33 Panotis

Ab jetzt kommt Gewalt ins Spiel. Stunden zählen nicht mehr. Es ist eine Bauchentscheidung. Er wird nicht mehr aufpassen, was er kaputt schlägt und wen er beschimpft. Er wird kein Flehen mehr erhören. Er wird grausam sein, so wie er es vor langer Zeit gelernt hat.

 

Er sagt zu Fazar, er soll Panotis anrufen und ihm ausrichten, dass er ihn sehen will, er denke darüber nach, bei der Polizei aufzuhören, und wolle sich erkundigen, ob er ihm ein Angebot unterbreiten möchte. Fazar entgegnet, er würde sich gern mit Panotis in Verbindung setzen, wisse jedoch nicht, wie er ihn erreichen kann, woraufhin Sparak ein Bündel Geldscheine zückt und am Blick des Wirts von der Nische sofort erkennt, dass das Getue lediglich dazu gedient hat, den Eindruck zu erwecken, er sei ein anständiger Bürger. Fazar kündigt an, er werde mit Panotis in Kontakt treten. Das Bündel wechselt die Hände, Sparak muss sich nur noch ein wenig gedulden. Panotis kommt. Er hat so lange auf diesen Moment gewartet, in dem Sparak bei der Polizei seinen Hut nehmen und zugeben würde, dass er auch nicht besser ist als er, den Moment, in dem er etwas von ihm braucht. Er kann der Verlockung nicht widerstehen. Also kommt er. Sie verabreden sich im Park am Salzwerk, auf der anderen Seite des Gabu-Geländes, nur ein paar hundert Meter von der Nische entfernt. Um diese Uhrzeit hängen dort bloß arme Schlucker und junge Drogenabhängige herum, die ihre Räusche ausschlafen oder es zu Hause nicht aushalten und ihrer Dosis TQX entgegenfiebern.

 

Da ist Panotis. Sparak sieht ihn schon von Weitem und ruft ihm zu: »Du hattest recht, Panotis. Wir sind uns ähnlich, wir zwei.« Und Panotis denkt, dass der andere sich ergibt. Er lächelt, freut sich über seinen Sieg, wird nicht misstrauisch. Er tritt näher, bemerkt nicht den funkelnden Hass in den Augen seines Gegenspielers, der die Faust ballt und es kaum erwarten kann loszulegen. »Ich habe dir doch gesagt, Zem, dass wir irgendwann gemeinsame Sache machen …«, will er hervorbringen, doch er kommt nicht mehr dazu, denn Sparak trifft ihn mit voller Wucht und zertrümmert ihm das Nasenbein. Der Schlag ist so heftig, dass Panotis hintenüber auf den Boden fällt. Von den Jungs, die auf den nahen Bänken lümmeln, reagiert keiner. Sparak fällt über Panotis her. Er lässt ihn nicht mehr los, prügelt auf ihn ein. Drückt ihm das Knie auf den Brustkorb. Packt ihn am Kragen und schüttelt ihn.

»Mit wem … mit wem hast du wegen des geklauten Implantats Probleme gekriegt?«

Er denkt sich, er muss sich beherrschen, sonst bringt er ihn noch um, bevor er etwas sagen kann. »Mit wem?« Seine Faust ist blutig. Immer wieder geht sie auf Panotis nieder, der, als er sein Ende kommen sieht, schließlich ausstößt:

»Skyros …«

»Wer ist Skyros?«

»Ein Grieche …«

»Wie hast du ihn kennengelernt?«

»Lange her. Er ist mittlerweile ein mächtiger Mann.«

Sparak lässt von ihm ab. Er hat das Gefühl, dass Panotis den richtigen Namen genannt hat. »Was hat er als Wiedergutmachung von dir verlangt?«, schreit er ihn an. Panotis dreht den Kopf zur Seite, spuckt das Blut aus, das er im Mund hat. Er vernimmt das Klicken einer Pistole, Sparak hat soeben die Waffe entsichert und richtet sie nun auf Panotis’ Kopf.

»Er wollte, dass ich die Frau fertigmache, mit der du zusammengearbeitet hast. Sie hat zu viel gewusst … Zem, ich hatte überhaupt keine Wahl. Wenn ich Nein gesagt hätte, hätten sie mich umgelegt. Ich wollte irgendwie aus der Sache rauskommen, sonst nichts … Du musst mir glauben.«

Sparak steht das Gesicht der völlig zerstörten Salia noch klar vor Augen. Er beugt sich zu Panotis’ Ohr herab:

»Du hast recht gehabt, Panotis. Wir sind uns wirklich ähnlich. Glaubst du, ich höre jetzt auf, dich zu verdreschen? Findest du, es hat schon genug wehgetan? Da täuschst du dich aber. Ich habe hier alle Zeit der Welt. Es wird so wehtun, wie du es dir gar nicht vorstellen kannst, Alter. Es gibt jetzt nur noch dich, mich und meinen Hass. Hat es dir Spaß gemacht, die Kleine zu foltern? Natürlich hat es das. Und weißt du, woher ich das weiß? Weil ich merke, dass es mir auch Spaß macht.«

Doch in dem Augenblick, in dem er erneut zum Hieb ausholen will, fährt ihm so etwas wie die Erinnerung an sein eigenes Menschsein durch den Sinn, oder vielleicht ekelt es ihn auch vor dem sich krümmenden Fleisch, jedenfalls senkt er seinen Arm, steht auf und lässt Panotis im Dreck liegen.

 

Er hat es geschafft hineinzukommen, obwohl es schon spät ist, sie haben bestimmt Angst vor ihm. Er durchquert entschlossenen Schrittes die Eingangshalle. Wahrscheinlich ist die Security bereits benachrichtigt worden, die bald eintreffen und ihn mit aufgesetzter Höflichkeit auffordern wird, das Gebäude zu verlassen. Er weiß, dass es so enden wird. »Sir, die Besuchszeit ist vorbei.« Er weiß, welche Worte in so einer Situation fallen und in welchem Ton. Welche Bewegungen die Wachleute ausführen, die Hand geht zum Elektroschocker am Gurt. »Junger Mann, ich werde es Ihnen nicht noch einmal sagen, Sie haben hier nichts zu suchen.« Wie auch immer, ihm bleibt noch ein wenig Zeit, er will die Gelegenheit nutzen, es herrscht Stille im Zimmer, er tritt ans Bett, schließt die Patientin sanft in seine Arme, »Salia?«, spricht er sie an, mehrmals, als lautete so die magische Formel, die die Kraft hat, Türen zu öffnen oder unsichtbare Welten heraufzubeschwören, und Salia dreht ihm langsam den Kopf zu. Schaut sie ihn wirklich an? Oder geht ihr Blick nur in seine Richtung und durch ihn hindurch, er vermag es nicht zu sagen. »Salia?«, wiederholt er noch einmal und lächelt dazu, es tut gut, ihren Namen zu sagen. Sie zeigt keine Regung. Sie sitzt mit den Händen auf den Knien auf der Bettkante. Sie hat abgenommen. Sie bewegt die Lippen. Sie redet die ganze Zeit leise vor sich hin, um all den Dreck auszuscheiden, den sie in ihrem Geist und ihrem Körper hat. Die Ruhe, die ihr Gesicht ausstrahlt, steht im krassen Gegensatz zu ihren abgründigen Ergüssen. »Nutte … Fotze … sind zu dritt … die Nase in der Scheiße … Schläge, Tritte … Aufgeschlitzt … Pissen, Spritzen … alles Anzünden …« Ihm ist klar, dass ihre Heilung ein Prozess ist, der Monate oder Jahre dauern kann, aber er hat ihr etwas mitzuteilen, nämlich dass Panotis der Übeltäter war, der ihr das Ganze angetan hat, und dass er ihn aufgespürt und zu Hackfleisch gemacht hat, und er sagt es ihr, während sie kaum hörbar ihren schrecklichen Monolog hält. Er fügt hinzu: »Er hat mir einen Namen genannt …«, und sie fährt fort: »Wichse, nacktes, schwabbeliges Fleisch, Gleichschritt … Vergewaltigung … ein Straßenrand, Spucke …« Aber er lässt nicht locker, er glaubt fest daran, dass es sich lohnt, ihr diesen Namen wie auf dem Silbertablett zu servieren und zu präsentieren, deswegen ist er ja da: »Panotis hat erzählt, dass der Typ, der Pamuk und Cuprack umgebracht hat, Skyros heißt …«, und plötzlich ist ihm, als würden ihre Pupillen sich erweitern, als würde die Vergangenheit an die Oberfläche gespült werden. Der Eindruck hält nur ein paar Sekunden an, aber er hat auf einmal das Gefühl, dass ihr Hirn arbeitet, sie gegen den Müllberg in ihrem Kopf ankämpft, bei ihm sein und mit ihm sprechen will, und so neigt er sein Ohr an ihre Lippen und taucht in den langen, schmutzigen Strom mit ein: »Leichen über Leichen … die Beine in der Luft … aufgeblähte Bäuche … Fressen … Solobek, Skyros, eine Säge … Gerippe … kaltes Fleisch … Solobek, Skyros … Schreie … bei lebendigem Leib zerstückelt … Solobek, Skyros … alles voller Blut …« Er steht auf, mit Tränen in den Augen. Es ist, als hätte er soeben eine Nachricht von einem anderen Stern empfangen. Er küsst ihre Hände. »Danke, Salia.« Er sieht sie noch einmal an, ihr Gesicht ist nach wie vor völlig teilnahmslos, und aus ihrem Mund entweicht weiter dieser endlose Dreckschwall. In dem Moment erscheint der Typ vom Sicherheitsdienst. »Sir? Ich muss Sie bitten zu gehen.« An dem Punkt beginnt normalerweise der Streit, fährt er den Wachmann an, er soll ihn in Ruhe lassen, beißt er zu, wenn der Kerl mit seinem Elektroschocker nahe genug ist, doch das tut er diesmal nicht, er hat nicht das Recht dazu, Salia schaut ihn an, sie hat ihm gegeben, was er wollte, er hebt daher beschwörend die Hände und verkündet, dass er jetzt das Feld räumt, alles erledigt und in Ordnung ist und er keinen Ärger will, und er verkündet das so laut und selbstbewusst, dass es den Typen etwas ratlos macht und er ihn einfach gehen lässt.