38 Akte 5

Es gibt Formen der Anerkennung, die wie Feuer auf der Haut brennen. Er hätte sich denken können, dass Barsok kein sonderlich netter Kerl ist, sich nicht erkenntlich zeigen würde dafür, dass Sparak ihm einen Nagel aus dem Fleisch gezogen hat, oder zumindest hätte er ahnen können, dass sich Barsoks Dank merkwürdig oder schmerzhaft anfühlen würde. Dass ein Mann wie Barsok nicht gern großzügig ist.

 

Als Sparak nach Hause kommt, findet er auf dem Wohnzimmertisch einen Briefumschlag vor, den Barsok hinterlegt hat und auf dem geschrieben steht: »Ich bin Ihnen noch das Ende der Geschichte schuldig …« Da gibt es ihm schon einen Stich. Er öffnet das Kuvert und holt die Akte heraus. Eine dünne Mappe aus Karton, die ein aus zwei zusammengehefteten Blättern bestehendes Archivdokument enthält. Er spürt, dass er nach dem Lesen leiden wird und das Papier lieber nicht in die Hand nehmen sollte, aber er tut es trotzdem. Das Material zieht ihn förmlich an. Er überfliegt es erst schnell mit den Augen, grob den Gegenstand erfassend. Es handelt sich um ein Polizeidokument von GoldTex aus der Zeit der Besetzung Griechenlands. Er liest genauer. Lena Farakis. Ihr Name steht ganz oben. Er hält nach einer Überschrift, einer Betreffzeile Ausschau. Und stößt auf den Begriff: Inhaftierung. Die Buchstaben verschwimmen vor seinen Augen. Sein Kopf wird heiß. Er fürchtet sich instinktiv davor, auf das Datum zu blicken. Sie wurde bereits einige Tage vor ihm festgenommen. Kann nicht sein. Er guckt noch einmal. Doch da steht in der eigentümlichen Behördensprache: Inhaftiert. In Verwahrung genommen. Verhört. Auf freien Fuß gesetzt. Sie war schon im Gefängnis, als sie ihn gefasst haben. Er zittert. Ruft sich seine Peiniger ins Gedächtnis. »Kennst du Lena Farakis?« Das Lächeln dazu. Er erinnert sich an den Deal, den sie ihm vorgeschlagen haben: Sie würden Lena kein Haar krümmen, wenn er Namen nannte. Er hat gesungen, aber nur, um Lena zu beschützen. An dem Gedanken hat er sich festgehalten. Dass sie den Mühlen von GoldTex entkommen war, dieses Geschenk an sie war der Ausgleich für seine Fehler, seine Abscheulichkeit, seine Kapitulation. Doch das nun vor ihm liegende Dokument behauptet, dass alles anders war. Dass sie sie schon vorher gekriegt hatten. Die Vernehmungsbeamten haben sich hinterher bestimmt scheckig gelacht. Als sie die Szene nachstellten und ihn imitierten, wie er sich lächerlich gemacht hatte: »Versprechen Sie mir, dass Lena nicht zu Schaden kommen wird.« Sie haben sich sicher den Bauch gehalten und sind vielleicht sogar zu ihr in die Zelle hinübergegangen, um ihr die Geschichte zu erzählen und noch lauter zu lachen. Er hat für Lenas Freiheit Namen preisgegeben, aber das Ganze war ein Spiel mit gezinkten Karten. Bilder fluten seinen Kopf, er kann nichts mehr dagegen unternehmen: Lena im zerfetzten Kleid und mit geschwollenem Gesicht, Lena, die vor Angst schlottert und auf dem Stuhl, an den sie gefesselt ist, in die Hose macht. Er sieht den Blechtisch vor sich, auf dem sie sie nach dem Verhör womöglich zu mehreren vergewaltigt haben. Das war in den Hangars von Piräus damals so üblich. Und Lena hatte lieber sterben wollen als das zu erleben.

Er dreht das Blatt um und betrachtet die zweite Seite. Dieses Formular erkennt er auf den ersten Blick. Das gleiche wie in Skyros’ Akte. Und in seiner eigenen. Ein Papier, das von jedem angelegt wird, der bei GoldTex anfängt. Lena Farakis. Rekrutiert in Griechenland. Aufgenommen aufgrund erbrachter Leistungen als Aushilfskraft. Und gleich nach dem Namen steht eine Nummer: 50. Er legt die beiden Blätter auf das Tischchen und sitzt sprachlos auf seiner Couch. Nummer 50. Er hatte die ganze Zeit geglaubt, er sei der Erste gewesen, der den Verrat begangen hat. Seine Akte hatte bestätigt, dass er als Nummer 51 von Skyros angeheuert worden war. Und er hatte angenommen, dass die Zählung bei eins beginnt. Doch wie sich jetzt herausstellt, geht es bei null los. Es hat in der Reihe jemanden vor ihm gegeben, und zwar Lena. Die Frage liegt nahe: Hat sie ihn ans Messer geliefert? »Du wirst dir unzählige Fragen stellen …« Skyros hat recht gehabt, da sind die Fragen. Sie drängen sich auf. Er kann sie weder vom Tisch wischen noch verstummen lassen. Und sie vermehren sich unendlich. Hat sie ihn ans Messer geliefert? Heißt das, sie lebt? Ist sie vielleicht wie er nach Magnapolis gekommen und hat eine Stelle bei der Polizei in Zone 2 angetreten? Ist sie denselben Weg des Verrats gegangen, hat sie allem entsagt, woran sie einmal geglaubt haben? Weiß sie, dass er am Leben ist? Hat sie nach ihm gesucht? Er ahnt, dass diese Fragen ihn nun nicht mehr loslassen werden. In seinem Kopf hallt Skyros’ Stimme wider. »Weil du die Welt auslöschst, von der wir beide ein Teil sind, indem du mich erschießt …« Das hat gestimmt. Skyros hat sicherlich gewusst, ob Lena Farakis noch lebt und wenn ja, was aus ihr geworden ist. Ob sie jetzt eine arme Entwurzelte ist, die ihre Erinnerungen an Griechenland beschwört, oder ob sie bei GoldTex wild entschlossen Karriere gemacht hat und vielleicht sogar mit den ganz Mächtigen Umgang hat … Lena Farakis … In seinem Schädel pocht und pulsiert es. Sie war seine große Liebe. Er hat ihr Bild vor Augen, sie steht in ihrem schwarzen Trägerkleid auf dem Varvakios-Markt. Sie lacht wie eine Sonne und schreit mit ihrer rauen Stimme seinen Namen, einfach aus Freude, diesen Namen auszurufen. Er erinnert sich an ihre glücklichen Nachmittage der Liebe in Psyri, an denen sie bei offenem Fenster im Bett lagen, und fragt sich, ob das alles wirklich geschehen ist. Nummer 50. Er betrachtet ein letztes Mal die Akte, die Barsok ihm hat zukommen lassen, steht dann auf und verlässt die Wohnung. Er wird sie nicht suchen. Ihm fehlt die Kraft dazu. Es ist zu spät. Die Neuigkeit gibt ihm keinerlei Auftrieb, sie bringt das Fass vielmehr zum Überlaufen und beschleunigt seinen Untergang, ihm ist, als würde die Welt ihn in den Abgrund stoßen und ihm lächelnd hinterhersehen.