31 Freigabe

Captain Monk bleibt nüchtern und sachlich. Er könnte Sparak per Bescheid informieren, aber er zieht es vor, ihn aufs Revier zu bestellen. Ist das nun freundliche Rücksichtnahme oder vielmehr der Drang, ihn zu demütigen? Schwer zu sagen. Als Sparak ins Büro kommt, sitzt Monk bereits mit Cal und Ronnie zusammen. Er stellt die Herrschaften einander vor und beginnt zu reden. Er erklärt Sparak, dass die beiden die Fälle übernehmen würden, die Sache damit in guten Händen sei, besser könne es nicht sein. Er bedankt sich bei ihm für die Zeit, die er in die Ermittlungen investiert habe, fügt hinzu, es tue ihm sehr leid, dass das Ganze jetzt so enden würde, er werde die kleine Malberg nicht fallen lassen, man werde die Mistkerle fassen, und sagt all die Redensarten auf, die man gewöhnlich hervorbringt, um sich selbst zu versichern, dass man das Richtige macht.

»Möchten Sie Cal und Ronnie noch etwas mitteilen, bevor Sie die Angelegenheit übergeben?«

»Nein«, antwortet Sparak knapp. »Steht alles in den Akten.«

»Prima. Dann alles Gute, Sparak. Ich erteile Ihnen hiermit offiziell die Freigabe.«

Man schüttelt sich die Hand. Ein wenig lustlos. Im Hinausgehen bleibt Zem in der Tür stehen.

»Captain Monk?«

»Ja?«

»Darf ich Salia vielleicht …«

Er spricht den Satz nicht zu Ende. Monk sieht ihn mit bedauerndem Gesichtsausdruck an und sagt mit gespieltem Entgegenkommen:

»Ich kann nichts arrangieren … Sie wissen ja, keine Besuche. Nur von der Familie.«

Sparak überlegt kurz, ob er entgegnen soll, dass Salia doch gar keine Familie hat, aber ihm ist klar, dass das nichts bringen würde.

»Ja, natürlich.«

 

Aus und vorbei. Er schlendert zu seinem Wagen, ohne sich noch einmal nach der Polizeiwache Pinto umzudrehen. Er wird nicht mehr hierher zurückkehren. Die Phase, die mit der Entdeckung von Pamuks Leiche begonnen hat, ist abgeschlossen. Sie haben versagt. Wird Pamuks Seele ihn nun dafür verfluchen? Er hat versprochen, den Mörder zu finden. Er hat, als er im Krankenwagen an der Seite des Opfers saß, geschworen, das vergossene Blut zu rächen. Salia muss der Lösung des Falls ganz nahegekommen sein, aber jetzt liegt alles in Trümmern. Die Toten stöhnen wieder.

 

Im Stau vor dem Checkpoint Trajan beschleicht ihn ein ungutes Gefühl. Er kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass der Täter im selben Augenblick irgendwo jubelt. Dass er sich ins Fäustchen lacht. Denkt er an die zwei, die er aufgeschlitzt hat? Wohl eher nicht. Bestimmt genießt er einfach nur seinen Sieg. Sparak fühlt sich so bleiern, dass er sich mit beiden Händen am Lenkrad festhält, um nicht im Sitz zu versinken. Die Autos bewegen sich im Schritttempo. Es ist mächtig was los. Rushhour. Die für die Zone 2 Akkreditierten sind nach ihrem Arbeitstag auf dem Weg nach Hause. Sparak starrt auf die Ampel, die von Rot auf Grün umschaltet, woraufhin die Fahrzeuge tröpfchenweise zu den Wachposten vortuckern. Die Leute werden wie Vieh behandelt. Nichts anderes. Ein Stückchen vor. Stopp. Weiter. Stopp. Sie machen gute Miene zum bösen Spiel, bereiten keine Probleme, arbeiten. Halten die Klappe, zeigen ihre Ausweise vor, weiter. Führen Befehle aus, sagen keinen Mucks und weiter … Die Autoschlange erscheint ihm auf einmal als das schwindelerregende Sinnbild des Lebens, das vor ihm liegt. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als in die Zone 3 zu tuckern und weiterzumachen. Auf ein paar Biere in die Nische zu gehen. Mit seinem Kühlschrank zu kämpfen und Ermittlungen in lausigen Fällen zu führen, in denen verwahrloste Typen ein paar Prostituierte überfallen oder kleine Lebensmittelläden ausrauben. Wie lange wird er das durchhalten?

 

»Maria, sind Sie bereit, das größte Opfer zu bringen, das man von einer Mutter verlangen kann? Sind Sie bereit? Ich kann Sie nicht hören …«

»Ja … ich glaube schon.«

»Um das Wohl Ihres Sohnes willen, Maria, sind Sie bereit, ihn gehen zu lassen?«

»Ja …«

»Warum weinen Sie jetzt, Maria?«

 

Auf der großen Leinwand, die am Checkpoint Trajan prangt, laufen die Ergebnisse der Destiny-Lotterie. Vor einer halben Stunde hat die Auslosung stattgefunden. Die ganze Zone 3 hängt wahrscheinlich gerade an den Bildschirmen. Ein Kamerateam hat die Gewinnerin aufgetrieben. Eine alleinerziehende Mutter, deren Mann ausgezogen ist, um jedes Bier zu trinken, das er auf seinem Weg findet, oder ein armes Ding zu schwängern, das noch an die Liebe glaubt. Sie heißt Maria. Sie wäre eigentlich ganz hübsch, wenn ihre Zähne nicht vom Elend gebrochen wären und man ihr nicht an den Augenringen ablesen würde, dass sie ohne Tabletten nicht mehr schlafen kann. Vermutlich hat sie vor sechs Jahren ein Los gekauft, weil eine Freundin ihr im Spaß dazu geraten oder sie ihrer Mutter versprochen hat, dass sie ihr Glück mit dem Geld, das die Mutter auf die Seite gelegt hat, mal versuchen wird, aber schon bald hat sie die Sache wieder vergessen. Die Zeit ist vergangen, und sie hatte straffe Tagesabläufe, musste ein Kind ernähren, es großziehen und aufpassen, dass es nicht auf die schiefe Bahn gerät oder jedenfalls nicht so schnell. Das Leben hat sie ausgemergelt, sie ist gealtert in den sechs Jahren, aber Destiny hat ein phänomenales Gedächtnis und vergisst diejenigen, die ihr Glück einmal versucht haben, nicht. Und so fällt sechs Jahre später das Los. Der junge Jeefox tritt ins Rampenlicht. Er hat gewonnen. Er wird die Zone 3 verlassen. Eine der von Destiny betriebenen Schulen besuchen und ein braver kleiner Soldat werden, der dem System dankbar ist. Er wird seine Mutter nicht mehr sehen, nicht mehr in die Zone 3 zurückkehren. Das Leben geht weiter. Wird man ihm tatsächlich etwas Besseres bieten? Merken die Gewinner, dass es jenseits ihres kleinen Sieges – den sie für Schicksal halten, da sie sich von der schwindelerregenden Vorstellung des Zufalls lossagen müssen –, einen ungleich größeren Sieg gibt, und zwar den von GoldTex, der als Konzern mit den Leuten spielt, ihr Leben umkrempelt und auf den Kopf stellt, damit alle denken, dass jeder Tag reich an Möglichkeiten ist? Das Gesicht des jungen Jeefox erscheint auf dem Bildschirm. Riesenhaft. Die Mutter weint, weil sie sich immer erhofft hat, dass ihr Junge die Chance bekommt, sein Leben zu meistern, und weil sie nie gedacht hätte, dass sie ihn dafür gehen lassen muss, man ihn ihr entreißt. Was wird jetzt aus ihr werden, wenn sie sich nicht mehr um ihn kümmern darf? Was soll sie davon abhalten, sich von morgens bis abends mit TQX zuzudröhnen oder sich als Nutte zu verdingen, damit sie dann aus dem Mund von Kerlen, die vor Einsamkeit wahnsinnig geworden sind und gar nicht mehr wissen, wie man eine Frau in den Arm nimmt, ein Ich-liebe-dich hört? Was soll sie davon abhalten, schön langsam zu sterben? All das würde sie gern fragen, aber sie wagt es nicht, weil sie so beeindruckt ist von dem Moderator, den sie schon oft im Fernsehen gesehen hat, sie kann es immer noch nicht fassen, dass er nun vor ihr steht, und sie hat ja auch einen Vertrag unterschrieben, sie erinnert sich zwar nicht mehr an den genauen Wortlaut, das heißt, eigentlich hat sie diesen Vertrag überhaupt nicht gelesen, aber sie weiß, dass sie sich verpflichtet hat, keinen Ärger zu machen, das Ganze erschien damals eben recht unwahrscheinlich, und jetzt sind sie lächelnd bei ihr zu Hause aufgeschlagen, mit ihren Kameras und zwei Hünen, die im Moment gar nichts sagen und sich im Hintergrund halten, die jedoch verhindern werden, dass sie sich an ihren Sohn klammert oder ihn fest an sich drückt, wenn sie ihn ihr wegnehmen wollen, das hat sie in früheren Sendungen gesehen, Mütter, die schrien, sie hätten das alles nicht gewollt, sie hätten das Recht, egoistisch zu sein, sie würden lieber ihren Sohn behalten, aber sie schreit nicht, traut sich nicht, sie weint einfach, und in ihren Augen spiegeln sich Verzweiflung, Trauer und Wut wider, die Kamera genießt das, geht noch näher heran, zieht den Moment in die Länge, das ist schön, die Hin- und Hergerissenheit der Mutter, wie sie das Gesicht verzieht, steigende Spannung, wird sie ausrasten, sich auf ihren Sohn werfen, jeden kratzen und beißen, der ihn fortbringen will, oder wie eine Stoffpuppe kraftlos in sich zusammensinken, ihr Schicksal annehmen und den Applaus über sich ergehen lassen? Sparak schaut wie alle, die am Checkpoint warten müssen, bis sie an der Reihe sind, in ihr Gesicht und möchte selbst weinen und beißen. Das ist seine eigene Geschichte. Auch er wurde aus seinem Umfeld herausgerissen, auch ihm hat man eine bessere Zukunft versprochen. Auch ihn hat man dazu gebracht, sich von zu Hause zu lösen, seinen Weg zu gehen, und es war egal, wenn die Mütter weinten, egal, wenn man seine Herkunft schlicht vergaß. Sparak ist von Marias Anblick wie hypnotisiert und fragt sich, ob Griechenland um seine Kinder geweint und getrauert hat, die abgewandert sind, um all die jungen Menschen, die sich GoldTex angeschlossen haben, weil man ihnen erzählt hat, dass es sinnlos ist, Bürger eines bankrotten Landes zu sein, dass eine neue Zeitrechnung begonnen hat, an der sie teilhaben können. Er schaut Maria an, und die Welt um ihn herum zählt nichts mehr, bis das Hupen der Autos hinter ihm so laut wird, dass es ihn aus seinen Gedanken reißt, und er weiterzuckelt.