KAPITEL 24
Leighton
»D ie Raumaufteilung hier ist toll«, sagt die Maklerin, als sie uns die vierte Wohnung heute früh präsentiert. »Zwei Schlafzimmer mit einem Bad auf der einen Seite und ein großes Schlafzimmer mit einem eigenen Badezimmer auf der anderen. Und der Preis liegt nicht viel höher als die der Dreizimmerwohnung, die wir gerade besichtigt haben.«
Mein Vater und ich sehen uns an. Ich möchte drei Schlafzimmer haben, weil ich will, dass er bleibt, aber er ist der Meinung, ich bräuchte nur zwei Schlafzimmer, weil er immer noch dazu neigt, nach Denver zurückzukehren. Als er diese Wohnung nicht sofort ablehnt, fasse ich Mut.
»Wir könnten uns ebenfalls einige Häuser zur Miete ansehen«, fügt die Maklerin hinzu. »Alle haben drei Schlafzimmer, zwei Bäder und eine Garage.«
Ich schüttele den Kopf und lächele sie höflich an. »Für den Moment möchten wir es bei einer Wohnung belassen. Wir sind noch nicht bereit, uns um einen Garten zu kümmern.«
Das gilt ganz besonders dann, sollte mein Vater tatsächlich nach Denver zurückkehren. Auch wenn Sam langsam in ein Alter kommt, in dem er mit den Aufgaben im Garten helfen könnte, ist es trotzdem nichts, worum er sich jetzt schon kümmern kann. Ich würde lieber ein Jahr in einer Wohnung leben und dann – sofern ich einen Job finde, bei dem ich genug verdiene – könnten wir vielleicht darüber nachdenken, in ein Haus zu ziehen. Uns vielleicht sogar einen Hund anschaffen.
Während mein Vater und die Maklerin sich über die unterschiedlichen Nebenkosten von Drei- und Vierzimmerwohnungen unterhalten, begebe ich mich ins Schlafzimmer. In diesem Zimmer könnte mein Vater wohnen, wenn er bleibt, und ich würde mir das andere mit Sam teilen.
Wenn August bei dieser Entscheidung ein Mitspracherecht hätte, würden wir natürlich dauerhaft bei ihm wohnen.
Gestern Abend hatten wir deswegen ein ziemlich langes Gespräch.
Es endete nicht gut.
Ich habe ihn selbstverständlich erwartet. Ich wusste, dass er leise an meine Tür klopfen würde, um mich in sein Zimmer zu locken, nachdem Sam eingeschlafen war.
Sein Gesichtsausdruck war einfach unbezahlbar, als ich abgelehnt habe. Wir standen dabei an der Tür, die nur wenige Zentimeter geöffnet war, und führten eine aufgeheizte Diskussion im Flüsterton.
»Ich werde keinen Sex mit dir haben«, sagte ich so leise es mir möglich war, um trotzdem noch gehört zu werden. »Nicht wenn deine Eltern auf der anderen Seite vom Flur schlafen. Einfach nur … nein.«
Dann blickte er mich plötzlich schelmisch und hinterlistig an. »Slip im Mund. Erinnerst du dich? Keine Sorge.«
»Nein, August«, beharrte ich. An dem umgehenden Stirnrunzeln, mit dem er mich bedachte, erkannte ich, dass er mich ernst nahm.
»Ich muss mich mit dir trotzdem über etwas Wichtiges unterhalten«, sagte er. »Also, zieh dir einen Bademantel an und komm in mein Zimmer.«
Ich starrte ihn bloß mit argwöhnisch hochgezogener Augenbraue an.
Er knurrte. »Ich schwöre … nur zum Reden. Jetzt komm schon.«
Schließlich zog ich doch meinen Bademantel an und ging in sein Zimmer. Als ich eintrat, saß er auf der Bettkante und ich schloss die Tür hinter mir, damit wir uns in normaler Lautstärke unterhalten konnten.
Er betrachtete meinen Körper mit sehnsuchtsvoller Reue angesichts der Tatsache, dass ich ihm heute Abend widerstehen würde, hielt aber respektvoll Abstand zu mir. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und sagte: »Du hast keinen Grund, dir morgen Wohnungen anzusehen. Du und Sam könnt hierbleiben.«
Ich wurde sofort sauer. Wie ihm der Sarkasmus in meiner Stimme entgangen sein kann war mir ein Rätsel. Ich antwortete: »Ach so, können wir das? Das ist ja sehr großzügig.«
»Nicht wirklich«, sagte er mit einem Schulterzucken. »Ich meine … Platz gibt es mehr als genug und ich verdiene ausreichend Geld, um uns alle zu versorgen.«
»Ich brauche deine Unterstützung nicht«, antwortete ich. Ich glaube, es war das Tonlose in meiner Stimme, das ihn darüber nachdenken ließ, ob er diese Unterhaltung vielleicht falsch begonnen hatte.
August erhob sich und stellte sich vor mich hin. Er legte mir die Hände auf die Schultern und beugte sich zu mir herunter. »So habe ich das nicht gemeint. Ich weiß, dass du dazu mehr als selbst imstande bist. Das hast du bereits bewiesen. Aber ich denke bloß daran, was für Sam das Beste ist. Du weißt, dass er hierbleiben will. Ihm gefällt es, wenn wir alle zusammen sind.«
»Das weiß ich«, gab ich steif zu. Und ich fand es vollkommen daneben, dass er Sam als Argument vorbrachte.
Ungeachtet der Tatsache, dass ich ganz offensichtlich nicht erfreut war, in welche Richtung sich das Gespräch entwickelte, sprach er weiter. »Du bist die Mutter, die immer das Beste für Sam tut … und es ist am besten, wenn alle hierbleiben. «
Ich verschränkte lediglich die Arme vor der Brust und schob seine Hände weg. »Das stimmt«, sagte ich feierlich, »ich habe immer getan, was das Beste für Sam ist, und mein eigenes Glück oftmals hintangestellt. Aber ich denke, dass ich ausnahmsweise einmal an mich denken werde. Ich bin nicht der Meinung, dass es die beste Idee wäre hierzubleiben. Weil ich es aber auf gar keinen Fall zulassen werde, von Sam getrennt zu sein, werde ich mir eine eigene Wohnung suchen. Ich werde aus praktischen Gründen dafür sorgen, dass sie in der Nähe liegt. Sam wird bei mir leben, aber du kannst ihn besuchen, so oft du willst. Er kann bei dir übernachten, wann immer er das will. Das ist für uns alle das Beste.«
»Wie kannst du so etwas überhaupt sagen?«, antwortete August und in seiner Stimme waren Wut und Ungläubigkeit zu hören. »Du hast es mit dieser Situation doch gut getroffen.«
Ich kann immer noch nicht glauben, dass er das gesagt hat.
Einen Moment lang war ich sprachlos und schnappte nach Luft, doch dann sprudelten die Worte plötzlich aus mir heraus. »Gut getroffen?«, zischte ich.
Seine Augen wurden vor Erstaunen ganz groß.
»Gut getroffen?«, wiederholte ich. »Du denkst, weil ich in einem Haus wohne, das nicht meins ist, für dich koche und putze, mich um ein krebskrankes Kind kümmere und auf Abruf für dich zum Ficken bereitstehe, habe ich es gut getroffen ? «
August antwortete nicht, er sah mich nur argwöhnisch an.
»Gut … mich um Sam zu kümmern ist ein Vergnügen. Das Haus zu putzen und Essen zu kochen sind Aufgaben, die mir nichts ausmachen. Aber in einem Gästezimmer abgestellt zu werden, während du in mein Zimmer schleichen musst, um mich möglichst lautlos zu vögeln, damit unser Sohn nichts davon mitbekommt, finde ich widerlich. Nichts weiter als dein Spielzeug zu sein, wo zwischen uns einmal so viel mehr war, ist einfach eine Beleidigung, und ich bin damit fertig.«
»Leighton«, murmelte er mit mitfühlendem Blick.
»Lass es«, warnte ich ihn und hob die Hände, »diese Unterhaltung ist beendet. Ich weiß es zu schätzen, dass du uns hier wohnen lässt – das tue ich wirklich –, und ich werde diesen Gefallen weiterhin in Anspruch nehmen, bis es realistisch ist, dass wir in eine neue Wohnung umziehen können. Aber das Einzige, was wir von jetzt an noch miteinander teilen, sind die Pflichten beim Großziehen unseres Sohnes. Bitte mich um nichts anderes mehr.«
August streckte die Hände nach mir aus. Hätte er mich berührt, hätte ich die Endgültigkeit meiner Worte eventuell noch einmal überdacht.
Ich beschloss, den sicheren Weg zu gehen … und floh aus seinem Zimmer.
Er kam mir nicht hinterher.
Er sprach auch heute früh nicht mit mir, was mir ebenfalls recht war.
»Was denken Sie?«, fragt die Maklerin, nachdem sie im Schlafzimmer von hinten an mich herangetreten ist.
Ich erschrecke, schenke ihr jedoch ein vorsichtiges Lächeln. »Ich muss über die Möglichkeiten nachdenken, aber was Sie uns bislang gezeigt haben, ist ausreichend. Wir werden uns für die Drei- oder Vierzimmerwohnung entscheiden, doch mein Vater und ich müssen uns darüber unterhalten. Wenn er bleibt, werden wir drei Schlafzimmer haben wollen. Wenn nicht, genügen zwei.«
Sie nickt, sichtlich enttäuscht, dass ich nicht bereits eine Kaution hinterlege.
»Bis morgen werde ich Ihnen eine Antwort zukommen lassen«, verspreche ich. »Dann werde ich Ihnen auch die Kaution vorbeibringen können.«
Das muntert sie auf und sie strahlt.
Als mein Vater und ich zum Wagen gehen, fragt er: »Sollen wir zusammen zu Mittag essen?«
»Sicher«, antworte ich locker. Wir müssen eine schonungslos offene Unterhaltung führen. Ich brauche eine definitive Antwort von ihm, ob er bleibt oder geht, damit ich ebenfalls mit meinem Leben weitermachen kann.
»Wie wäre es mit dem Grande Casino?«, schlägt er vor. »Dort gibt es ein tolles Buffet.«
Ich verziehe die Mundwinkel nach oben und kichere. »Dort arbeitet doch deine geheimnisvolle Freundin, oder nicht? Werde ich mal einen Blick auf sie werfen können?«
»Ich dachte, ich könnte dich ihr vorstellen«, sagt er und ich blinzele überrascht. Er zuckt mit den Schultern. »Ich meine … wenn ich bleiben sollte, könntest du auch genauso gut wissen, dass ich sie mag.«
»Warum entscheidest du dich dann nicht endgültig zum Bleiben?«, frage ich und seufze frustriert auf. »Wenn sie so besonders ist, verstehe ich nicht, warum du nicht einmal darüber nachdenken willst –«
»Weil ich eine Gefahr darstelle«, fällt mein Vater mir ins Wort.
»August sieht das nicht so«, betone ich.
Mein Vater seufzt. »Ja … ich weiß, deshalb lass uns das alles noch mal beim Mittagessen besprechen. Da haben wir mehr Ruhe.«
Das ist ein Fortschritt und macht mich glücklich. »Okay, so machen wir es. Gehen wir essen und du stellst mich deiner Freundin vor.«
Das Grande Casino ist gar nicht so groß im Vergleich zu vielen der anderen Casinos, verströmt aber dennoch einen alten Vegas-Charme. Dads sogenannte »Freundin« ist in Wirklichkeit eine Blackjack-Dealerin. Sie hat gerade Dienst, als wir eintreffen. Als wir an ihrem Tisch vorbeigehen, nimmt er kurz Blickkontakt mit ihr auf.
Es reicht aus, damit mir auffällt, dass ihre Augen anfangen zu leuchten, als sie ihn sieht, und mein Dad auf eine Art lächelt, die ich an ihm noch niemals zuvor bemerkt habe. Meine Mutter starb, als ich zwei Jahre alt war. Ich habe keinerlei Erinnerungen an sie, aber als ich mir vorstellte, wie die beiden wohl zusammen gewesen waren – immer wenn mein Vater von ihr sprach, wusste ich, dass es zwischen ihnen die wahre Liebe war –, stellte ich mir vor, dass sie einander so angesehen hätten.
Eins ist sicher … diese Frau ist mein Ass im Ärmel, um Dad endlich dazu zu bringen hierzubleiben – wenn ich ihn nur davon überzeugen kann, dass die Gefahr mit ihm in unserer Nähe nicht größer ist.
Mein Vater schreibt ihr – Marylin – eine Nachricht, dass wir Mittag essen gehen, für den Fall, dass sie uns in ihrer nächsten Pause Gesellschaft leisten will. Er kennt ganz klar ihren Arbeitsplan, denn er sagt: »Sie wird vermutlich in fünfzehn Minuten hier sein.«
Ich hake mich mit dem Arm bei ihm ein und lehne mich an ihn, als wir durch das Casino in Richtung Buffet-Restaurant schreiten. Ich kann es mir nicht verkneifen und necke ihn ein wenig. »Dad«, sage ich affektiert und klinge wie eine schmollende, dramatische Jugendliche, »du hast mir ja gar nicht erzählt, wie hübsch sie ist. Und wie jung übrigens auch nicht. Wie alt kann sie sein … in ihren Vierzigern vielleicht? Schau dich mal an!«
Mein Vater schnaubt und schüttelt den Kopf. »Ach, hör doch auf. Und du wunderst dich, warum es so lange gedauert hat, bis ich sie dir vorstelle. «
»Du kennst sie jetzt wie lange … einen Monat?« Ich lache. »Das ist mehr als genug Zeit.«
Ich erwarte, dass mein Vater mir noch weitere Ausreden präsentiert, und bin bereit, ebenfalls auszuteilen. Doch stattdessen hält er abrupt an. Mir gefriert das Blut in den Adern, als ich den Blick auf seinem Gesicht sehe.
Schreckliche Angst.
Ich drehe den Kopf und sehe, dass er zu einem Roulettetisch sieht, an dem zwei dunkelhaarige Männer in teuer aussehenden Anzügen spielen. Beide haben Longdrinks neben sich auf dem Tisch stehen und halten dicke Zigarren in den Händen.
Mein Vater braucht nichts zu sagen. Ich kann an seinem Gesicht erkennen, dass diese Männer zu der Mafia-Familie gehören müssen, vor der wir uns während der letzten zehn Jahre versteckt haben.
Einer von ihnen sagt etwas und der andere lacht … genau in dem Moment, als er den Kopf hebt und mir direkt in die Augen sieht.
Weil er mich selbstverständlich nicht kennt, schweift er mit dem Blick ab, heftet ihn aber sofort auf meinen Vater.
Mir bleibt nur der Bruchteil einer Sekunde, um zu sehen, wie der Mann die Stirn runzelt – ein Blick, der sagt, es könnte sein, dass du jemanden kennst, dir aber nicht sicher bist –, bevor mein Vater mich auch schon in die entgegengesetzte Richtung gedreht hat und mich durch das Casino zerrt. Er biegt scharf nach rechts ab, wo eine Reihe einarmiger Banditen aufgebaut ist, dann versuchen wir, uns unter die Mittagsgäste zu mischen.
Weil ich keine Ahnung habe, ob die Männer meinen Vater erkannt haben oder uns verfolgen, blicke ich mich zwanghaft immer wieder nach hinten um, während wir fliehen.
Ich kann nichts sehen – nur Menschen, die umherschlendern –, kann aber das Gefühl nicht abschütteln, dass wir uns in Lebensgefahr befinden.
Es scheint ewig zu dauern, doch endlich gelingt es uns, das Casino zu verlassen. Wir gehen schnellen Schrittes die Straße entlang. Nach einem halben Block biegen wir erneut rechts ab und überqueren die Straße, um zur Tiefgarage zu gelangen. Dad hält mich mit eisernem Griff am Arm fest und zieht mich hinter sich her, obwohl ich kein Problem damit hätte, mich noch schneller zu bewegen, als wir es bereits tun. Ich spüre, wie die Panik schwer auf mir lastet, sehe aber nicht, dass die Männer uns hinterherkommen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass wir nicht aufgeflogen sind.
Es könnte sein, dass diese Männer weitere Männer im Casino oder auf der Straße haben.
Wir eilen durch die Tiefgarage. »Gib mir deinen Schlüssel«, befiehlt mein Vater.
Ich greife in meine Handtasche und drücke ihm ohne Widerworte den Schlüssel in die Hand. Als wir bei meinem Wagen ankommen, steigen wir schnell ein.
Mein Vater lässt den Motor an und legt den Rückwärtsgang ein. Ich schaue mich währenddessen um, kann aber nichts Alarmierendes erkennen. Mein Vater verliert keine Zeit. Er fährt aus der Parklücke heraus und nimmt die Kurven, so schnell es geht – ohne unvorsichtig zu sein –, um die Tiefgarage zu verlassen.
»Waren das –«
»Ja«, sagt mein Vater verbittert und da wird mir klar … wieder einmal wurde unsere gesamte Welt auf den Kopf gestellt.
Dad fährt auf die Straße hinaus. Zum Glück ist die erste Ampel grün und wir überqueren die Kreuzung, ohne anzuhalten. Während er immer wieder in den Rückspiegel blickt, murmelt mein Vater: »Ich glaube nicht, dass uns irgendjemand folgt.«
»Wir können nicht zu August nach Hause fahren«, sage ich. »Sam ist dort.«
»Ich weiß«, antwortet er emotionslos. Da wird mir schlagartig bewusst, dass wir ab sofort kein Zuhause mehr haben. »Ruf August an. Sag ihm, er soll uns einen Ort finden, an dem wir sicher sind.«