3 Die Transitinsel

Der Hafen von Argostoli war komplett umgestaltet worden. Die Schiffe, die in Kefalonia anlegten, setzten die Passagiere vor riesigen Verwaltungsgebäuden ab, wo die Warteschlangen einer merkwürdigen verwaltungstechnischen Kartographie folgten. Ein Großteil der Stadt diente der Zuordnung der Neuankömmlinge. Die Fähren schütteten Tag für Tag die Menschen aus, die es geschafft hatten, Athen zu verlassen. Während der gesamten Fahrt versuchten die Leute, an Informationen zu gelangen. Doch die Besatzungsmitglieder beantworteten ihre Fragen nur selten. Meist machten sie geheimnisvolle Mienen, die unmöglich erraten ließen, ob sie etwas verschwiegen oder schlicht keine Ahnung hatten. Das Anlanden ging immer langsam und ängstlich vonstatten. Die Familien standen zusammen, die Mütter hielten ihre kleinen Kinder an den Händen und baten die größeren, ein Auge auf ihre Geschwister zu haben. Im ersten Hangar wurde nach Gesundheitszustand sortiert. Es wurde Fieber gemessen. Wer erhöhte Temperatur oder eine erkennbare Infektion hatte, erhielt die Aufforderung, sich in ein anderes Gebäude zu begeben. Von dort brachte man die Personen mit dem Bus in ein Haus bei der Lagune von Koutavos, das als Krankenhaus diente. Für alle anderen begann ein langer Registrierungsprozess. In den Hangars drei und vier, den beiden größten, wurden Auswahlgespräche durchgeführt. Die Leute wussten in der Regel nicht, was sie da erwartete. Zaghaft schoben sie sich vorwärts, unsicher, welche Sprache sie sprechen, welche Papiere sie vorlegen sollten. An Schaltern hinter dicken Glasscheiben saßen die Angestellten. Mikrofone verzerrten ihre Stimmen und vermittelten das Gefühl, es mit einer kalten, entfernten Gottheit zu tun zu haben. Man hatte ständig Zweifel, ob man richtig gehört hatte. Der Gesichtsausdruck der Beschäftigten verriet nichts. Ein Auswahlgespräch dauerte nur wenige Minuten. Ziel war es, die hochqualifizierten Arbeitskräfte auszulesen. Man hielt Ingenieure, Professoren, Ärzte und Führungskräfte an, umgehend einen auf zehn Jahre befristeten Vertrag mit Option auf Verlängerung zu unterzeichnen. Ihnen wurden neue Ausweise ausgehändigt, und sie genossen den Status von Bürgern im Festangestelltenverhältnis, kurz BiFs. Sie durften mit ihren Familien zum Flughafen fahren, von wo aus sie nach Magnapolis ausgeflogen wurden. Die Maschinen pendelten Tag und Nacht hin und her. Für alle anderen begann ein langwieriger Prozess. Geringqualifizierte Arbeitskräfte mit Festanstellung in Griechenland wurden ebenfalls rekrutiert, man legte ihnen jedoch nahe, sich in Zone 3 zu begeben. Was das genau bedeutete, erklärte ihnen niemand, sie erfuhren es erst, als Flugzeuge sie in einer riesigen Vorstadtsiedlung absetzten, in der verfallene Hütten sich mit eilig hochgezogenen Neubauten mischten. Griechenland lag in weiter Ferne. Sie ahnten gleich, dass sie das tiefblaue Meer nie wiedersehen würden. Für immer vorbei. Ihnen stand ein arbeitsreiches Leben bevor.

 

Die dritte Kategorie war die der Unqualifizierten: Arbeitslose und Rentner ohne Anschluss an einen Erwerbstätigenhaushalt. Sie blieben an Ort und Stelle. Man bot ihnen eine Arbeit bei GoldTex in Kefalonia oder auf einer anderen Transitinsel an. Aus ihnen wurden Handlanger oder Busfahrer. Sie halfen den ankommenden Passagieren, sich korrekt in die Schlange einzureihen und die nötigen Papiere bereitzuhalten. Manche von ihnen wurden abgewiesen: Häftlinge, Straftäter, Schwächlinge. Man brachte sie unauffällig in das rund um die Uhr von Polizisten bewachte Hochsicherheitsgebäude D, D für Deported. Dort teilte man ihnen mit, dass GoldTex ihre Anträge abgelehnt habe und es auf dieser Welt keinen Ort mehr für sie gäbe. Angesichts ihrer ungläubigen Gesichter erklärte man ihnen, sie seien eingeladen, an Bord der Fähre Redemption 3 in ein Land zu reisen, das mit GoldTex Zulieferverträge abgeschlossen hatte. Hin und wieder rebellierte einer, fing an zu schreien und wollte alles kurz und klein schlagen. Darauf wurde er augenblicklich festgenommen und für eine Nacht in eine der unterirdischen Zellen gesperrt.

 

Ein ganzes Volk schob sich schrittweise voran, beantwortete tausendmal dieselben Fragen, wiederholte seine Aussagen geduldig, wenn der Recruiter es verlangte, wartete auf einen Stempel und hoffte, dass es der richtige sein würde, träumte von späteren Zeiten und versuchte, nicht mehr an das Land zu denken, das bereits jetzt nur noch in der Erinnerung existierte. Ein ganzes Volk zauderte unbeholfen und eingeschüchtert und sehnte sich nach einem Platz im Leben, damit es weitergehen konnte. Es nahm im Namen der Kinder, denen es eine Zukunft bieten musste, das lange Auswahlverfahren hin, auch wenn das Warten, das Gehorchen, das Beantworten der Fragen, das Lächeln, das man sich abrang, um die ausdruckslosen Mienen der Angestellten zu erweichen, demütigend war, auch wenn die Stunden, in denen der mächtige Verwaltungsapparat allen seinen langsamen, peinlich genauen Rhythmus aufzwang, qualvoll waren, auch wenn man jegliches Vergnügen hinter sich ließ und sich bemühte, sich davon zu überzeugen, dass ein freudloses Dasein eigentlich gar nicht so schlimm war, Hauptsache der Komfort stimmte. Man machte weiter so gut es ging, und schob sich brav voran, jenen fernen Orten entgegen, die nichts von dem preisgaben, was einen dort erwartete.