Das Taxi fuhr bis zum Checkpoint an der Trajan Bridge. Der auf die Kuppel trommelnde Hagel übertönte alles andere. Er hatte nicht auf der Polizeiwache Pinto warten wollen, bis Salia zurückkam. Der Chauffeur hatte gezögert. Er hatte Angst, dass sein Auto beschädigt wird. Sparak ließ jedoch nicht locker und bezahlte für eine normale Strecke fast das Doppelte. Er hatte gute Laune. Der Zyklon hielt ihm das Leben vom Hals. Er konnte seinen Gedanken nachhängen. Die Welt um ihn herum langweilte ihn. Nur die Ermittlungen in diesem Fall hielten ihn bei der Stange.
Am Checkpoint weigerte sich der Fahrer, den Weg fortzusetzen. Während des Wirbelsturms wagte er sich nicht in die Zone 3. Sparak blieb nicht hartnäckig. Er machte es sich auf der Rückbank gemütlich, legte den Kopf zurück und dachte an Athen und die Frau, die er dort einmal geliebt hatte.
Lena Farakis. Er sieht sie in all ihrer triumphierenden Jugend vor sich. Er spürt die Erregung, die ihre Schönheit in ihm ausgelöst hat. Er versucht, ihren Körper im Geiste exakt zu rekonstruieren, doch es gelingt ihm nicht ganz. Wo waren gleich noch mal ihre Muttermale? Wie wölbte sich ihr Nacken? Er würde alles darum geben, wenn er diese Details noch einmal betrachten könnte. Er schließt die Augen und erinnert sich an das Gespräch, das sie hatten, als der Staatsbankrott sich abzeichnete. Er hatte lange auf sie eingeredet und sie überzeugen wollen, dass man Widerstand leisten muss und die einzige Möglichkeit darin besteht, sich den Aktionsgruppen anzuschließen. Sie hat ihm erst schweigend zugehört, sich dann über seine leicht soldatischen Anwandlungen amüsiert, schließlich aber seine Sprachgewandtheit bewundert, die sie bislang nicht gekannt hatte. Sie hat genickt und zu ihm gesagt, dass sie gemeinsam auf die Barrikaden gehen und gemeinsam für eine bessere Welt schreien würden. Und sie hat ihn – er weiß es noch genau – mit einem zuvor nie dagewesenen Ernst in der Stimme gebeten, ihr zu schwören, dass ihm das Leben immer wichtiger bleiben würde als die Politik. Er wollte ihr erklären, dass GoldTex Griechenland in den Würgegriff genommen habe und jetzt das ganze Leben politisch sei, doch sie hat wiederholt: »Schwörst du es mir? Dass das Leben für uns beide immer mehr zählen wird als alles andere?« Und er hat geschworen, weniger, weil er an die Sache glaubte, sondern weil er einen Grund gesucht hat, sein Gesicht an ihren Hals zu schmiegen. Lena. Danach kämpfte sie tatsächlich an seiner Seite, sie war sogar das hitzköpfigste Mitglied der Gruppe. Aber sie hatten diesen Pakt. Auch auf den Gipfeln der Wut, auch angesichts der dringendsten Angelegenheiten bedeutete das Leben immer mehr als alles andere. Manchmal gab sie ihm auf einer Demonstration einen Kuss, manchmal bestand sie darauf, dass sie das Auto parkten und baden gingen, obwohl sie den Kofferraum voller Flugblätter hatten oder vielleicht eine Versammlung verpassten. »Denn wenn man vergisst zu leben, hat der Kampf keinen Sinn mehr«, hat sie gemeint. Nun blickt er zurück und stellt fest, dass die Politik alles verbrannt und vernichtet hat. Zwar nicht sie als Paar, dafür aber alles um sie herum. Die Politik hat sie vom Leben abgeschnitten, ihnen das Blut aus den Adern gesaugt und jegliche Freude genommen. Er denkt zurück an den jungen Mann, der er damals war. Lang ist’s her … An die Autos, die er und seine Kameraden angezündet haben, an die Eisenstangen, mit denen sie zuschlugen. Es hat das Ende des Landes nicht abwenden können. Der Vertrag wurde unterschrieben. Die insolvente, ruinierte Nation aufgekauft. Die Proteste haben nicht verhindert, dass Griechenland Stück für Stück auseinanderfiel, wie ein Schiff, das zu lange am Kai gelegen hat und schließlich in seinen Einzelteilen an profitsüchtige Schrotthändler verhökert wird. Er denkt zurück an jene Tage, in denen das Kämpfen noch einen Sinn gehabt hat, weil er und Lena zusammen waren. Das Chaos überwältigt ihn, und der Hagel, der auf die Kuppel hämmert, erinnert ihn daran, wie die Polizei die Tür zu der Wohnung aufgebrochen hat, in der sie zu sechst oder siebt geschlafen haben. Das war an dem Morgen, nachdem ein Typ von den Spezialeinheiten getötet worden war, die Wohnung war in dem besetzten Haus, das die Bewegung ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Die Bullen waren auf einmal mit Sturmgewehren und Taschenlampen hereingeplatzt. Sie nahmen den Raum brutal in Besitz. Schläge. Handschellen. Die Leute wurden mit dem Gesicht auf den Boden gedrückt. Abführen. Er war so froh, dass Lena nicht da war. Das Wissen, dass sie draußen frei herumlief, hat ihm Kraft gegeben. Dann wurde er von den anderen getrennt. Jeder in einen Verhörraum. Was er in den darauffolgenden Stunden erlebte, hat ihn tief geprägt.
So plötzlich, wie der Sturm losgebrochen ist, ist er auch vorbei. Innerhalb von wenigen Augenblicken ebben Regen und Wind ab. Stille kehrt ein. Es wird wieder hell. Der Chauffeur lässt den Motor an, und sie fahren hinüber in die Zone 3. Es herrscht ein unbeschreibliches Durcheinander. Die Straßen sind mit seltsamen Dingen übersät: umgestürzten Mülltonnen, auf dem Dach liegenden Autos, abgerissenen Werbetafeln. Die Stadt ist einmal durchgeschüttelt und auf den Kopf gestellt worden, jetzt erwacht sie zerschlagen und betrachtet ungläubig die Spuren der Verwüstung. Die GoldTex-Drohnen werden nicht lange auf sich warten lassen. Er will es gar nicht sehen, wie sie durch die Lüfte schwirren und zur Mobilisierung aufrufen. »Holt euch die Kontrolle über eure Straßen zurück! Eine gute Stadt steht wieder auf!« Sie überfluten die Gemüter mit Slogans, die sie in fernab von all dem Chaos gelegenen Büros ausgetüftelt haben. Er möchte in seine eigene Sphäre eintauchen, allein sein. Was kümmern ihn die anderen. Welt, ade. Und als der Fahrer ihn fragt, wo er ihn absetzen soll, entgegnet er: »In RedQ, vor dem Dreamshop in der Rue Tallarès.«
»Was für ein Wirbelsturm!« ruft der Besitzer ihm zur Begrüßung zu.
»Wie immer«, gibt er lakonisch zurück.
»Keine Sorge, hier ist alles intakt.«
Sparak bewegt sich sicheren Schrittes zu dem Raum und nimmt dort zwei Pillen, ja, zwei, weil er am liebsten sein gesamtes Hirn auslöschen würde. Was soll’s, wenn er einen Knacks abbekommt. Magnapolis ist schließlich auch toxisch.
Er liegt mit geschlossenen Augen da und lächelt, denn vor ihm erscheinen die Straßen Athens. Die Szene ist von einer ihm wohlvertrauten Trägheit bestimmt. Das wollte er haben, das beruhigt ihn, das ist seine Rettung.
Doch er spürt von Anfang an, dass irgendetwas nicht stimmt. Er fühlt sich schwach. Er muss die Bilder wohl oder übel zulassen. Er ist im Stadtteil Monastiraki, in der Nähe des Mitropoleos-Platzes. Er schlendert durch die Gegend und gelangt zur Voulis-Straße. Merkwürdig. Er kennt diese Straße gut. Hier hat sein Freund Herakles Mourikos gewohnt. Ist das ein Zufall? Die Autos fahren im Schritttempo vorbei. Alles ist langsamer als in der Wirklichkeit. Normalerweise geschieht in diesen Bildern nie etwas. Das ist eine Regel. Die Aufnahmen sind so ausgewählt, dass sie keinerlei Ereignisse enthalten. Man sieht lediglich lebendige Kulissen, vor denen sich das Schauspiel der Menschheit zuträgt. Aber da tauchen plötzlich zwei Autos auf. Sie parken schräg auf dem Bürgersteig, und sechs tatkräftige Männer steigen aus. Vier verschwinden in einem Gebäude, zwei bleiben davor stehen. Es dauert einen Moment, bis er begreift, dass er mit seiner Vergangenheit konfrontiert ist. Ist das ein Programmierungsfehler? Ist die Begebenheit der Überwachungssoftware entgangen? Es vergeht ein bisschen Zeit. Auf einmal kommen die Männer aus dem Gebäude wieder heraus. Einer von ihnen schubst einen jungen Kerl vor sich her, der nur mit einer Unterhose bekleidet und mit Handschellen gefesselt ist. Zem erkennt ihn auf der Stelle. Herakles. Was passiert hier? Sein Herz schlägt schneller. Wie kann das sein? Wird er gerade zum Zeugen eines Vorgangs aus seinem eigenen Leben? Herakles war in der Tat verhaftet worden, Sparak war allerdings nicht vor Ort gewesen. Er schüttelt lethargisch den Kopf, aber das Mittel, das er geschluckt hat, ist zu stark, als dass er sich dem Anblick entziehen könnte. Er muss warten, bis die Wirkung nachlässt. Inzwischen befindet er sich anderswo. In der Plaka. Es ist Nachmittag. Die Sonne steht im Zenit. Auf den Straßen sind nur wenige Menschen unterwegs, weil es so heiß ist. Die kleinen Händler haben ihre Verkaufsstände zusammengeräumt, man hält Siesta. Es ist Ruhe. Auf einmal rennt ein Mann an ihm vorbei. Sein T-Shirt ist zerfetzt. Er ist offenbar verprügelt worden, aber ihm ist die Flucht gelungen. Er wird von zwei Typen mit Pistolengurten und Polizeiabzeichen verfolgt. Hundert Meter weiter holen sie ihn ein und reißen ihn zu Boden, einer drückt ihm das Knie auf die Wange, um ihm Handschellen anzulegen. Der festgenommene junge Mann dreht Sparak nur für einen kurzen Moment den Kopf zu, aber die Zeit reicht, um ihn zu erkennen. Mikis Papangou, ein Mitglied seiner Aktionsgruppe. Auch in dieser Szene sind die Bewegungen der Leute zu schleppend, das darf eigentlich nicht sein. Zem Sparak stöhnt und windet sich. Er erinnert sich. All diese Verhaftungen haben am selben Tag stattgefunden. Wird er jetzt jeder einzelnen beiwohnen müssen? Wie ist es möglich, dass das Programm solche Aufnahmen enthält? Das geht ja drunter und drüber. Sparak will den bösen Traum verlassen, aufstehen und zur Schwerkraft des echten Lebens zurückkehren, aber er kann nicht. Er spürt, dass die Bilder ihn zu den Vorfällen im Keller des Polizeireviers führen werden, in den man ihn unmittelbar nach seiner Ergreifung gebracht hat. Er hat nicht länger oder kürzer durchgehalten als andere. Er hatte sich wie seine Waffenbrüder geschworen, nicht zu singen, wenn man ihn verhaften sollte, denn es steckte so viel Wut in ihm, dass er überzeugt war, hart zu sein, härter als der ganze Rest. Und vielleicht hätte er sich ja tatsächlich zum Helden aufgeschwungen, wenn es darum gegangen wäre, grenzenlose Gewalt schweigend zu erdulden. Doch darum ging es nicht. Sie haben ihn nicht geschlagen. Oder kaum. Sie hatten andere Waffen. Er erinnert sich noch genau: an den Moment, in dem das Gehirn merkt, dass es gerade nicht vorbereitet ist, an seine Verwirrung, diesen Zustand, in dem man nicht denken kann. Sie haben ihn gefragt, ob er lieber schweigen oder zehn Namen aus seinem Umfeld preisgeben möchte. Sollte er schweigen, würden sie Lena Farakis verhaften. Er war zusammengefahren. Woher kannten sie Lena? Sie hatten ihm Fotos unter die Nase gehalten und dabei gelächelt, weil sie sahen, dass diese Fotos ihre Wirkung nicht verfehlten. Ja, sie wussten, wer sie war und wo sie wohnte. Sie kannten die Leute, mit denen sie verkehrte, und die Geschäfte, in denen sie einkaufte. Er war völlig sprachlos. Er begriff, dass er verloren hatte. Aber da er sich noch nicht recht dazu entschließen konnte, seine Freunde zu verraten, verhielt er sich wie andere in der Situation auch: Er schrie, das könnten sie doch nicht machen, sie habe nichts damit zu tun. Er sprach all die nutzlosen Sätze aus, die doch nur allmählich seine Kapitulation vorbereiteten. Lena. Die Polizisten brauchten ihn nicht zusammenzuschlagen. Er war schon zerstört, als er bloß den Namen aus ihrem Mund hörte, ihm war, als hätten sie sie bereits angefasst und besudelt. Als hätten sie sie betatscht, an ihr gerochen und ihr zwischen die Schenkel gelangt. Lena. Er hatte begriffen, dass er in der Falle saß. Es setzte keine Prügel, und es gab keinen heldenhaften Widerstand. Jeder hat seine Schwachstelle, und sie hatten die seine gefunden. Nichts zu machen. Er konnte höchstens entscheiden, wen er jetzt fallen ließ. Er musste sich noch einverstanden erklären, und er willigte ein. Innerhalb von wenigen Minuten wurde er zum Verräter. Er senkte die Augen und nannte die Namen: Herakles Mourikos, Mikis Papangou, Georges Seferidès, Yannis Carapharos. Ihm war klar, dass er sie in den Tod oder zumindest in einen feuchten Kerker schickte, und er selbst daran zugrunde gehen, bis ans Ende seiner Tage auf sein eigenes Spiegelbild spucken würde, aber er nannte die Namen. Das Unheil nahm seinen Lauf. Wagen fuhren los, Einheiten der Zivilpolizei durchstöberten jede Ecke der Stadt, um seine Kameraden aufzuspüren. Und sie erwischten sie, wie sie gerade aus dem Haus gingen, sie traten ihre Wohnungstüren ein und legten ihnen, die nackt und verdattert auf den kalten Fliesen ihrer Badezimmer lagen, Handschellen an. Die Dinge hatten ihren Lauf genommen … Und das wird ihm jetzt vorgeführt. Die Verhaftungen, von denen er nichts mitbekommen hat, weil er in seiner Zelle saß. Was für grausame Mächte sind hier am Werk? Oder schlägt sein eigenartiger Selbstbestrafungsdrang durch? Alles ist da. Vor seinen Augen. Vielleicht hat ja der Zyklon das Programm durcheinandergewirbelt? Er hört, wie an Türen gedonnert wird. Wie Schlösser mit dem Brecheisen aufgebrochen werden. Er sieht Verfolgungsjagden. Er sieht alles und möchte am liebsten weinen. Was für eine Tortur. Und dann waren die Polizisten wiedergekommen, stolz lächelnd. Sie beglückwünschten ihn, klopften ihm auf die Schulter und meinten, er habe ganze Arbeit geleistet. Um ihn nicht vollends zur Strecke zu bringen, erklärten sie, hätten sie nicht alle zehn verhaftet. Sie waren schlauer als gedacht. »Du bist uns wichtig, Sparakos«, nuschelte der Typ, der ihn verhörte. »Sehr wichtig, und deshalb haben wir ein raffiniertes Spiel für dich ausgeheckt.« Zwei waren auf freiem Fuß geblieben. »Du siehst, wir denken an dich.« Er hat die trockene Stimme des Kerls, der sich bemühte, eine komplizenhafte Atmosphäre zu schaffen, noch gut im Ohr. »Drei von euch sind davongekommen, und einer ist der Verräter«, sagte er. »Das ist deine Rettung. Wir haben dir ein Hintertürchen offengehalten.« Er hätte sterben können in dem Moment. Doch es war zu spät. Sein Gehirn war wie betäubt. Er fühlte sich benommen. Er stellte sich vor, wie Verdächtigungen, Misstrauen und Angst die Gruppe zerrütten würden. Und genauso war es gewesen. Nach seiner Freilassung hatte er seine Mitstreiter wiedergetroffen, aber ihre Mienen hatten sich verändert. Man wich dem brenzligen Thema aus. Alle trieb dieselbe Frage um: Wer ist der Verräter? Bis zu dem Tag, an dem einer der drei mit einer Kugel im Kopf auf einem Schuttabladeplatz gefunden wurde. Die anderen glaubten, die Bewegung habe endlich den Judas ausgemacht und ihn gerichtet. Zem war erleichtert und doch am Boden zerstört. Das Kalkül der Polizei ging auf: Diese Leiche sprach ihn frei. Der Ermordete war es, der seine Kumpane verpfiffen hatte. Außer Sparak wusste niemand, dass die Geschichte hinten und vorne nicht stimmte, der Tote ein Partisan war und Zem den Mann umgebracht hatte, so wie er zuvor die anderen ausgeschaltet hatte … Die Polizei deckte ihn durch die Inszenierung einer Vergeltungsaktion innerhalb der Gruppe. Und es funktionierte. Der Verräter war tot. Die beiden anderen waren entlastet. Niemand stellte irgendwelche Fragen. Jeder dachte, die Führung der Bewegung habe die Entscheidung gefällt. Zem war am Leben. Er würde weitermachen, als Verräter, für immer an sein Herrchen gebunden, das ihn an der Leine hatte. »Sparakos, du bleibst bei uns …« Wieder diese Stimme, sanft und brutal zugleich. »Weil du ungeheuer begabt bist.« Er erinnert sich an das Kompliment. Das schmerzhafter war, als ein Hieb es hätte sein können.