30 Folter

Er betrachtet noch ein paar Augenblicke den Slum zu seinen Füßen und die umliegenden Viertel. Ein leichter, lauer Wind streicht über die Hochstraße. Von hier aus kann er den großen Graben, den Big Fosse, der sich so weit das Auge reicht erstreckt, genau überblicken. Ursprünglich war er als eine Art Pufferzone rund um die Zone 2 gedacht gewesen. Doch die Arbeiten wurden abgebrochen, nur der südliche Teil wurde ausgehoben. Der Graben ist ein halbmondförmiger Krater, an die zehn Kilometer lang, mit drei Brücken, über die die Avenuen VI, VIII und VIII jeweils direkt zu einem Checkpoint führen. Nachdem die Bauarbeiten eingestellt worden waren, haben sich die Einwohner der Zone 3 das Gebiet zurückerobert, Elendsviertel sind entstanden. Mittlerweile gehört es zu den Gegenden mit der größten Bevölkerungsdichte. Er lehnt sich an ein Geländer, und die Geräusche der Umwelt dringen an sein Ohr. Er steht nur wenige Meter vom Abgrund entfernt. Von der Stelle, wo die Brücke bei den Schweren Unruhen nach den beiden von den Ordnungskräften gekonnt geplanten Explosionen nachgegeben hat. Das Ganze ist so lange her. Ist er der Einzige, der sich noch daran erinnert? Die Baracken, die damals unter dem Schutt begraben wurden, sind wieder aufgebaut worden. Es gibt jetzt sogar mehr als früher. Die Welt ballt sich zusammen. Sie vergisst einfach, und alles geht weiter seinen Gang. Er zieht an seiner Zigarette und denkt an Pamuk und Cuprack. Soll er seine Ermittlungen vielleicht einstellen? Soll er die zwei in die große Armee der Vergessenen eingehen, sich in die Menge all der Unwichtigen einreihen lassen, der Toten und der Lebendigen, der Verstümmelten und der Nichtverstümmelten, die sich ihre Wünsche nicht erfüllen konnten? Wen kümmert das schon? Was zählt seine eigene hartnäckige Erinnerung angesichts der Auslöschung von Generationen?

 

Er steht am Ende dieser abgeschnittenen Schnellstraße, und auf einmal vibriert sein Armband. Er schaut. Eine dringende Nachricht. Leiche aufgefunden. In Zone 3. Sektor Citadelle. Das Display blinkt. Es wird eine Verbindung zu seinem Fall vermutet. »Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs: sehr hoch.« Er drückt die Zigarette aus, lässt das Geländer zurück und geht zu seinem Fahrzeug.

 

Er passiert den Wasserturm Citadelle an der Ecke Rue des Anciennes-Broussailles/ Gamma 8, danach ist die Straße leer. In der Ferne erkennt er schon Bareïm, der seinen Bauch hin- und herwiegt, indem er von einem Fuß auf den anderen wippt. Als Sparak sich nähert, zieht der Informant ein schiefes Gesicht und senkt den Kopf. Er begrüßt Zem mit einem kaum merklichen Nicken.

»Bareïm, was hast du aufgespürt?«, fragt Sparak, um ihm zu verstehen zu geben, dass die Geschichte, die neulich auf dem Polizeirevier zwischen ihnen gelaufen ist, zumindest für ihn nicht mehr wichtig ist, er die Sache als erledigt ansieht und nun alles ganz normal weitergeht.

»Hier entlang«, gibt Bareïm trocken zurück, ganz offensichtlich ist es ihm ein Anliegen, seinen Unmut zu zeigen.

 

Sie biegen in eine Straße ein. Der füllige Bareïm marschiert voraus. Sparak folgt ihm, bis Bareïm schließlich ein wenig zur Seite tritt und sagt:

»Da …«

Sparak erblickt eine Frau, die mit dem Gesicht auf der Erde eng an einer Mauer liegt. Sie ist nackt und mit Blutergüssen übersät. Er muss sie auf den Rücken drehen, um nachzusehen, ob sie aufgeschlitzt ist, ist sein erster Gedanke, doch noch ehe er dazu ansetzen kann, bewegt sie sich, und Sparak fährt zusammen. Er war sich völlig sicher, dass man ihn aufgrund eines Mordes benachrichtigt hatte. Er bleibt einen Augenblick wie angewurzelt stehen.

»Lebt sie noch?«

»Sie ist dermaßen fix und fertig, dass ich nicht weiß, ob man ihren Zustand noch als lebend bezeichnen kann!«, antwortet Bareïm genüsslich schaudernd.

In seiner Stimme schwingt ein Unterton von Rache mit. Als wäre die bemitleidenswerte Frau misshandelt worden, um ihn für die paar Backpfeifen, die Sparak ihm verpasst hat, zu entschädigen.

»Ich verschwinde dann mal«, sagt Bareïm, womit er Sparak mitteilt, dass er sich über seine Pflicht hinwegsetzt, ihm falls nötig zu helfen. Und damit zieht er gemächlichen Schrittes davon und kehrt zufrieden zur eingehenden Erkundung der hässlichen Seiten dieser Stadt zurück.

Sparak beugt sich nach unten. Er berührt mit der rechten Hand sanft und bedächtig die Schulter der Frau. Als wäre sie ein kleines Tier, das man nicht erschrecken will. Sie dreht sich. Ihr Gesicht kommt zum Vorschein. Sparak erstarrt. Es ist Salia. Er ist wie gelähmt. Er schaut sie an, versucht zu begreifen. Sie hat etwas Seltsames an sich. Ihr Blick ist ganz anders. Sie sieht ihn an, scheint ihn aber nicht zu erkennen. Ihre Pupillen zucken. Und sie spricht. Sparak versteht zwar kaum etwas, aber er sieht, dass sie redet. Sie bewegt die Lippen. Er hält sein Ohr an ihren Mund, und ein monotoner Wortschwall ergießt sich über ihn:

»Egal … die Scheiße rinnt … ficken, ficken. Das spritzt, rein, raus … das Blut stinkt. Das gefällt dir. Spucken. Messer in den Bauch. Schreie. Rückkopplungen. Schreie. Schreie …«

Er wird kreidebleich. Alles Blut scheint aus seinen Adern zu weichen. Er fällt vor ihr auf die Knie und schließt sie in seine Arme.

»Salia? … Salia? … Ich bin’s, Zem …«

Sie zeigt keinerlei Reaktion. Ihr Mund steht offen, ihr Blick ist leer. Dieser Blick prallt an allem ab, sie nimmt offenbar nur wahr, was in ihr tobt. Und sie spricht weiter. Redet ununterbrochen und kaum vernehmlich, in dem Fluss von Bildern und Szenen treibend, die in ihr sind.

»Schweinestall … massenweise Schweine … Schlachthaus … Schlachthaus! … die brüllen einem ins Ohr. Alle an den Hinterbeinen aufgehängt … Eingeweide kommen raus … Sperma auf gefesselten Mädchen, die weinen, aufgeritzte Häute. Fressen … Menschenfleisch … Scheiße … nackt, die Hündinnen … Hinrichtungen … Falltür unter den Füßen … Strick gespannt … Zack! Wirbel knacken. Da hängen sie. Lila Zungen hängen raus … Zack! Aufgehängt. Rasiert. Schädel voller Krusten und Läuse … Schweinestall … das Ganze, zack! Besser so …«

Zem nimmt sie in den Arm. Sie wehrt sich nicht, drückt sich aber auch nicht an ihn. Ihr Körper fühlt sich weich an, sie ist offensichtlich gleichgültig gegenüber allem.

»Salia, sie haben dich gefoltert … Hörst du mich? Sie haben deinen Kopf mit Bildern vollgeballert … Ich hole dich da raus.«

Und er presst sie fester an sich. Er spürt die Schauder, die sie erfassen. Die Flut der schmutzigen Bilder, die ihre Adern und ihr Gehirn durchströmen. Ihm ist klar, dass sie vielleicht nie wieder zurückkommen wird, oder dass es zumindest Monate oder auch Jahre dauern wird, bis sie sich langsam davon erholt. Sie haben sie innerlich zerstört. Es ist, als hätten sie sie zehn Jahre lang gequält, sie wird dem Meer von Albträumen nicht entrinnen können: Mord, Pornografie, Folter … Man hat sie einer Lawine abscheulicher Darstellungen ausgesetzt, und sie muss sie aushalten und beschreibt nun unwillkürlich die Szenen, die sie vor ihrem inneren Auge sieht, aber es sind so viele, alles geschieht zu schnell, und deswegen stammelt sie in ihrem Untergang.

»Muschi auf … es blutet … die Hündinnen … auf allen vieren … kriegen eine Kugel in den Kopf … Sperma, Blut … ein Fleischerhaken, Köpfe wackeln … Dreck, Aufsaugen, Zähne … beißen ins Fleisch … Schreie …«

Zem weiß nicht, was er sagen oder machen soll. Er ist angesichts von so viel Schmerz wie versteinert. Er merkt nicht, dass der Krankenwagen kommt und parkt. Er merkt nicht, dass zwei Sanitäter aussteigen, ihn auffordern, zur Seite zu treten, und ihm dann ein zweites Mal sagen, sie würden die Verletzte jetzt gerne mitnehmen. Wenigstens ist er noch geistesgegenwärtig genug, um die beiden darauf aufmerksam zu machen, dass das Opfer aus Zone 2 ist und man sie dorthin bringen muss, bevor er wieder verstummt. Sein Verstand ist wie benebelt. Er hat keine Lust, die Fragen der zwei zu beantworten, er hört sie gar nicht und klammert sich fest an Salia, sodass die Rettungskräfte die beiden zusammen in den hinteren Teil des Wagens verfrachten, beschließen, ihn später noch einmal zu ersuchen, die unentwegt vor sich hin murmelnde Frau loszulassen, und sich fragen, wer nun eigentlich mehr leidet, er oder sie.

 

Im Krankenhaus Sanita-Santa wird er von einem Neurologen im Wartezimmer abgeholt. Er folgt ihm durch einen Flur. Alles ist ruhig, weiß und von steriler Kälte. Als er das Zimmer 413 betritt, wundert er sich, dass er sie auf der Bettkante sitzend vorfindet, mit gesenktem Kopf und in der Luft baumelnden Beinen. Da Sparak nichts sagt, ergreift der Arzt das Wort. Er erkundigt sich:

»Sind Sie der Mann, der sie gefunden hat?«

»Ja.«

»Gut, dass Sie sie in die Zone 2 gebracht haben. Hier wird sie besser versorgt. Wir werden tun, was wir können, aber die Lage ist schwierig.«

»Wie schwierig?«

»Wissen Sie, wie so etwas funktioniert?«

Zem schneidet eine Grimasse, was heißen soll, dass er zwar schon mal davon gehört hat, sich aber nicht besonders gut auskennt.

»Man wird mit Bildern und Tönen malträtiert, die direkt ins Gehirn eindringen. Stellen Sie sich vor, ein Presslufthammer bohrt sich in Ihren Kopf … Wie groß die Schäden hinterher sind, hängt von der Dauer der Einwirkung und der Intensität der Belastung ab. Mit Ihrer Kollegin ist anscheinend nicht gerade zimperlich umgegangen worden …«

»Können Sie sie heilen?«

»Wir werden es versuchen. Aber ich möchte Ihnen nichts versprechen. Es wird letztlich von ihr selbst abhängen. Im Moment ist sie noch im Schockzustand. Da kann man nicht viel machen. Für sie ist es so, als wären die Bilder immer noch Realität. Wir geben unser Bestes, um sie aus der Hölle herauszuholen, aber ich habe selten einen Patienten gesehen, der so strapaziert worden ist. Tut mir leid.«

Er verabschiedet sich mit einem Nicken, das Sparak erwidert, öffnet die Tür und verschwindet.

Zem bleibt allein zurück. Er schaut Salia an. Sie ist ganz nah bei ihm, hat aber noch immer nicht den Kopf gehoben. Vielleicht weiß sie gar nicht, dass er neben ihr sitzt. Er betrachtet diesen Körper, den er umarmt und geküsst hat, und denkt sich, dass sie im Grunde überhaupt nicht da ist, er muss sich das einschärfen. Er hat es mit einem Trugbild zu tun. Salia ist in Stücke zerrissen. Sie sitzt nicht neben ihm auf diesem Bett. Sie ist zerbrochen.