1 Letzte Bilder vom Hafen

Die Stadt war auf einmal verrückt geworden. Als das GoldTex-Management verkündete, die Übernahme Griechenlands sei abgeschlossen, gerieten die Bürger Athens in Panik. Sie hatten sich gegen den Aufkauf massiv gewehrt, hatten monatelang demonstriert, die jungen Leute beim Errichten von Barrikaden unterstützt und geschworen, bis zum Äußersten zu gehen, und nun lieferten sie sich alle dem Unterdrücker aus und wollten fliehen. Selbst die Zögerlichsten waren von dem Gedanken besessen: die Stadt zu verlassen, nicht in dieser Falle auszuharren, so schnell wie möglich bei GoldTex anzuheuern und anderswo weiterzuleben. Sie spürten, dass ihre Welt verschwinden würde, und hatten Angst. Gerüchte kursierten: Es hieß, man müsse sich beeilen, nur die Ersten würden genommen, den anderen blühe ein düsteres Schicksal. Griechenland würde in seine Einzelteile zerlegt und verkauft, wer sich nicht aufmachte, würde bald versklavt und vergessen werden.

 

Man musste flüchten. Daran zweifelte niemand. Auf den Straßen regierte der Wahnsinn. In der Tsaldaris-Straße zog eine Frau zwei Koffer und ihre drei kleinen Kinder hinter sich her, blieb abrupt stehen, knöpfte ihre Bluse auf, entblößte ihre Brüste und schrie: »Nehmt uns doch auch gleich noch! Ihr kauft doch sowieso alles!« Auf der Thiseos-Straße bedrängten einige Männer einen Taxifahrer, sie zum Hafen zu fahren. Als der Chauffeur sich weigerte und sich in seinem Fahrzeug einschloss, demolierten sie es, übergossen es mit Benzin und tanzten um den Wagen herum, in einer Rage, die sie sich Tage später selbst nicht mehr erklären konnten. Die Niederlage war endgültig, die ganze Stadt suchte das Weite. Doch die Aufgeregtheit hielt nur wenige Tage an. Sehr rasch wichen wilde Ausbrüche einer stillen Resignation. Die Panik der Menschen trat auf andere Weise zutage. Niedergeschlagen schlichen sie umher, als hätten sie sich damit abgefunden, dass sie nur noch Vieh waren, als hätten sie eingesehen, dass sie gegen das, was kommen würde, nichts mehr ausrichten konnten. Athen senkte sein Haupt. Familien schoben sich mit versteinerten Mienen wortlos voran. Sämtliche Wege zum Hafen, zum Bahnhof und zum Flughafen waren verstopft. In einem absurden Reflex beschlossen viele, mit dem Auto zu fahren, wodurch das Chaos noch größer wurde, weil sie die Wagen mitten auf der Straße stehen ließen und ihren Weg zu Fuß fortsetzen, als sie in gigantischen Staus steckten und feststellten, dass es nicht mehr weiterging und sie nicht umkehren konnten. Die lange Schlange verwaister Autos nötigte die Leute zu allerlei furchtbaren Verrenkungen: Bauch einziehen, Koffer über den Kopf heben, sich zwischen den in der Sonne glitzernden Karosserien hindurchzwängen, von denen eine unerträgliche Hitze ausging. Auf dem Flughafenzubringer bot sich ein unerhörtes Schauspiel: Tausende Männer und Frauen harrten in geduldiger Selbstaufgabe aus. Trotz der regelmäßig wiederholten Hinweise, dass ohnehin keinerlei Flüge verfügbar und die Terminals unerreichbar seien, da bereits so viele Menschen dort waren, strömten die Massen weiter herbei, in der aussichtslosen Hoffnung, ein Pilot werde all den Anordnungen zuwiderhandeln. Die ganze Stadt wollte aufbrechen, aber die Vielzahl ihrer Einwohner legte sie lahm. Die Straßen hallten vom Getrappel der Menge, darunter Tausende von Kindern, man hatte sie bei der Hand genommen und ihnen gesagt, sie sollen aufhören zu weinen. Wer auf diese Flut von Menschen stieß, machte seltsamerweise nicht kehrt, sondern gesellte sich im Glauben, am rechten Ort zu sein, dazu, erstickte die innere Stimme der Vernunft und selbst den eigenen Überlebensinstinkt, nahm hin, einer von vielen zu sein, als wäre es ein Trost, sich zusammenzuquetschen, nicht allein zu sein und Schrecken und Unglück mit anderen zu teilen. Es ging nur schleppend und mühselig voran. Die Menschenmassen verzweifelten ob ihrer Ohnmacht. Man ertrug eine Warterei, bei der man sich bestenfalls darüber freuen konnte, wenige Meter gewonnen zu haben und die einem schlimmstenfalls den letzten Nerv kostete.

 

Er war wie die anderen ausgezogen, doch im Unterschied zu den verängstigten Familien besaß er einen Badge und eine Armbinde, die es ihm erlaubten, die Straßensperren zu passieren und die Warteschlangen zu überholen. Das weckte Neid. Er las ihn in den erschöpften Blicken der Frauen.

Am Hafen von Piräus waren zwei große Schiffe klar zum Auslaufen. Zwei Kolosse, doch angesichts der Zahllosen, die hofften, noch an Bord zu gelangen, wirkten sie eher klein. Das Einschiffen hatte begonnen. Alles bewegte sich quälend langsam auf die Gangway zu. Es waren Papiere vorzuzeigen, sperrige Gepäckstücke, die man hatte mitnehmen wollen, mussten zurückgelassen werden. Es gab viel Geschrei, Proteste und vergebliche Überredungsversuche.

 

Er betrachtete die Not der Menschen und schämte sich, weil er sie hinter sich lassen konnte. Am Kai lag ein kleineres Militärboot, das anscheinend auf ihn wartete. Niemand näherte sich ihm an. Soldaten hielten die Flüchtenden von ihm fern und bewachten es. Er lief schnellen Schrittes auf das Boot zu. Zwei Tage zuvor hatte er seinen persönlichen Evakuierungsbefehl erhalten. Er hatte versucht, sämtliche Dinge des täglichen Bedarfs in seinen kleinen Koffer zu stopfen. Er hatte sich von niemandem verabschiedet. Seine Eltern waren vor ein paar Jahren gestorben, und zum ersten Mal war er bei dem Gedanken daran, wie traurig sie gewesen wären, hätten sie diesen Untergang mitansehen müssen, froh darüber. Das Boot war gerade fertig aufgetankt worden. Er ging an Bord, und von der Brücke aus beobachtete er so lange wie möglich das Land, das er verließ.

 

Bis die Besatzung die letzten Kontrollen abgeschlossen hatte, würde es noch Stunden dauern, aber plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Ein heißer Luftschwall traf ihn im Gesicht, er klammerte sich an die Reling, um nicht umzufallen. Es war eine Explosion, die im Bruchteil einer Sekunde Leben, Koffer und dicht gedrängte Familien weggepustet hatte. Sie hatte sogar den Rumpf des benachbarten großen Schiffes zerstört. Er sah, dass die Massen zu den Hangars zurückrannten. In Panik. Keine Spur mehr von der langsamen Ruhe, die noch einen Moment zuvor geherrscht hatte. Wer stürzte, wurde von anderen überrannt, die sich dessen nicht einmal bewusst waren. Kinderhände wurden losgelassen. Familien auseinandergerissen. Und dann, einige Minuten später, detonierte bei den Hangars, wo alle hingeeilt waren, um sich möglichst weit vom Ort des Grauens zu entfernen, eine zweite Bombe und vernichtete die, die sich gerettet geglaubt hatten. Unabwendbar, monströs. Überall Blut. Überall Gewimmer. Niemand wusste mehr, wohin. Er stand wie gelähmt da und konnte den Blick nicht von dem schrecklichen Schauspiel abwenden. Ihm war klar, dass es Stunden dauern würde, die Opfer zu bergen und zu zählen. Man musste das Gebiet räumen und Hilfe für die Verletzten holen. Die zerstückelten Leichen einsammeln. Das Gemetzel machte ihn fassungslos, er fühlte sich ohnmächtig, die verschwommene Menge vor Augen, die gerade jeglichen Mut verloren hatte. Er dachte sofort an die Gruppe Tigimas[1]. Wahrscheinlich hatte sie den Anschlag verübt. Seit Wochen drohte sie damit, Zivilisten anzugreifen. Sie hatte angekündigt, Bahnhöfe und Häfen zu attackieren. Griechenland würde grässlich werden. Zermalmt und verbrannt. Das Land würde sich selbst auffressen. Überwältigt von diesem Horrorszenario, kam er sich völlig nutzlos vor, denn er war bereits weg, ganz weit weg, durch die Reling des hohen Schiffs von allem getrennt, zudem hatte der Kapitän befohlen, schleunigst die Leinen loszumachen und rasch auszulaufen. Die gemächliche Abfahrt des Bootes bildete einen Kontrast zu dem wilden Treiben an Land. Er blieb auf der Brücke stehen, den Blick auf die rauchende, leidende, schreiende Stadt geheftet. Die Familien im Hafen begriffen, dass ihr Schiff nicht ablegen würde, dass sie in der Falle saßen, von allen Seiten getroffen. Er sah ihnen noch eine ganze Weile zu. Er konnte ihnen nicht helfen, er gehörte schon nicht mehr dazu. Er wusste, er würde nicht zurückkehren. Es war das letzte Bild von Athen, das er mitnahm: das einer Stadt mit weit aufgerissenem Mund, aus dem es nach Bomben und Blut roch. Es war vorbei. Er war ab jetzt kein Grieche mehr.