28 Skyros

Sich allein auf den Weg zum Migrationsbüro zu machen, war wohl keine gute Idee. Ihr Auftauchen im Verwaltungsviertel von Spada wird sicher auffallen. Der Typ am Empfang gibt gewissenhaft ihre Personalnummer ein und scannt ihre Karte, anstatt sie ihr gleich wieder auszuhändigen. Sie darf das Haus betreten, ist jetzt aber erfasst, wird überwacht und durchleuchtet. Sie hat natürlich erzählt, sie sei hier in einer Angelegenheit, in der sie eine Aussage von Herrn Chaoui brauche, doch die Wände des Migrationsbüros haben scharfe Augen und wache Ohren, und die Leute lassen sich nicht so leicht hinters Licht führen. Ihr ist klar, dass sie sich Gefahr aussetzt. Trotzdem will sie keinen Rückzieher machen. Sie ist so nah dran wie noch nie, muss zu Ende bringen, was sie begonnen hat. Sie geht zu dem angegebenen Büro, tritt ein, und noch bevor sie Chaoui richtig anschaut, eröffnet sie:

»Ich kann meinem Chef sagen, dass ich wegen eines Falls von Identitätsmissbrauch hier war, in Wahrheit schickt mich Herr Kanaka, gucken Sie nicht so verwundert. Ich brauche jetzt einen reibungslosen Gesprächsablauf. Ich heiße Salia Malberg, ich bin Inspector und ermittle in einer Affäre, in der jemand versucht, Herrn Kanaka zu verleumden.«

Vince Chaoui verfällt zunächst in Schockstarre, die Erwähnung des Namens Kanaka versetzt ihm dann anscheinend einen Ruck. Nun ist sein Blick lebhaft und konzentriert. Als müsste er sich etwas höchst Kompliziertem widmen, das seine gesamte Aufmerksamkeit fordert.

Sie spricht leise, damit man sie in den benachbarten Büros nicht hören kann. Sie erklärt, dass sie so viele Informationen wie möglich über einen Mann namens Skyros braucht. Dass er vielleicht im Migrationsbüro gearbeitet und Spuren hinterlassen hat.

Chaoui holt wortlos einen Laptop aus einer Tasche, die an einem Schreibtischbein lehnt, und schaltet ihn ein. Als er ihre verdutzte Miene bemerkt, erläutert er:

»Wenn ich in der zentralen Datenbank recherchiere, weiß man sofort, was ich gesucht und gefunden habe.«

Der Vorgang dauert ein paar Minuten. Sie reden kein Wort.

»Hacken Sie sich gerade ins System?«

»Sagen wir lieber, ich umgehe einige Firewalls.«

Er tippt flott etwas in die Tasten, den Blick immer auf den Bildschirm gerichtet. Sie ist in gespannter Erwartung.

»Skyros … Skyros …«, murmelt er. »Da ist er, aber das ist ja seltsam …«

Es hält sie nicht länger auf ihrem Stuhl, sie steht auf und wechselt auf die andere Seite des Schreibtischs.

»GoldTex hat vor vierundzwanzig Jahren einen gewissen Skyros als BiF engagiert. Hinweis: ›Dank für erbrachte Leistungen‹.«

»Und steht da auch, was aus ihm geworden ist?«

»Nein«, sagt Chaoui leicht zerknirscht. »Keine Spur mehr von ihm … Er hat bei GoldTex angeheuert und sich dort in Luft aufgelöst.«

Sie setzt sich hin und vergräbt den Kopf in den Händen, um besser nachdenken zu können. Auf einmal kommt ihr in den Sinn, was Zem ihr am LOve Day erzählt hat. »Warten Sie mal … warten Sie mal …« Sie richtet sich ruckartig auf. »Mancher Angestellte hat seinen Namen geändert.«

»Glauben Sie, dieser Skyros hat das auch gemacht?«

»Warum nicht? Das ist doch ein griechischer Name, oder?«

»Ja, kann sein …«

»Wenn er jetzt einen anderen Namen hat, können Sie ihn trotzdem finden?«

Chaoui fährt sich mit der Hand durch die Haare. Er wirkt plötzlich unschlüssig. Sie bemerkt es und sieht ihn fragend an.

»Ich kann mit meiner Hackerei nicht auf das New-Identities-Portal zugreifen. Dazu müsste ich über die Zentrale gehen.«

»Können Sie sich über die Zentrale einloggen?«

»Ja.«

»Von hier aus?«

»Ja.«

»Dann tun Sie das doch.«

»Sie begreifen anscheinend nicht. Sobald ich den Namen eingebe, weiß irgendwo jemand, dass ich bei der Zentrale nach diesem Datensatz gesucht und ihn abgerufen habe. Und dann … Keine Ahnung … Vielleicht passiert auch gar nichts. Oder es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.«

Er hat recht. Aber sie möchte nicht die Flinte ins Korn werfen. Sie ist sich sicher, dass sich hinter diesem Namen, den sie nicht kennt, die Wahrheit verbirgt. Sie hat so ein Bauchgefühl. Sie denkt nicht nach, welche Folgen das Ganze haben könnte. Der Name strahlt für sie etwas Magisches aus. Sie muss ihn herauskriegen. Sie gibt Chaoui einen Fingerzeig, er soll ihn eintippen. Es dauert nur wenige Sekunden. Er ruft eine Website auf, gibt erst seine Kenndaten und dann den Begriff Skyros ein. Einen Augenblick später liest er vom Bildschirm das Suchergebnis ab.

»Solobek …«

»Solobek?«

»Ja.« Und er trägt vor, was da weiter steht. »Unter dem Namen Skyros zu GoldTex gekommen. Hat einige Jahre im Migrationsbüro gearbeitet. Dann einen Antrag auf Namensänderung gestellt. Ist schließlich Barsoks Sonderberater geworden.«

Sie lässt sich den Namen einen Moment durch den Kopf gehen: Solobek. Sie erinnert sich an den Anruf, den sie erhalten hat. Dieser Solobek hat sie auf Kanakas Spur und die Auseinandersetzung zwischen ihm und Pamuk gebracht. Solobek und Skyros, der Mann mit den zwei Gesichtern, der seine Späße mit ihr treibt und ihr die Zunge bleckt. Sie ist sich nicht sicher, ob sie das neue Element richtig einordnet, aber sie hat das Gefühl, dass langsam Geheimnisse ans Licht kommen. Auf einmal fällt ihr ein, was Chaoui am Anfang gesagt hat. Dass ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Die Sekunden verrinnen, sie muss auf der Hut sein. Von nun an ist sie in Gefahr. Sie steht also auf, bedankt sich bei ihm und verlässt das Haus.

 

Sie geht schnell. Sie erreicht eine Geschäftsstraße, wo sie sich unter die Menge mischen kann, aber sie macht sich Sorgen. Sie dreht sich um und schaut, ob ihr jemand folgt. Sie würde die Dinge gern in Ruhe von allen Seiten betrachten, aber sie spürt, dass sie auf keinen Fall stehen bleiben darf. Sie nimmt die Bedrohung, die sich zusammenbraut, dennoch nicht wahr, ist in Gedanken vertieft. Sie bemerkt das Auto nicht, das ungefähr hundert Meter hinter ihr ist, sieht den Mann nicht, der ihr auf ihrer Straßenseite entgegenkommt, eine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Sie erkennt Panotis nicht. Sie kommt gar nicht auf die Idee, den Kopf zu heben. Sie denkt, sie muss als Erstes all die aufgenommenen Informationen verarbeiten. Sie ist irgendwie überhaupt nicht da, versunken in ihre weitverzweigten Überlegungen … Ist der Fall damit aufgeklärt? Ein raffiniertes Spiel rivalisierender Kommissionsmitglieder? Wurden Pamuk und Cuprack deshalb getötet, weil man die Taten Kanaka unterschieben wollte? Einfach weil die Umstände es erlaubten, Kanaka als den Mörder hinzustellen? War so etwas denkbar? Taten die Lebensverhältnisse der Opfer, ihre Wünsche und Sehnsüchte, wirklich nichts zur Sache? Wurden sie nur deswegen aus dem Weg geräumt, weil sie Kanaka gekannt hatten und man leicht eine Geschichte konstruieren konnte, die Kanaka wie einen kaltblütigen Mörder aussehen ließ? Kann das stimmen? Das war ja noch trauriger als irgendein sadistisches Verbrechen. Töten aus der Überzeugung heraus, dass das Leben der Betroffenen absolut nichts wert ist, keinerlei Bedeutung hat. Ekel ergreift sie. Wut steigt in ihr auf, während sie weiterläuft. Sie merkt nicht, dass Panotis auf sie zukommt. Sie sieht nicht, wie er einen Elektroschocker zückt und sie damit im Vorbeigehen am Bauch berührt … Ein stechender Schmerz durchzuckt sie, sie ist erledigt. Das Ganze geht extrem rasch. Der Wagen, der hinter ihr war, beschleunigt, hält auf sie zu, bremst neben ihr. Zwei Männer steigen aus, packen sie unterm Arm und schubsen sie ins Fahrzeug. Sie ist völlig wehrlos. Ihr Körper fühlt sich schwer und steif an. Sie spürt Schmerz bis in die Haarwurzeln, ist total kraftlos. Man schiebt sie auf den Rücksitz, eine Stimme weist den Fahrer an, nicht lange herumzutrödeln. Es ist vorbei. Ihr Bewusstsein wird trübe. Sie kann nicht mehr klar denken, sich nicht mehr konzentrieren, sich den Namen nicht mehr einprägen. Solobek. Er schwirrt ihr noch einen Augenblick lang durch den Kopf, ganz leise, dann verschwindet er, wie alles um sie herum.

 

Ihr Verstand kehrt für Momente zurück. Ausschnitte der äußeren Realität ziehen vor ihren Augen vorüber, ohne dass sie weiß, wo sie sich befindet. Eine Eisentür wird zugeschlagen. Jemand schleift eine Kette hinter sich her. Eine Hand drückt ihren Arm zusammen und zieht an ihm. Es tut nicht weh. Sie nimmt den Geruch von Benzin wahr. Hört in der Ferne Stimmen, versteht aber nicht, was sie sagen. Dann wird es wieder dunkel. Wie viel Zeit wohl vergangen ist? Schwer zu bestimmen. Wahrscheinlich sitzt sie auf einem Stuhl, den Kopf nach hinten gekippt. Sie erkennt die Decke eines Hangars. Jemand fasst ihr in die Haare. Was macht er? Sie vernimmt ein seltsames Geräusch. Er fummelt an ihrem Kopf herum. Sie wird mit Klebeband geknebelt. Man fesselt ihr die Hände auf den Rücken. Ihre Kräfte schwinden, sie wird ohnmächtig.

 

Es ist feucht … und dämmrig … Sie wird getragen … oder geschleift, sie weiß es nicht genau … Sie versucht, sich zu sammeln. Reißt die Augen auf. Ein Tunnel … Sie ermahnt sich, das nicht zu vergessen: Dass sie durch einen Tunnel geschleppt worden ist. Eines Tages wird es wichtig sein, den Weg, den sie zurückgelegt hat, zu rekonstruieren. Sie murmelt das Wort ein paarmal vor sich hin … Ein Tunnel … Ein Tunnel … Doch dann übermannt sie die Erschöpfung. Wird sie sterben? Ja. Daran besteht kein Zweifel.

 

Panotis lächelt. Er sieht sie aus ungefähr zehn Meter Entfernung an. Dieses Lächeln flößt ihr am meisten Angst ein. Nicht so sehr die Tatsache, dass sie an einen Stuhl festgebunden ist. Nicht so sehr dieser offensichtlich neue Hangar, der wie dafür geschaffen scheint, ihr die Haut abzuziehen. Nein, sein Lächeln. Jetzt erkennt sie den Kerl wieder. Er ist noch dabei, eine Maschine einzustellen, doch bestimmt freut er sich schon, wenn er sich ihr gleich nähern und sie vernichten darf. Und diese Lust, sie zu quälen, sein kaum verhohlener Spaß daran lösen Entsetzen in ihr aus. Sie versucht nachzudenken. Reden kann sie nicht. Sie kann auch nicht mit den Füßen nach ihm treten, wenn er kommt. Sie hat keine Chance. Sie ist ihm ausgeliefert. Sie weiß, dass er ihr wehtun wird. Sie bemüht sich einfach, ganz ruhig zu atmen. Ihren Herzschlag zu verlangsamen. Sie erinnert sich an die Ausbildung an der Polizeiakademie, an Situationen, in denen sie der Sache nicht gewachsen war, in denen sie alles überforderte, wo sie von einer hohen Mauer springen oder gegen einen Rekruten kämpfen musste, der dreißig Kilo mehr wog als sie, sie ruft sich solche Momente ins Gedächtnis, in denen sie an Herausforderungen zu scheitern drohte, die sie am Ende aber doch meisterte. An diese Momente klammert sie sich. Sie möchte an einen unerreichbaren Ort flüchten können. Soll er machen, was er will: sie schlagen, vergewaltigen, bespucken, foltern, es muss in ihrem Innern einen Platz geben, der für ihn nicht zugänglich ist oder wo er nur eine winzige, unbedeutende Figur in der Ferne ist. Nach diesem Winkel sucht sie. Und dann ist er da. Er setzt ihr einen Helm auf. Sie spürt das kalte Metall an ihrem Kopf. Das bedeutet: Er will sie fertigmachen. Er hat es auf ihr Gehirn abgesehen. Doch es nützt nichts, es zu erkennen, das Wissen schützt sie vor nichts, denn in dem Moment, in dem es ihr klar wird, geht es schon los, und es ist, als würde die Welt zerbrechen.