In den frühen Morgenstunden, bevor die Dämmerung die Fassaden der Gebäude glitzern lässt, heben die Drohnen wie ein Hummelschwarm ab. Jede hat ihren Flugplan. Das Bild gleicht dem einer Wolke, die sich im düsteren, weiten Himmel auflöst. Sie bewegen sich lautlos, bis sie ihren Startpunkt erreichen, dann schalten sie sich automatisch ein, die Mikrofone werden aktiviert und die Bauchbildschirme ausgeklappt, auf die ihre Botschaften projiziert werden. Sie fliegen ganz nah an den Häuserfenstern vorbei. Mitunter holen sie die Leute in Grandelune, Spada und Petit-Chagrin, den schicken Vierteln von Zone 2, und in den acht Bezirken von Zone 3, an der hübschen Place des Sept-Fontaines, im Wohngebiet Outresaule und in den Elendsvierteln am großen Graben, am Big Fosse, aus dem Schlaf. »Wählt die Erneuerung! Wählt Barsok!« Die Kampagne für die Wahl eines neuen Mitglieds der Direktionskommission ist in vollem Gange. Metallische Stimmen verbreiten überall Slogans. »Kanaka ist unser Kandidat!« Die Abstimmung findet in einigen Wochen statt, und die Drohnen haben die Erlaubnis, bereits bei Tagesanbruch zu fliegen. In den Zonen 2 und 3 treten verstärkt Roboter auf, die die Werbetrommel rühren. Mobile Reklametafeln, Handzettel verteilende Automaten auf Inlineskates und aufdringlich leuchtende, an allen öffentlichen Orten aufgestellte Bildschirme erregen die Aufmerksamkeit der BiFs, der Bürger im Festangestelltenverhältnis. Wahlkampfplakate prangen an Mülltonnen, Kneipentresen und Haustüren … Die Stadt spricht mit tausend Mündern. Kanaka gegen Barsok. Diesem Ereignis kann sich niemand entziehen. Die Drohnen preisen die Verdienste der zwei Kandidaten an, die den ehrenwerten El Fatong ersetzen wollen, der vor zwei Monaten im Alter von achtundneunzig Jahren gestorben ist. Der konservative Kanaka, Vorsitzender des Gesundheitsausschusses, gegen den stürmischen Barsok, den Leiter der Sicherheitskommission mit Zone-3-Hintergrund. Beide haben Millionen in eine Armee von Drohnen und krabbelnden oder rollenden Robotern gepumpt, die sich überall verteilen und dafür sorgen, dass kein Straßenzug, kein BiF von der Sache verschont bleibt.
Sparak geht, und das tut ihm gut. Zum Aufstehen hat er heute ganz schön lange gebraucht. Er ist noch ziemlich benommen von dem Okios. Seine Bewegungen sind schwerfällig. Er weiß, dass die Droge auf Dauer das Bewusstsein trübt und man sparsam damit umgehen soll, aber die Schwarz-Weiß-Bilder sind derart schwindelerregend, dass er nicht auf sie verzichten mag. Er schüttelt sich. Es dauert eine Weile, bis das Karussell in seinem Kopf zum Stehen kommt. Längliche gelbe Wolken, die sich wie schmutzige Wollfäden spannen, ziehen über den Himmel. Der Wind treibt ein paar Bierdosen den Bürgersteig entlang. In der Hoffnung auf einen Kaffee, der ihn mit diesem Morgen versöhnt, läuft er gemächlich auf die Nische zu.
Auf der Polizeiwache Pinto in Zone 2 findet gerade das tägliche Briefing statt. Captain Monk blickt mit konzentrierter Miene in die Runde. Er wartet einen Augenblick, bevor er das Wort ergreift, vergewissert sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörerschaft. Nach und nach stellen die Herren ihre Unterhaltungen ein. Das letzte Lachen verstummt. Als es ganz still im Raum ist, fängt er an zu reden. Er sagt, es seien angespannte Zeiten, in denen man das Beste aus sich herausholen muss. Die Kommissionsdirektion habe eine PhadaK, eine Phase der außergewöhnlichen Kraftanstrengung ausgerufen, bis die Übernahme der Dominikanischen Republik abgeschlossen ist. »Es ist nicht die erste PhadaK, die wir durchmachen, Jungs. Wir wissen, sie wird hart werden, aber das Management wird sich hinterher erkenntlich zeigen. Die PhadaK verlangt von uns, ein paar Tage, vielleicht auch Wochen, unsere Arbeitsstunden nicht peinlich genau zu zählen, aber sie wird uns später reichlich dafür belohnen. Wir werden tun, was alle anderen auch tun … fleißig sein und durchhalten. Das heißt, niemand quatscht auf den Gängen, niemand geht vor zweiundzwanzig Uhr nach Hause, niemand beantragt einen bescheuerten Urlaub … Verstanden?« Er macht eine kurze Pause, schaut allen in die Augen, um sicherzugehen, dass die Botschaft angekommen ist, trinkt dann einen Schluck Wasser und fährt fort. Ist das eigentlich Absicht?, fragt sich Salia. Es sind mindestens sechs Frauen im Raum. Aber das ändert nichts. Bei diesen Versammlungen ist immer nur von den »Jungs« die Rede.
»Außerdem, Jungs, stehen ja die Kommissionswahlen an. Es wird euch nicht entgangen sein, dass der Wahlkampf auf Hochtouren läuft. Hört mir gut zu, das betrifft uns nicht direkt, aber … Ich bin ein alter Hase und möchte euch raten, euch in Zeiten wie diesen bedeckt zu halten. Ich will keine Eklats, keine Pannen, keine faulen Geschäfte, nichts, was irgendwelche Wellen schlägt und uns in die Schlagzeilen der Presse bringt. Schöne Ergebnisse, sonst nichts. Schöne, glatte Ergebnisse. Bis die Wahl vorbei ist.«
Ronnie, der im hinteren Teil des Raums sitzt, hebt die Hand und fragt, nachdem der Captain ihm das Wort erteilt hat: »Stimmt es, Chef, dass Barsok die Polizei von Zone 2 mit der von Zone 3 zusammenlegen will?«
Noch bevor Monk etwas erwidern kann, schaltet sich Ronnies Nachbar Cal spöttisch ein: »Ach, gibt es in Zone 3 etwa eine Polizei?« Alle fangen lauthals an zu lachen. Der Captain lacht nicht, er steht nur reglos da. Wie erstarrt. Als wieder Ruhe im Raum einkehrt, teilt er kalt und trocken mit:
»Genau solchen Blödsinn will ich in den kommenden Wochen nicht hören, Ronnie. Abends beim Bier kannst du mit deinen Kumpels reden, was du willst, aber hier nicht. Da wir uns jedoch in einer PhadaK befinden, wirst du gerade kein Bier trinken gehen, und deswegen ist es im Moment das Beste, du hältst die Klappe und machst deinen Job … Ist das klar? Ihr braucht keine Meinung zu den Kandidaten zu haben, ihr wisst nichts, ihr denkt nichts. Ihr erledigt schlicht euren Job. Allerdings ist Barsok ja Leiter der Sicherheitskommission und hat in dieser Funktion, das kann ich bestätigen, eine Reform auf den Weg gebracht, die einige Zuständigkeiten neu verteilt und uns zurzeit in Form von allerlei G.O.s begegnet.«
In den Reihen der Polizisten erhebt sich ein Gewirr von Proteststimmen.
»Ich weiß … Das gefällt euch nicht. Aber ihr werdet euch daran gewöhnen müssen. Das kann jeden treffen. Inspector Malberg ist bereits in der Lage, ein Liedchen davon zu singen. Gestern hatte sie einen G.O. bei einem Mordfall in Zone 3.«
Die Jungs werfen Salia gespielt bedauernde Blicke zu. In den hinteren Reihen äffen zwei von ihnen den neuen Kollegen nach, indem sie spöttisch anfangen zu bellen. Ein anderer beugt sich zu ihr hinüber und raunt ihr zu: »Tut mir leid, Malberg. Aber keine Sorge, du kriegst ein bisschen Trockenfutter von uns!«
Captain Monk lächelt über die Kindereien, klopft dann aber auf sein Pult, damit wieder Ruhe einkehrt. »Hoffen wir, dass das Ganze nur eine vorübergehende Marotte ist, wie so viele andere Marotten davor … Bis dahin bitte ich euch, findet euch damit ab und macht bei dem Spielchen mit. Ihr müsst die Hunde ja nicht mögen, ihr müsst ihnen auch nicht sämtliche Informationen, die ihr habt, weitergeben, sie sollen nur in den Berichten, die ihr abgebt, erscheinen, damit uns keiner vorwirft, wir würden die Reform behindern.«
Erneut regt sich Widerspruch bei den Jungs. Cal hebt theatralisch den Arm. »Das ist dann doch nicht mehr unsere eigentliche Arbeit!«, ruft er empört. Der Captain knüpft an die Bemerkung an und nimmt zugleich seinen Faden wieder auf:
»Sehr richtig, Cal. Das bringt mich zum letzten Punkt. Der BreakWalls-Affäre und der Fahndung nach Jon Mafram: Das ist der Fall, der für unsere Abteilung Priorität hat. Es muss alles getan werden, um die Arbeit der SoE zu unterstützen.« Die Jungs um Cal rühren sich nicht. Sie sitzen ganz still. Sie genießen den Augenblick. Alle Blicke sind auf sie gerichtet. Neidvolle Blicke. Salia möchte sich zu Wort melden und ihre Hilfe anbieten, aber sie lässt es sein. Die anderen würden sich nur über sie lustig machen. Schweigend hört sie mit an, wie der Chef wieder einmal erzählt, dass man den BreakWalls-Block auf keinen Fall auf die leichte Schulter nehmen darf, die Gruppe offenbar beschlossen hat, ihre Aktionen auszuweiten, und man in höchster Alarmbereitschaft sein müsse. Nachdem er dies losgeworden ist, schaut er noch ein letztes Mal in die Runde und verkündet mit lauter Stimme: »Meine Herren, an die Arbeit!«
Malberg kehrt zurück in ihr Büro, sobald sie den Besprechungsraum verlassen hat, und ruft den Gerichtsmediziner des Instituts Deep Pity wegen der Analyseergebnisse an.
»Edmundo? Hier ist Malberg.«
Es knistert in der Leitung, und die Stimme am anderen Ende klingt abgehackt. Sie versteht kaum etwas.
»Es geht um die Leiche, die gestern Abend aus dem Leichenschauhaus Saint-Espoir gebracht worden ist … Hast du sie identifiziert? Hörst du mich? Die Leiche aus Zone 3 … Kannst du mir den Namen buchstabieren? P …, A … Ja, und weiter? Ich verstehe nichts …«
Ständige Bewegungen ihres Videogesprächspartners und Straßenlärm erschweren die Unterhaltung.
»Wo zum Teufel steckst du denn, Edmundo?«
Der Gerichtsmediziner macht einen genervten Eindruck, wahrscheinlich hat er keine ruhige Minute und darf sich trotzdem anschnauzen lassen, weil die Dinge nicht schnell genug gehen. Er sagt, er hole sich gerade einen Kaffee, er habe bis zwei Uhr morgens geschuftet, und wenn sie seinen Job übernehmen will, er würde ihn ihr gerne abtreten.
»Pamuk? Ja? Malek Pamuk? Okay. Danke dir … Und der genaue Todeszeitpunkt?«
Seine Antwort ist nur undeutlich vernehmbar. Sie bekommt noch mit, dass er die Akte weitergeleitet hat, dann folgt ein Rauschen, schließlich bricht die Verbindung ab. Er hat wahrscheinlich aufgelegt, findet bestimmt, dass er ein Recht auf fünf Minuten Kaffeepause hat, bevor er sich wieder daran macht, Leichen zu sezieren, die die an ihnen begangenen Schandtaten bloß widerwillig preisgeben.
Sie gibt den Namen in ihren Computer ein. Pamuk, Malek. Und erhält ein verblüffendes Ergebnis. Geboren in Zone 3, aber als Gewinner der Großen Lotterie mit siebenundvierzig Jahren in Zone 2 übergesiedelt. Das Foto zeigt einen lächelnden Mann. In Zone 2 hat er im beschleunigten Verfahren eine Umschulung absolviert, da er sich beruflich verändern wollte, und wurde Koch in einem Restaurant im Quartier des Cèdres, am Saule-Ufer. Er hatte das Leben noch vor sich. Sie lässt sich die Worte auf der Zunge zergehen: »Gewinner der Großen Lotterie.« Das Glück ist launisch. Es hat dem Kerl aus Zone 3 herausgeholfen, um ihn schließlich doch dort sterben zu lassen. Wäre er noch am Leben, wenn er in seinem räudigen Viertel geblieben wäre?
In dem Moment klingelt das Telefon. Edmundos Pause ist zu Ende. Die Verbindung ist merklich besser. Er befindet sich in den Räumen des forensischen Instituts. Noch ehe sie irgendetwas sagen kann, hebt er zu einem längeren Monolog an:
»Ich weiß schon, was du willst, Salia. Und ich kann auch den genauen Todeszeitpunkt schätzen. Aber da ist noch eine andere Sache, die dich mehr interessieren wird, glaub mir … Ich versichere dir, dass der Typ nicht dort getötet wurde, wo man ihn gefunden hat. Wäre das der Fall, wäre die Leiche vom sauren Regen verätzt, das würde man sehen. Nein, der Mann ist post mortem da abgelegt worden. Sicher. Die Todesursache ist wohl ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf. Anschließend haben sie ihn aufgeschnitten. So weit … Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Ich muss jetzt wieder zurück zu meinen Kühlschränken.«
Schon hat er sie aus der Leitung geworfen. Sie bleibt mit dem Rätsel allein zurück und versucht vergeblich, das friedliche Gesicht des Opfers mit dem massakrierten Körper auf der Brache zusammenzubringen.