt fest, dass sie ihm um zwei Uhr dreißig eine geschrieben hat, also etwa eine Stunde nachdem sie miteinander geschlafen haben, eine Nachricht, in der sie ihm mitteilt, sie sei in der Bar Rouge in Spada, sie wolle noch den LOve Day und die Nacht genießen. Er kann sich nicht daran erinnern, dass sie gegangen ist. Er muss tief und fest geschlafen haben. Die Nacht genießen … Die Worte tun ihm ein bisschen weh. Haben sie das gestern auch gemacht? Die Nacht genossen?
Es ist noch nicht Tag. Die Straßen sind ruhig, es sind jede Menge Bierdosen und Konfetti verstreut. Die ausschweifende Nacht hat Spuren hinterlassen. Hier und dort liegen schlafende Menschen, meist nackt, hingesunken nach exzessivem Trinken und Tanzen. Sie bieten sich schamlos den Blicken der Passanten dar. Allein der Himmel über ihnen wogt und wechselt seine Farben.
Mir war nicht klar, dass Forderungen auch tödlich enden können. Dass die ganze Stadt einen mit fiesen Blicken durchbohren kann. Ich bin Ira Cuprack, und ich habe Angst. Ich habe es nicht schlau genug angestellt. Oder die Welt ist zu kompliziert, was aber auf dasselbe hinausläuft. Da sind Schritte hinter mir. Ich begegne bösen Augen. Ich weiß, dass Informationen über meine Aktivitäten ausgetauscht werden, wann ich das Haus verlasse und auf welchen Wegen ich in die Zone 2 gelange. Was hat man über mich in Erfahrung gebracht? Mir scheint, alle wägen ständig ab, was sich aus mir herausholen lässt. Zu viele Leute zählen meine Besuche und wollen ihren Anteil. Sie haben keine Ahnung, zu wem ich gehe. Wüssten sie es, hätten sie schon versucht, mir weitere Geheimnisse zu entlocken. Aber sie können das Geld, das mich umwittert, förmlich riechen. Sie ahnen, dass mein Kunde – wer auch immer er ist – bezahlen würde, um anonym zu bleiben. Bin ich zu klein für diese Stadt? Muss ich mich damit abfinden, Ira Cuprack zu sein, das arme Ding mit zu großen Träumen? Ich habe noch nicht gekriegt, was ich wollte. Ich werde weiter kämpfen. Ich bin schön. Ich kann Männer über ihr Alter und ihr Leid hinwegtrösten. Ich gebe nicht auf. Noch nicht. Ich bin Ira Cuprack, aber nicht mehr allzu lange, denn ich schwöre: Ich werde mich trotz all der Drohungen von mir und allem anderen befreien.
Am Eingang der Bar Rouge steht kein Türsteher mehr. Niemand verlangt etwas von ihm. Man bemerkt ihn nicht einmal. In dem großen, runden Saal am Fuß der prunkvollen Treppe schlafen Leute. Der Schweiß ist getrocknet. Die nachlassende Wirkung der Drogen versetzt alle in eine tiefe Lethargie. Er steigt über junge, unbekleidete Körper hinweg, die ihn mit halb geschlossenen Augen ansehen, aber keinerlei Regung zeigen. Unter der Kuppel erblickt er sie. Ein Mann und eine Frau kuscheln sich an sie, sie ist fast hüllenlos. Ihm ist, als wäre sie eine andere als die, die er tags zuvor in seinen Armen gehalten hat. Sie kommt ihm zierlicher und dünner vor. Er möchte sich die Sanftheit in Erinnerung rufen, mit der sie ihn berührt hat, doch es gelingt ihm nicht. All das scheint in weiter Ferne zu liegen. Eine Weile betrachtet er sie schweigend und überlegt, ob er sie schön findet oder nicht. Ja. Sie ist schön, auch wenn es sie nicht schert, dass sie sich im Schlaf obszön mit gespreizten Schenkeln und offenem Mund ausstellt.
»Salia …?«
Er ruft sie.
»Salia …?«
Er muss sich bücken und sie anfassen.
»Salia …?«
Er rüttelt leicht an ihrem Arm. Sie macht schließlich die Augen auf und deutet kaum merklich eine Bewegung an. Erkennt sie ihn überhaupt wieder? Er liest in ihrem Blick, dass sie sich fragt, ob sie in ihrem Schlafzimmer ist und gerade mit ihm gevögelt hat oder ob sie sich anderswo befindet, doch dann hebt sich ein Schleier, und sie kommt zu sich.
»Was ist hier los?«, sagt sie. Und es spricht die Polizistin in ihr, nicht die Frau, mit der er geschlafen hat. Diese ist soeben an einen unerreichbaren Ort aufgebrochen, der vielleicht erst am nächsten LOve Day wieder zugänglich sein wird, aber bestimmt nur für andere, fürchtet er und stellt überrascht fest, dass ihm der Gedanke großen Schmerz bereitet.
Ich hatte es bereits geahnt, aber jetzt weiß ich es sicher: Ich werde nie jemand anderes sein als die kleine Ira Cuprack, die sich an ihre Träume klammert und glaubt, dass die Welt ihr offensteht und man sie überall durchlässt. Ich war der Sache ganz nahe. Ich bin nicht misstrauisch geworden. Ich dachte mir, dass Geld Geld anzieht und es richtig so ist. Er hat mich mit meinem Namen angesprochen: »Fräulein Cuprack?«, was ich sehr taktvoll fand. Angst habe ich erst bekommen, als er mich gefragt hat, wie lange ich Herrn Kanaka schon treffe. Aber er hat gelächelt. Er hat mich gebeten, in seinen Wagen zu steigen, wo er mir die Hand auf den Oberschenkel gelegt hat, und ich habe angenommen, dass er einfach ein neuer Kunde ist. Ich dachte, Männer sind berechenbar, und Schönheit weckt auf jeden Fall das Tier in ihnen. Ich dachte, ich bin schon fast am Ziel. Ich habe nicht gemerkt, wie die Tür sich schließt und die Falle zuschnappt, und ich wusste nicht, dass niemand meine Schreie hören würde.
Als sie den Fahrstuhl verlassen und die Panoramaterrasse des Seznec-Hochhauses betreten, blendet sie das grelle Licht der Sonne. Das dicke, solide Hochhaus wurde im vorigen Jahrhundert erbaut, ihm fehlt die Eleganz der neueren Architektur, was jedoch zu seiner Berühmtheit beiträgt. Die jungen Leute mögen es. Im obersten Stockwerk sind eine extrem angesagte Bar und ein Club eingerichtet. Immer voll. Ein Treffpunkt mit herrlichem Ausblick über die Stadt. Über den Mount Liberty und sogar den Mount Alliance sowie den Park Rami in der fernen Zone 1. Auch gestern Abend war das Lokal gerammelt voll. Und die junge Generation hat sich wie viele andere Generationen vor ihr geschworen, dass sie eines Tages über die Viertel herrschen wird, die sich zu ihren Füßen erstrecken.
Als Sparak sieht, was für eine Miene der Polizist macht, der sie erwartet, ist ihm sofort klar, dass der Fall ähnlich gelagert sein muss wie der in Citizens’ Dump. Der Kollege ist bleich und stammelt, so etwas habe er noch nie gesehen, sie sollen sich festhalten.
»Was haben wir denn heute im Angebot?«, erkundigt sich Sparak.
»Weiblich. Vierundzwanzig. Wohnhaft in Zone 3. Von der Luftröhre bis zum Schambein aufgeschnitten. Kein schöner Anblick …«
Zem geht voran. Er schaut sich die Leiche aus der Nähe an. Die junge Frau liegt mit aufgeschlitztem Bauch auf dem Rücken, die Beine gespreizt, die Arme zur Seite gestreckt, den Kopf gerade, wie eine Nachbildung des vitruvianischen Menschen. Der Mörder hat sie offensichtlich auf dieser Terrasse abgelegt, um sie zur Schau zu stellen, weil er sie entweder den Blicken der ganzen Stadt darbieten oder provozieren wollte. Wieder derselbe Täter, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Die gleiche Inszenierung, die gleiche Art, den Mord zu einem Monument des Schreckens zu erhöhen.
Sparak streift sich Plastikhandschuhe über und beugt sich über die Tote. Vorsichtig greift er nach dem Zeigefinger ihrer rechten Hand und legt ihn auf das Display seines mobilen biometrischen Authentifizierers. Das Gerät aktiviert den Suchmodus und zeigt dann einen Namen an: »Ira Cuprack. Ohne Beschäftigungsverhältnis. Wohnhaft in Zone 3. Adresse unbekannt. Keine Inhaftierungen.«
Er wendet sich Salia zu, um ihr die Informationen weiterzugeben. Die junge Frau steht etwas im Hintergrund und macht einen todmüden Eindruck. Sie hat keine Lust mehr. Oder zumindest heute hat sie keine Lust, nicht nach der Nacht, die sie hinter sich hat. Zem guckt sie an. Denkt sie noch an die Gestalten, die sie gestreichelt, geleckt und an sich gedrückt haben? An den Bericht, den sie schreiben muss, oder an Captain Monk, der ihnen bestimmt vorhalten wird, dass ein weiterer Mord hätte verhindert werden können, wenn sie ihren Job besser erledigt hätten? Vielleicht denkt sie aber auch an gar nichts und will einfach in Frieden gelassen werden. Sie nimmt ein bisschen abseits auf einem Mäuerchen Platz. Ihr Blick ist leer. Ihr Gesicht strahlt eine unglaubliche Abgeschlagenheit aus. Er verspürt den Wunsch, ihr zu sagen, dass sie sich keine Sorgen zu machen braucht, dass die Sache hier nicht wichtig ist, dass sie sich verziehen und die Hässlichkeit der Welt hinter sich lassen werden, doch er schweigt, weil er sie nicht anlügen will. Ihre Aufgabe gleicht der von der städtischen Müllabfuhr. Er fragt den Polizisten, ob er ihnen zwei Kaffee organisieren kann, und setzt sich still neben sie. Er möchte nah bei ihr sein. Und während er auf Magnapolis hinunterschaut, fällt ihm ein, dass in diesen Straßen irgendwo jemand ist, der einen Mord verübt hat und nun lächelt. Der Gedanke erfüllt ihn mit Traurigkeit, mit unendlicher Traurigkeit.