Salia versucht, Sparak zu erreichen, aber er geht nicht ans Telefon. Im Kopf schwirrt ihr der Name herum, den Jon Mafram ihr genannt hat: Skyros. Es gilt, keine Minute zu verlieren. Sie schließt ihre Bürotür und dreht den Bildschirm ihres Computers so, dass niemand erkennt, was sie da tut. Sie schaut sich auf der Website der Sicherheitskommission nach einem Mitarbeiterverzeichnis um. Nachdem sie fündig geworden ist, klappert sie sämtliche Namen ab, ohne Erfolg. Kein Skyros. Und doch hat sie das Gefühl, dass sie der richtigen Fährte folgt. Zwei politische Clans bekriegen sich und sind bereit, Menschenleben zu opfern. Sie spürt, dass Pamuk und Cuprack nur zwei Bauern in einer großen Schachpartie waren und ihre Ermordung keine privaten Gründe gehabt hat. Wer wollte sie töten, wer wollte damit wen ausschalten, das sind die entscheidenden Fragen. Sie muss unbedingt mit Sparak reden. Sie braucht seine Spürnase. Sie probiert erneut, ihn zu erreichen, umsonst. Was soll’s. Sie ist sich sicher: Die einzige Lösung besteht darin, sich noch einmal mit Kanaka zu unterhalten.
Sie hat eine unbändige Lust, bei ihm aufzutauchen und ihn festzunehmen. Ihm Handschellen anzulegen und ihn wie einen gewöhnlichen Verbrecher aus seinem tollen Haus in Zone 1 zu führen. Sie erinnert sich, wie arrogant er Sparak und sie empfangen hat, sie würde sich freuen, wenn er der Mörder wäre. Es wäre ihr ein Vergnügen, die Sache bis zu seiner Verhaftung konsequent durchzuziehen. Nicht bloß, weil sie es Jon Mafram versprochen hat, sie hat von Anfang an den Drang verspürt, ihn für sein schönes Leben bezahlen zu lassen. Für den Wohlstand, der ihn umgibt, für das Privileg, darüber bestimmen zu können, wie viel Zeit er seinen Besuchern widmet, welche Fragen er freundlicherweise beantwortet und welche nicht, dieser ganze Rahmen war ihr sofort extrem zuwider gewesen. Aber mittlerweile ist sie davon überzeugt, dass er unschuldig ist. Unanständig und schlecht, aber unschuldig.
Sie wartet am Hintereingang des Versammlungsgebäudes auf ihn. Er hat dort vor einer Menschenmenge, die aus dem gesamten Stadtteil Outresaule zusammengeströmt ist, eine Rede gehalten, die nun seit zehn Minuten zu Ende ist. Der Wahlkampf ist in vollem Gange. Die Kandidaten eilen von einer Kundgebung zur nächsten. Sie weiß, wenn er herauskommt, wird er von einem strammen Team von Mitarbeitern, Journalisten und Meinungsmachern umringt sein, und sie wird nur ein paar Augenblicke Zeit haben.
Die Tür geht auf. Ein Leibwächter tritt hervor und sieht sich um. Er mustert sie aufmerksam, doch da erscheint schon der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses.
»Herr Kanaka?«, ruft sie ihm von Weitem zu. Sie versucht gar nicht näherzukommen, ihr ist klar, der Koloss würde sie daran hindern. »Ich brauche Ihre Hilfe …«
Kanaka schaut sie an. Wie bei ihrem zweiten Zusammentreffen drückt sein Blick nur Verachtung aus. Könnte er sie wie eine Laus zerquetschen, würde er es wohl tun. Sie muss irgendetwas sagen. »Ich weiß nicht, wer Sie stürzen will, aber ich denke, Sie wissen es bestimmt … Sie müssen mir helfen.«
Er hält inne. Ihr Spruch hat anscheinend sein Interesse geweckt, oder er ist zumindest so neugierig geworden, dass er die Richtung ändert, den Bodyguards ein Zeichen gibt, sich einen Moment zu gedulden, und auf sie zukommt.
»Was wollen Sie von mir?«
»Geben Sie mir fünf Minuten.«
»Warum sollte ich mit Ihnen meine Zeit verschwenden?«
»Derjenige, der die beiden Morde begangen hat, wollte eigentlich Sie damit treffen. Und wahrscheinlich wissen Sie besser als ich, wer Ihre Feinde sind.«
»Ich habe viele Feinde.«
»Fünf Minuten. Vielleicht in Ihrem Wagen …«
Er ist einverstanden. Er signalisiert dem Koloss, dass die Dinge ihre Ordnung haben, und dann geht alles sehr schnell. Daran lässt Macht sich messen: Wahrlich mächtig ist derjenige, der Dinge beschleunigen und verlangsamen, vereinfachen und erschweren kann. Macht ist, wenn etwas flutscht, weil man es so beschlossen hat. Die hinteren Türen seines Wagens öffnen sich. Sie steigen beide ein. Niemand glotzt sie mehr schief an. Sie befindet sich nun in einem Raum, den sie erst wieder verlassen wird, wenn er es bestimmt.
Sie erklärt, dass sie über die RealTests Bescheid weiß. Sie gibt das wieder, was Jon Mafram ihr erzählt hat. Dass Pamuk sterben und die ganze Geschichte ans Licht bringen wollte, dass er schließlich jemanden gefunden hat, der bereit war, ihn zu töten. Pamuk, führt sie aus, habe einen gewissen Skyros erwähnt. Sie studiert Kanakas Mienenspiel, als sie den Namen ausspricht, es passiert jedoch nichts, sie erkundigt sich daher: »Kennen Sie ihn?« »Nein«, antwortet er. In ihren Augen, meint sie, sei zwischen dem Gesundheitsausschuss und der Sicherheitskommission ein Krieg ausgebrochen.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragt er mit wiedererwachtem Interesse an der Unterhaltung.
»Meinem Informanten zufolge arbeitet dieser Mann namens Skyros für Barsok.«
Kanaka beobachtet sie aufmerksam. »Von einer Sache profitieren und ein Geschäft anleiern ist aber nicht das Gleiche«, äußert er sich vorsichtig.
Er hat recht. Vielleicht ist Barsok nur auf den Zug aufgesprungen, als er die Möglichkeit gesehen hat, seinem Kontrahenten zu schaden, aber Salia möchte trotzdem bei ihrer Linie bleiben. Kanaka durchbohrt sie mit Blicken.
»Glauben Sie, dass wir den Täter haben, wenn wir Skyros finden?«
»Da bin ich mir sicher.«
»Und glauben Sie, dass wir ihn bei der Sicherheitskommission finden?«
»Ja.«
»Skyros …«, wiederholt er. Dann verstummt er. Sie begreift, dass sie jetzt nichts sagen darf, dass sie ihn in Ruhe nachdenken, Zusammenhänge knüpfen, Hypothesen aufstellen und Erinnerungen heraufbeschwören lassen muss. Sie spürt, dass sein Verstand mit voller Kraft arbeitet, er will ihr anscheinend Informationen geben, hat verstanden, dass ihm das nur von Nutzen sein kann. Und nach einer ganzen Weile redet er. Mit harter, entschlossener, kalter Stimme, so wie man in einer Schlacht Befehle erteilt.
»Bevor Barsok zur Sicherheitskommission gewechselt hat, war er zehn Jahre lang Mitglied des Migrationsbüros. Möglicherweise ist dieser Skyros ja von dort. Man fasst immer am Anfang einer Karriere Vertrauen zu Leuten, später, nach dem Aufstieg zur Macht nicht mehr. Barsoks Laufbahn hat im Migrationsbüro begonnen. Da müssen Sie sich umsehen.«
Und er nennt ihr einen Mann, der Barsok treu ergeben ist, Vince Chaoui.
»Nehmen Sie Kontakt zu ihm auf. Aber sagen Sie ihm nur das Allernötigste. Reden Sie mit sonst niemandem. Das Migrationsbüro ist immer noch Barsoks Reich. Sobald Sie dort auftauchen, wird er über Ihren Besuch informiert.«
Am Square of Fire hält Barsok eine Rede. Wenige Wochen vor der Wahl will er verstärkt die Zone 3 mobilisieren.
Beim Verlassen der Polizeistation Gabu wundert sich Sparak über die sich um den Kandidaten drängende Menschenmenge. Der Auflauf weckt seine Neugier, und er tritt etwas näher heran. Er wird auf einmal stutzig. Barsok erwähnt das Opfer.
»Wissen Sie, was Malek Pamuk umgebracht hat?«
Barsok hat eine laute, kräftige Stimme. Er stützt sich mit seinem ganzen Gewicht auf das Pult, als wollte er es aus der Verankerung reißen oder eins mit ihm werden.
»Ich werde es Ihnen sagen: die Verachtung der Zone 2. Das Ghetto hier, in dem er gelebt hat, und die Tatsache, dass für einen Mann wie ihn die einzige Hoffnung darin besteht, bei der Destiny-Lotterie zu gewinnen. Das ist ein Skandal, das hat ihn umgebracht, und das bringt auch euch um.«
Die Leute grummeln zustimmend.
»Ich bin Barsok. Ihr kennt mich. Ich bin einer von euch. Und ich sage euch: Es wird Zeit, dass die Dinge sich ändern.«
Sparak kommt es so vor, als würde Barsok ihn ansehen.
»Magnapolis könnte das Paradies sein. Manche glauben, dass es das bereits ist, aber wisst ihr was? Die, die das glauben, wohnen alle in Zone 2. Wir hingegen wissen, dass Magnapolis kein Paradies ist. Die Stadt ist lediglich gut bewacht. Genau das muss sich ändern. Es ist Zeit, den Kreis zu erweitern. Daher habe ich den Sitz der Sicherheitskommission in Zone 3 verlegt. Das war kein einfaches Unterfangen. Aber ich habe es geschafft. Seitdem ich im Amt bin, arbeite ich hier, unter euch. Und ich habe es so gewollt, damit ihr seht, dass Veränderungen möglich sind. Ich will es so und ich sage euch: Es wird Zeit, dass ihr das Recht bekommt, in Zone 2 zu arbeiten. Es wird Zeit, dass ihr das Recht bekommt, dort zu wohnen, wenn ihr wollt, und zwar ohne Lotterie. Es wird Zeit, dass ein Kerl wie ich, der aus Zone 3 stammt, in die Direktionskommission gewählt wird und den Herren mal ein bisschen was erzählt. Es wird Zeit, dass die Zonen 2 und 3 sich vereinigen, anstatt sich voneinander abzugrenzen. Eine Stadt, eine Zone! Die Checkpoints müssen endlich verschwinden, die Barrieren fallen! Wir haben den Mut auf unserer Seite, uns lacht die Zukunft!«
Die Menge jubelt. Die Jüngeren skandieren: »Eine Stadt, eine Zone! Eine Stadt, eine Zone!« Sparak guckt sich um. Erstaunt liest er Begeisterung in den Gesichtern der Menschen. Und am meisten überrascht ihn, dass auch er eine Glut in sich spürt: die Glut der Leidenschaft. Als hätte Barsok mit seiner Rede dieses uralte Gefühl in ihm geweckt.
Er will gerade aufbrechen, da kommt einer von Barsoks Mitarbeitern auf ihn zu:
»Herr Barsok würde Sie gern sprechen.« Zem hebt den Kopf. Barsok steht am Fuß der Tribüne, gibt mit der einen Hand ein Autogramm und winkt ihn tatsächlich mit der anderen herbei. Sparak folgt bedächtig und neugierig seinem Ruf.
»Kommen Sie. Wir gehen zusammen ein paar Schritte.«
Die beiden laufen nebeneinander her, in Richtung Barsoks ungefähr hundert Meter weiter stehenden Wagen.
»Wie haben Sie meine Rede gefunden?«, erkundigt sich Barsok, um irgendwie ein Gespräch in Gang zu bringen.
»Ich kann so etwas schlecht beurteilen …«
»Aber Sie kennen die Zone 3 besser als jeder andere«, redet Barsok dazwischen. »Und Sie können sich vorstellen, wie es hier sein könnte.«
Da Sparak nichts sagt, fügt er im Brustton der Überzeugung hinzu:
»Alles ist möglich. Es ist schwierig, aber es ist möglich. Wir können diese demütigende Einteilung in Zonen überwinden. Eine Neuordnung würde die Position von GoldTex stärken.«
»Ich denke, es hat schon immer Sklaven gegeben, die dafür geschuftet haben, dass sich ein paar Privilegierte die Wangen pudern und die Bäuche vollschlagen konnten.«
»Geben Sie zu, dass Sie auf meiner Seite stehen. Ich habe vorhin Ihren Blick gesehen. Sie sind ganz meiner Meinung. Und ich brauche Leute wie Sie, Sparak.«
»Leute wie mich?«
»Leute, die verschiedene Wirklichkeiten erlebt haben. Die wissen, wie schmutzig es hinter den Kulissen aussieht, und die bereit sind, zu kämpfen.«
»Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich bereit bin zu kämpfen?«
»Sie wollen herauskriegen, wer Pamuk umgebracht hat.«
»Das ist mein Job.«
»Sie hätten die Ermittlungen längst einstellen können. Mal wieder ein Mord in Zone 3, was bedeutet das schon? Ein ungelöster Fall mehr, was macht das schon? Wem bereitet so etwas schlaflose Nächte? Wem, außer Ihnen? Sehen Sie. Das ist ein Zeichen. Sie glauben immer noch daran. Ich merke so etwas. Sie haben den Drang, Missstände zu beseitigen und eine gerechte Welt zu schaffen. Wir beide würden gut zusammenarbeiten.«
Sparak schweigt vornehm. Er weiß auch nicht, was er sagen soll. Dass ihn Barsoks Podiumsauftritt eben wirklich ergriffen hat und er echte Bewunderung empfunden hat?
Der gewählte Vertreter der Sicherheitskommission schüttelt ihm die Hand. Er hat sich bereits zum Gehen gewandt, als er sich noch einmal umdreht und sagt: »Denken Sie darüber nach! Und melden Sie sich bei mir, wenn Sie sich entschieden haben!«