KAPITEL 11
August
I ch gehe durch das Labyrinth im Kinderkrankenhaus, nachdem ich soeben die letzte Injektion bekommen habe, die ich benötigte, um für die Transplantation die Anzahl meiner weißen Blutkörperchen zu erhöhen. Während der letzten fünf Tage ist das zu meiner Routine geworden. Ich komme an, flirte mit der Schwester und bekomme meine Spritze.
Danach gehe ich in das kleine Café im zweiten Stock, wo ich einen schwarzen Kaffee für mich und einen Latte für Leighton besorge. Dann fahre ich hinauf in den siebenten Stock zu Sam, der vor sechs Tagen eingewiesen wurde.
Sam liegt auf der Onkologie und es ist furchtbar bedrückend, die Flure zu durchschreiten. Wie automatisch werfe ich einen Blick in die offenen Zimmer und betrachte die kleinen Kinder, die von ihrer Behandlung einen kahlen Kopf und eingesunkene Augen haben. Es ist eine Qual, jeden Tag hierherzukommen und zu wissen, dass einige dieser Kinder nicht überleben werden.
Es ist eine Qual zu wissen, dass Sam eines dieser Kinder sein könnte.
Wie üblich halte ich vor seinem Zimmer an und nehme mir einige Augenblicke, um mich zu sammeln. Während ich das tue, lege ich wie vorgeschrieben Isolationskittel, Haube, Mundschutz und Überschuhe an, die jeder tragen muss, der hineingeht. Ich versuche, an fröhliche Sachen zu denken, und stelle mir ein Leben vor, in dem Sam keinen Krebs hat, wir zusammen Football spielen und angeln gehen können und ich mit ihm Disney World besuchen kann. Ich muss vollkommen klar im Kopf sein, bevor ich dieses Zimmer betrete, weil es kein hübscher Anblick ist. Sam hat wahrscheinlich keine Ahnung, wie schlecht er aussieht, deshalb will ich auch nicht, dass er es an meinem Gesicht ablesen kann.
Ich atme tief ein, nehme die Schultern zurück und setze ein Lächeln auf, obwohl ich einen Mundschutz trage. Ich habe einmal gehört, dass Menschen es an deiner Stimme hören können, ob du lächelst. Eine Schwester blickt mich aufmunternd an, als sie an mir vorbeigeht. Ich gehe in sein Zimmer und rüste mich, mein krankes Kind zu sehen.
Ich bin nie wirklich darauf vorbereitet, Sam dort liegen zu sehen, kreidebleich und mit elendem Gesichtsausdruck. Leighton sitzt an seinem Bett und der gelbe Papierkittel und die Haube mindern ihre Schönheit in keiner Weise. Ich bin mir nicht einmal sicher, wann sie zum letzten Mal geduscht hat, außerdem finden sich unter ihren Augen dunkle Ringe. Trotzdem sitzt sie geduldig und tapfer an Sams Bett und war diejenige, die Sam geholfen hat, das Schlimmste seiner Behandlung durchzustehen. Allein aus diesen Gründen hat sie nie hübscher ausgesehen.
Seit Sam vor sechs Tagen eingewiesen wurde, hat Leighton das Krankenhaus nicht mehr verlassen. Ich habe versucht, sie nach draußen zu locken, um etwas frische Luft zu schnappen. Habe versucht, sie eines Morgens mit zu mir nach Hause zu nehmen, damit sie duschen und ein wenig schlafen kann. Ich habe sogar versucht, mit ihr nach unten in die Cafeteria zu gehen, damit sie ihre Mahlzeit an einem Tisch sitzend zu sich nehmen kann. Sie hat alles abgelehnt.
Stattdessen isst sie mit Sam im Zimmer, schläft auf dem Liegesessel neben seinem Bett und duscht in seinem kleinen Badezimmer.
Ich habe ebenfalls sehr viel Zeit in diesem Zimmer verbracht, aber nicht annähernd so viel wie Leighton. Ich arbeite immer noch, aber Kynan hat mich großzügigerweise für die Schreibtischarbeit eingeteilt und mir gesagt, ich könne kommen und gehen, wie es mir beliebt. Er hat mir sogar angeboten, mir so viel Urlaub zu nehmen, wie ich will, doch aus zahlreichen Gründen habe ich das abgelehnt. Erstens will ich mir freinehmen, wenn Sam aus dem Krankenhaus entlassen wird. Zweitens denke ich, dass Sam und Leighton innerhalb der Krankenhausmauern relativ sicher sind. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass irgendein Mitglied der Mafia-Familie überhaupt von ihnen weiß, und ich habe lange mit dem Sicherheitsinspektor über unsere Situation gesprochen. Um Sam zusätzlichen Schutz zu bieten, haben sie ihn unter einem falschen Namen aufgenommen und es ist niemandem ohne Sicherheitsfreigabe gestattet, sein Zimmer zu betreten.
Die einzige Person, die merklich abwesend ist, ist Mike. Er hat mein Angebot, mit nach Las Vegas zu kommen, nicht angenommen. Einen Moment lang schien es, als hätten Leighton und ich ihn überzeugt. Er akzeptierte widerwillig, dass ich dazu in der Lage wäre, ihm adäquaten Schutz zu bieten. Doch mehr als alles andere wollte er für Sam da sein. Leider hat dieser Idiot den Fehler gemacht, mit seinem Betreuer zu sprechen. Er hatte das Gefühl, der Regierung die Höflichkeit zu schulden, sie wissen zu lassen, dass er nach Las Vegas reisen würde. Ich habe ihm gesagt, dass es eine schlechte Idee wäre, und ihm geraten, kein Wort darüber zu verlieren. Es bestand die Wahrscheinlichkeit, dass er für die Transplantation kommen und wieder zurückkehren könnte, ohne dass irgendjemand etwas davon mitbekommt. Mittlerweile braucht er sich nur noch übers Telefon bei seinem Betreuer zu melden und niemand würde je unangekündigt bei ihm vorbeikommen .
Am Schluss denke ich, dass Mike die Vielzahl der Informationen gestört haben, die ich ihm präsentiert habe, und er war sauer, dass er dahingehend nichts von seinem eigenen Betreuer erfahren hatte. Er wollte ihn konfrontieren und verlangen, dass er ihm die Wahrheit sagt. Viel wichtiger, er wollte wissen, ob das, was ich ihm erzählt habe, stimmt und er diesen Informationen vertrauen kann. Ich fand das amüsant … dass es ihm schwerfiel, mir zu vertrauen.
Selbstverständlich bestätigte der Betreuer meine Informationen, nachdem er sehr viel gepoltert hatte, dass Mike diese Einzelheiten auf keinen Fall wissen sollte. Laut Leighton fand ein sehr aufgeheiztes Gespräch statt, bei dem Mike sauer war, dass ihm die Informationen vorenthalten worden waren, und der Betreuer immer wieder betonte, dass er nur bei Bedarf Kenntnis zu erlangen hat und nichts erfahren müsste, es sei denn, er wäre in Gefahr.
Darauf basierend schien es, als hätte Mike keine Probleme, dem Programm den Rücken zu kehren, aber das war nicht der Fall. Sein Betreuer überredete ihn zum Bleiben, indem er ihn darauf hinwies, dass er durch das Programm eine neue Identität und einen neuen Wohnort erhält, sollte sich die Bedrohungsstufe verschärfen.
Letztendlich war es die Liebe zu seinem eigenen Leben, die Vorrang vor dem Wunsch hatte, während der Transplantation für Sam da zu sein .
Oh Mann, das machte mich vielleicht sauer. Ich verstehe nicht, wie sich irgendjemand dafür entscheiden kann. Auf gar keinen Fall würde mich irgendeine Bedrohung von meinem Kind fernhalten.
Es ist ebenfalls einer der Gründe, warum ich solch großen Respekt vor Leighton habe, obwohl ich immer noch wütend auf sie bin, dass sie mir Sam vorenthalten hat. Ihre eigene Sicherheit schien einfach keine Rolle zu spielen, als sie beschloss, mich ausfindig zu machen. Sam steht bei ihr an erster Stelle, genauso wie es sein sollte.
Sam bemerkt, wie ich das Zimmer betrete. Damit er sehen kann, dass ich lache, setze ich ein extrabreites, albernes Grinsen auf, bei dem sich meine Augen verengen und ich Fältchen an den Rändern bekomme. »Hey, kleiner Mann … du siehst echt gut aus.«
Er versucht ein halbherziges Lächeln, als ich Leighton den Latte reiche. Sie murmelt ein leises Danke , stellt ihn aber sofort auf den Nachttisch, ohne ihn überhaupt zu kosten. Ich werde nicht lügen … ich mache mir ein wenig Sorgen um sie, auch wenn ich das niemals zugeben würde.
Deshalb sage ich bloß: »Du solltest ihn trinken, solange er heiß ist.«
Sie nickt nur, bevor sie ihre Aufmerksamkeit Sam zuwendet. Sie berührt mit der Hand seine Stirn, eine Bewegung, die sie mehrere Male pro Stunde macht, um zu sehen, ob er Fieber hat. Eines der größten Risiken der Chemotherapie, die er seit seiner Einweisung jeden Tag erhalten hat, ist eine erhöhte Infektionsan­fälligkeit. Bis jetzt geht es ihm gut.
Er hat vielleicht keinen Infekt bekommen, das bedeutet jedoch nicht, dass es keine anderen Nebenwirkungen gegeben hat. Übelkeit, Erbrechen und eine Ausbreitung von Wunden in seinem Mund machen Sam das Leben schwer. Er hat krampfartigen Durchfall, bei dem er nur auf der Toilette sitzt – wenn er überhaupt das Glück hat, es zur Toilette zu schaffen – und schluchzt. Das bringt mich dazu, auch weinen zu wollen.
Leighton aber nicht. Sie hat stets dieses milde Lächeln des Mitgefühls für Sam, selbst wenn sie ihm zuflüstert, dass er stark sein soll. Ich kann mir nicht vorstellen, wie viel Kraft es sie kostet, solch ein tapferes Gesicht aufzusetzen, wo ich doch weiß, wie zerrissen sie innerlich ist.
Ich gehe um das Bett herum zu dem Stuhl, auf dem ich bei meinen Besuchen für gewöhnlich sitze. Nachdem ich Platz genommen habe, dreht Sam sich ein wenig zu mir und schiebt sich die Hand unter die Wange.
»Harter Tag?«, frage ich.
Er lächelt mich halbherzig an und zuckt mit den Schultern. »Nicht so schlimm.«
Genau wie seine Mutter. Er lässt sich nichts anmerken.
»Du kleiner Lügner«, schelte ich ihn grinsend, als ich die Hand ausstrecke, um sein Gesicht anzufassen. Nicht, um zu überprüfen, ob er Fieber hat, sondern um ihn sanft zu berühren. Ich musste mich noch nie um jemanden kümmern, der krank ist. Obwohl das hier neu für mich ist, weiß ich, dass in der Zuneigung eine heilende Kraft liegen kann. Ich bezeuge es kontinuierlich zwischen Leighton und Sam, und auch wenn ich ihn niemals so berühren werde wie seine Mutter – sie ist bei dem, was sie tut, einfach zu gut –, möchte ich dennoch präsent sein.
Sam versucht, für Leighton und mich stark zu sein. Ich bewundere ihn dafür, aber ich möchte ihm auch sagen, dass es okay ist, wenn er weinen will. Das tue ich aber nicht, weil ich mir nicht sicher bin, ob es der Art und Weise widerspricht, wie Leighton ihm sagt, er solle mit der Sache umgehen. Auch wenn ich ein Mann sein will, der seinem Sohn kluge Ratschläge mit auf den Weg gibt, möchte ich kein Elternteil sein, der der Kindesmutter widerspricht. Zumindest das bin ich Leighton schuldig, denn sie hat tolle Arbeit geleistet, ihn großzuziehen. Ich mache mir eine mentale Notiz, sie später zu fragen, wie ich ihm am besten Trost und Bestätigung vermitteln kann.
»Heute ist der große Tag«, sage ich. »Der letzte Tag der Chemo.«
»Morgen ist ein größerer Tag«, sagt er mit einem aufrichtigen Lächeln. »Transplan­tationstag.«
Ich halte ihm die Faust hin und er boxt mit seiner leicht dagegen. »Du wirst das super machen. Und dann holen wir dich aus diesem Laden raus und bringen dich nach Hause.«
Ich schaue über das Bett hinweg zu Leighton, die Sam mit glasigen Augen anstarrt. Sie sieht so erschöpft aus. Wenn ich sie etwas fester anpusten würde, würde sie vermutlich vornüberkippen.
Ich wende mich an Sam und versuche, hinterlistig zu sein. »Ich wünschte, wir könnten deine Mom dazu überreden, dieses Zimmer eine Weile zu verlassen –«
»Ich gehe nirgendwo hin«, sagt Leighton und ihre Worte sind stahlhart. Es zeigt, dass sie aufmerksamer ist, als ich dachte. Vielleicht ist sie gar nicht so erschöpft. Ich wette, wenn ich versuchen würde, sie hier rauszuzerren, würde sie sich ordentlich zur Wehr setzen.
Ich blicke wieder zu Sam und er zuckt mit den Schultern. Ich erwidere die Geste. Eine stille männliche Konversation, als wollten wir sagen: »Wir haben keine Ahnung, was wir mit dieser Frau machen sollen.«
Die nächsten zwei Stunden bleibe ich bei Sam. Wir sehen fern und er döst ein. Als er aufwacht, übergibt er sich. Ich gehe hinunter ins Café, um Leighton etwas zu essen zu besorgen, doch sie rührt es kaum an. Sam und ich machen gemeinsam ein Kreuzworträtsel für Kinder. Am Ende hat er unkontrollierbaren Durchfall, der das Bett beschmutzt. Leighton bringt ihn ins Badezimmer, um ihm in der Dusche zu helfen, während ich einer Krankenschwester zur Hand gehe, als sie das Bett neu bezieht, damit alles sauber ist, wenn er wiederkommt.
Sams Mittagessen wird gebracht … warme Brühe un d Eiscreme. Beherzt probiert er beides, aber die Speisen reizen die Wunden in seinem Mund. Ich verlasse das Zimmer, um die Schwester wegen seiner Unfähigkeit zu essen zu befragen. Es bereitet mir große Sorgen und ich kann Leighton vor Sam nicht danach fragen, weil ich ihn nicht beunruhigen will. Die Schwester erklärt mir geduldig, dass er über den Tropf genügend Nährstoffe und ausreichend Flüssigkeit bekommt, und selbst, wenn er einige Tage nichts essen würde, wäre es nichts, worüber ich mich sorgen müsste.
Als ich gehe, wendet Leighton den Blick ab. Sam hat tatsächlich ganz gute Laune, was den Abschied umso schwerer macht. Aber ich muss gehen, um im Büro noch einige Sachen abzuarbeiten, denn morgen ist in der Tat ein großer Tag … Transplantationstag.
Es ist der Tag, an dem meinem Sohn das Leben gerettet wird.