Es war kurz nach dem Verrat gewesen. Seine Kameraden waren allesamt verhaftet worden. Er arbeitete für die Polizei, aber die hatte wenig Verwendung für ihn. Es gab einen Mann, der im Auftrag von GoldTex die Umsiedlung der Bevölkerung koordinierte. Sparak sollte ihm die Arbeit erleichtern. Ihn durch Athen lotsen und ihm die nötigen Kontakte vermitteln. Keine Aufgabe, die recht viel Zeit beanspruchte. Der Mann verbrachte manchmal ganze Nachmittage in Sitzungen. Sparak ging spazieren, bummelte ein bisschen durch die Stadt, die bald verschwinden würde. Er wollte Lena finden. Er versuchte es bei ihr zu Hause. Bei Freundinnen. Er spürte ihre alte Tante auf. Aber vergebens. Niemand wusste, wo sie steckte. Sie war weg. Als die Tante in sein trauriges Gesicht schaute, sagte sie, vielleicht sei Lena bei ihren Eltern, in dem kleinen Dorf in der Nähe von Kalamata. Er versuchte, sie dort zu erreichen, aber die Eltern waren offenbar verzogen. Er suchte weiter. Niemand konnte ihm Auskunft geben. Und plötzlich änderte sich sein Leben. Eines Tages wurde klar, dass er in absehbarer Zeit das Land verlassen würde. Der Mann, der ihn beschäftigte, erteilte ihm eine Auswanderungserlaubnis. Dieses Papier war beinahe unbezahlbar. Ein schönes Geschenk dieses Mannes – zum Dank für Sparaks Hilfe. Es folgten merkwürdige Tage, in denen ihm bewusst war, dass er seine Stadt zum letzten Mal sah. Jedes Geschäft. Jede Kreuzung. Einen Straßennamen, die Farbe der Häuser. Er wollte sich alles einprägen. Die Händler in seinem Viertel. Fardi, den ägyptischen Schneider, der vor Kurzem Vater einer kleinen Tochter geworden war, die zwei Arkomatis-Schwestern, die den Tabakladen auf dem Anargiron-Platz betrieben. Jeder Streifzug wurde zu einem langen, stillen Abschiedsgruß. Er schwor sich, so schnell wie möglich wiederzukommen, aber er ahnte, dass er sich etwas vormachte.
Und dann saß er eines Morgens bei milder, kühler Luft vor dem Kiosk am Archäologischen Museum. Er war früh aufgestanden und trank auf der Terrasse von Yagournis einen Kaffee. Es war nur ein weiterer Gast da. Ein kleiner, untersetzter Mann mit Bart und weißem Haar, der eine alte fischerblaue Hose aus dickem Leinen trug. Zem hörte, wie er sich vom Wirt verabschiedete, und als er an Sparak vorüberkam, erkundigte sich Zem, ob er Griechenland den Rücken kehren würde.
»Nein«, antwortete der Mann. »Ich fahre nach Delphi.«
Das Territorium war bereits aufgeteilt. Es war bekannt, dass die Region um Delphi, Zentralgriechenland und Thessalien an ein Subunternehmen weiterverkauft worden waren. Es würde dort bald nichts mehr geben. Kein Leben mehr. Die Bevölkerung war angehalten, das Gebiet zu verlassen. Delphi? Der Alte blieb stehen, da Zem sich verwundert zeigte. Und in der stillen Morgenröte erzählte er mit sanfter, altersloser Stimme:
»Meine Mutter stammte aus Delphi. Als ich klein war, fuhr ich jeden Sommer dorthin. Aber nur widerwillig. Das Meer war so weit weg. Irgendwann fiel meinem Großvater ein, dass ich seine Ziegen hüten könnte. Sie können sich das wahrscheinlich nicht vorstellen … aber wie ich stundenlang hinter meinen Tieren her durch die Tempelruinenlandschaft gezogen bin, die Viecher gerufen, stumm inmitten von ihnen gestanden und den vom Tal aufsteigenden Wind gespürt habe … Von da an konnte ich nicht mehr ohne das Ziegenhüten sein. Ich habe es gemacht, bis ich achtzehn war. Dann ist mein Großvater gestorben. Das Anwesen wurde verkauft. Die Ziegen bestimmt auch. Aber noch heute, nach all den Jahren, würde ich ohne zu zögern antworten, wenn mich jemand fragen würde, was mein Leben ausgemacht hat: Ich bin der Junge, der seiner Herde auf den heiligen Berg gefolgt ist. Die Atmosphäre dort ist gewaltig. Unsichtbare Mächte umschlingen einen. Meinen Sie, dass man so etwas kaufen kann? Oder gar zerstören? Meinen Sie, dass sich der Mittelpunkt der Welt, das Innerste der Mysterien auslöschen lässt? Wenn an Sommerabenden dort langsam die Sonne untergeht, spürt man den Hauch der Unsterblichkeit auf der Haut. Heute weiß ich, dass das die schönsten Momente meines Lebens waren. Und deswegen fahre ich hin. Was soll’s, wenn nun nichts mehr übrig ist. Jeder darf sterben, wo er will. Vielleicht ist ja noch jemand da, der mir Guten Tag sagen wird. Zumindest der Wind wird mich wohl wiedererkennen. Man darf Delphi nicht vergessen. Sie glauben, dass sie kaufen, verunstalten und vernichten können, was sie wollen. Aber einer von uns muss doch hinfahren. Wer sonst soll Delphi vor dem warnen, was mit der Welt los ist? Es ist mir eine Ehre, über die unveränderte Schönheit zu wachen, von vergangenen Zeiten durchdrungen zu sein. Nichts gehört uns. Im Grunde bin ich ein Hüter von Dingen, die uns nicht gehören.«
Und der alte Mann reichte ihm höflich die Hand, stieg in sein Auto und verschwand. Sparak erinnerte sich noch Jahre später an diese Begegnung und fragte sich: Wer wird sich einmal an Delphi erinnern? Wessen Blick wird segnen, was jeden Abend stirbt und jeden Morgen neu geboren wird?