39 Gib, was dir auf der Seele liegt

»Sir, um diese Uhrzeit sind keine Besuche mehr möglich.«

»Ich bin kein Besuch.«

»Ich darf Sie nicht reinlassen.«

»Ich bin hier, um sie abzuholen. Ich habe sämtliche Unterlagen dabei. Vollmacht. Medizinische Vormundschaft. Sie können sich das gerne anschauen. Herr Kanaka, der gewählte Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, hat das unterzeichnet. Ich fahre hoch, nehme sie mit und komme wieder runter. Hat alles seine Ordnung. Ich unterschreibe so viele Entlassungspapiere, wie Sie wollen. Ich gehe nicht ohne sie. Machen Sie auf!«

Sein Blick hat etwas Beängstigendes an sich. Die Stationsschwester überlegt und gibt schließlich nach. Die Türen öffnen sich: die zur Eingangshalle, die Fahrstuhl- und dann die Zimmertür. Er verschafft sich Zutritt.

 

Sie ist wach. Sie sitzt auf der Bettkante, als würde sie schon sehr lange so ausharren. Sie lächelt ihn an – anscheinend erkennt sie ihn wieder. Er reicht ihr die Hand, und sie steht beherzt auf, als könnte sie es kaum noch erwarten, ihr Krankenzimmer zu verlassen. Er ist perplex.

 

Zu Hause angekommen, räumt er die Sachen zur Seite, die auf dem Boden liegen, und setzt sie auf die Couch. Salia sagt nichts. Sie starrt ihn eindringlich an. Als versuchte sie, seine Gesten zu interpretieren und so seine Absichten zu durchschauen. Er erkundigt sich, ob sie etwas trinken möchte. Sie nickt. Es geht ihr offensichtlich besser. Ihre Augen wirken wieder ein wenig lebhafter. Sie macht sich durch Gebärden verständlich. Nur ihr Sprachzentrum ist nach den Angriffen weiterhin gestört. Es wird noch einige Zeit dauern, bis sie sich erholt. Aber es geht bergauf. Haben die Ärzte gemeint. Ihre Lippen zucken. »Es brennt … es brennt … Blut, Pisse …«, murmelt sie leise vor sich hin. Es gelingt ihr immer besser, den Wortschwall, der sich aus ihrem Mund ergießt, zu kontrollieren. Bald werden es nur noch gelegentlich ein paar Brocken sein. »Dreck … spritzt … Schweine …« Sie wird wieder arbeiten können. Ihr Körper kämpft wild entschlossen dafür. Zem ist froh. Wenn er sie anschaut, hat er das Gefühl, dass zumindest etwas gerettet ist.

 

Er geht in die Küche und holt Getränke aus dem Kühlschrank. Als er wiederkommt, ist sie auf einmal weg. Sie ist auf dem Balkon. Die Tür steht offen. Milde Luft strömt ins Zimmer. Er tritt hinaus und gesellt sich zu ihr. Sie schreckt nicht zusammen, als er an ihrer Seite auftaucht. Sie beobachtet die Straße, das Kommen und Gehen der Leute. Links erkennt man ein Stückchen vom Square of Fire. Er sieht sie an. Sie bewegt wie immer die Lippen, aber sie wirkt irgendwie entspannter. Sie dreht ihm den Kopf zu und sagt konzentriert: »Gib … gib … alles … was … dir … auf der Seele … liegt.« Die Rue des Myrtes unter ihnen ist in ein schönes Dämmerungslicht getaucht, das die Konturen weichzeichnet. »Gib …« Er schaut sie an, und ihr Blick saugt ihn auf. Er wird von einem anderen Menschen wahrgenommen. Zum ersten Mal, seitdem er Griechenland verlassen hat, sieht ihn jemand. Das verändert alles. Er braucht nicht mehr die Toten, Schatten und Vergessenen zu zählen, braucht nicht mehr Zeuge einer versunkenen Welt zu sein. Salia ist da und schaut ihn an. Plötzlich erscheint vieles möglich. Dass er seine Erschöpfung überwindet, die Vergangenheit abschüttelt, die auf ihm lastet und ihn von der Welt entfremdet. Zart und behutsam legt er seine Stirn an ihre. Er umarmt sie nicht. Küsst sie nicht. Sie versprechen einander nicht die große Liebe, doch sie sind sich gewiss, den Schmerz des anderen lindern zu können. Salias Lippen sind jetzt stumm, das heißt, dass kein Dreckfluss sie durchströmt und sie es für einen Moment geschafft hat, ihn zu stoppen. Er weiß, dass er jemanden gefunden hat, dem er alles anvertrauen kann, von Seele zu Seele, und er tut es. Er schüttet seine tausend Erinnerungen aus, und sie nimmt sie in sich auf. »Gib alles, was dir auf der Seele liegt.« Er kann so nicht mehr weitermachen. Zu lange war er Torwächter der Vergangenheit. Das muss aufhören. Er öffnet sein Inneres. Es geht auf sie über. Er gibt Griechenland und seine weiten Nachthimmel, die Stille des Meeres, das an ruhigen Stränden an Stuhlbeine schwappt. Er teilt den Rummel der Demonstrationen, die Wut, die ihn erfüllt und um ihn herum getobt hat, den Aufruhr, den er geliebt hat, als wäre es das Einzige, was die Welt am Laufen hält. Er gibt Lena und die Gefährten, die er verraten hat, und sie nimmt es in sich auf. In diesen Augenblicken, in denen das Getöse in ihr schweigt, absorbiert sie alles: Ankunft in den Slums von Magnapolis nach den Schweren Unruhen, unzählige kleine, mickrige Diebstahldelikte, blutüberströmte Leichen, Leute, die einen schmerzlichen Verlust beweinen, das Blut von Pamuk und Ira. All die Morde, die es immer geben wird, weil der Mensch von seiner Gier getrieben wird. All die Leben, die an ihm vorübergezogen sind und jetzt nichts mehr bedeuten. Er vertraut ihr seinen Verrat an, seine Schuldgefühle, seine heimlichen Qualen, die Stätten seiner Kindheit, den Hügel von Argos, den Wind am Kap Sounion, die Farben, die sie nie sehen wird, den klaren, von mächtigen Winden gefegten Himmel. Den furchtbaren Moment, in dem die Avenue VIII zusammengebrochen ist und in Sekundenschnelle das Dasein vieler Menschen ausgelöscht hat, von denen man nie mehr etwas erfahren wird. Er gibt all das und den gesamten Rest. Er will sich der Dinge entledigen, die ihn bedrücken. Und sie nimmt sie auf, weil der Müllstrom in ihr stockt und sie sich wieder um andere Belange kümmern kann. Von Seele zu Seele. Sie nimmt sie hin, schließt die Augen und lässt den neuen Mahlstrom aus Bildern, Geräuschen und Gefühlen in sich rauschen. Als er kurz darauf die Wohnung verlässt, die Treppe hinuntergeht, Richtung Square of Fire läuft und in der Menge verschwindet, ist er sich gewiss, dass sie da ist und ihn vom Balkon aus bis zum Schluss beobachten wird, und das tröstet ihn. Jetzt kann es enden.