KAPITEL 25
August
»W o sind sie?«, frage ich, als ich durch die Eingangstür von Jameson Force Security stürme.
Rachel empfängt mich, sehr wohl wissend, dass ich mich in einem Modus befinde, in dem ich gewaltsam eingreifen und erst später Fragen stellen will.
Rachel Wright ist die Leiterin des Jameson-Büros in Las Vegas, eine Position, die sie bekam, als unser Eigentümer Kynan McGrath die offizielle Zentrale nach Pittsburgh verlegte. Sobald ich das Gespräch mit Leighton beendet hatte, habe ich sie über alles in Kenntnis gesetzt.
Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob mein Puls nach ihrem Anruf wieder normal geworden ist. Verdammt, schon bei den ersten Worten, die sie sagte, reagierte mein Körper, weil ich nicht nur die Angst in ihrer Stimme hören konnte, sondern auch die Erschöpfung, weil ihr Leben wieder einmal in eine andere Richtung gezwungen wurde.
»August … sie sind hier und sie haben uns gesehen.«
Ich wusste ganz genau, was sie damit meinte. Ich benötigte keine Erklärung. Ich fragte nicht nach, ob sie sich vielleicht geirrt hat. Ich atmete tief ein und zwang mich dazu, meine Stimme fest und beruhigend klingen zu lassen.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Wir gingen gerade durch das Grande Casino, als mein Vater sie gesehen hat. Es waren zwei Männer, die er erkannt hat. Sie spielten Roulette.«
»Haben sie euch gesehen?«
»Ja«, seufzte sie.
»Schienen sie überrascht zu sein?«, bohrte ich nach.
»Ja«, rief sie aus. »Eigentlich schon, ja … ich erinnere mich, dass einer von ihnen einen überraschten Eindruck machte, aber dann hat Dad mich auch schon weggezogen und wir sind geflüchtet.«
»Das ist gut«, versicherte ich ihr. »Es bedeutet, dass es einfach nur Pech war … ein Zufall. Wo seid ihr jetzt?«
»Äh … wir sind gerade am Golden Nugget vorbeigefahren. Wir wollten nicht in die Nähe deines Hauses kommen, deshalb fahren wir bloß durch die Gegend.«
»Folgt euch irgendjemand?«
»Ich glaube nicht«, antwortete sie mit zitternder Stimme, bevor sie ihren Vater fragte: »Siehst du irgendwas?«
An dieser Stelle ging ich davon aus, dass Mike den Wagen fuhr, und war dankbar dafür. Das Beben in Leightons Stimme klang so, als könnte sie jeden Moment durchdrehen.
»Ich will, dass ihr sofort zu mir ins Büro kommt«, wies ich sie an. »Ich schicke dir jetzt eine SMS mit der Adresse. Ihr befindet euch ganz in der Nähe. Einige meiner Teamkameraden werden draußen auf euch warten. Macht euch keine Gedanken darüber, wo ihr parken sollt. Haltet einfach an der Straße an, steigt aus dem Wagen und geht ins Gebäude. Um den Rest werden sie sich kümmern.«
»Oh Gott«, stöhnte sie und ich wusste, dass sie sich vorstellte, wie dieses Szenario wohl aussehen würde. Sollte ihnen jemand folgen, würden sie dann durch einen Kugelhagel ins Gebäude laufen müssen, während die Mafiamitglieder vorbeirasen?
Ich hoffte inständig, dass das nicht passieren würde, doch wenn, wären wir bereit.
»Ich mache mich jetzt auf den Weg«, sagte ich zu ihr. »Wir treffen uns bei Jameson.«
»Nein!«, kreischte sie. »Lass Sam nicht allein. Du musst ihn da rausholen. Jetzt sofort. Nimm ihn mit und beeil dich.«
»Leighton«, murmelte ich und senkte meine Stimme zu einem zärtlichen Brummen in dem Versuch, sie zu beruhigen, »du sagtest, sie folgen euch nicht, richtig? Sie waren überrascht, euch zu sehen. Es klingt nicht so, als würden sie eure Identität kennen. Ich bin der Meinung, dass Sam in meinem Haus vermutlich am sichersten ist, aber ich werde einige unserer Männer kommen lassen, damit sie bei ihm bleiben, okay? Nur bis wir herausfinden, was Sache ist, und einen Schlachtplan entworfen haben.«
Sie war nicht überzeugt. Ich konnte es an ihrer Stimme hören – sie hatte keinerlei Vertrauen in das, was ich zu ihr sagte. In jenem Moment wurde sie von der Angst und dem Bedürfnis wegzulaufen überwältigt, aber das würde ich erst zulassen, wenn ich mir sicher wäre, dass es ein Monster gibt, vor dem wir davonlaufen müssten.
Rachel kommt näher und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich möchte an ihr vorbeistürmen, Leighton finden und … was?
Mann … ich will sie einfach nur umarmen. Ihr versprechen, dass ich sie beschützen werde. Dass ihr, Sam oder Mike unter meiner Aufsicht niemals etwas zustoßen wird. Mein derzeitiges Bedürfnis besteht nicht darin, eine Lösung für dieses Dilemma zu finden – ich will sie einfach nur in die Arme schließen.
Ich zwinge mich dazu, mich zu beruhigen, halte an und blicke Rachel an.
»Ich habe Kynan angerufen. Er kennt jemanden beim Justizministerium, der diese Informationen überprüft. Ich hoffe, wir werden schon bald eine Antwort bekommen. Bis jetzt hat es den Anschein, als wäre ihnen niemand hierher gefolgt, es besteht jedoch immer noch die Möglichkeit, dass diese Männer Leightons Wagen erkannt haben.«
»Er ist auf ihre Adresse in Denver registriert«, sage ich nachdenklich. »Aber es wäre ein Leichtes, sich diese Adresse aufzurufen und so Mikes neuen Namen herauszufinden.«
Sie nickt ernst. »Sollte das der Fall sein, könnte ihre Deckung gefährdet sein.«
»Und das würde Sam einschließen«, sage ich und bringe diesen Gedankengang zu Ende.
»Nun ja, sicher werden wir es erst wissen, wenn das Justizministerium die Anrufe abgehört und mit einigen Informanten gesprochen hat. Das könnte einige Tage dauern.«
Ich zucke mit den Schultern und denke darüber nach, was im besten und im schlimmsten Fall passieren könnte. Schlimmstenfalls gelingt es ihnen, Mikes echte Identität herauszufinden und seine Einkäufe mit der Kreditkarte zu verfolgen. Das könnte sie potenziell in die Nähe meines Hauses bringen, sollte er etwas in meiner Gegend gekauft haben. Trotzdem gibt es nichts, was ihn direkt zu mir nach Hause führen könnte. Nichts, was sie in solch kurzer Zeit ausfindig machen könnten und mich in Verbindung mit dieser Familie bringt.
»Scheiße«, murmele ich und reibe mir verärgert das Kinn. Es war schlimm genug, dass Leighton und ich mit unserer Beziehung scheinbar an einem Scheideweg stehen, und jetzt kann es sein, dass wir dazu gezwungen werden, in verschiedene Richtungen zu gehen.
»Wo sind sie?«, frage ich noch einmal.
Sie deutet über ihre Schulter nach hinten. »Konferenzraum drei.«
Leighton sitzt neben ihrem Vater. Beide haben die Köpfe aneinandergelehnt und halten sich an den Händen. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie jetzt wohl empfinden, aber wenn es in irgendeiner Form das ist, was sie vor zehn Jahren empfunden haben, als sie zum ersten Mal fliehen mussten, dann würde ich wetten, dass sie bereits Pläne schmieden.
Trotz meines Verlangens, dem ein sofortiges Ende zu setzen – jeglichen Gedanken an ein Szenario, das mir Leighton und Sam wegnehmen könnte, zu verdrängen –, ergebe ich mich einem tiefen, emotionalen Bedürfnis.
Ich gehe um den Konferenztisch herum und Leighton beobachtet mich, während ich auf sie zugehe. Ich lege ihr die Hand auf den Arm und ziehe sie von ihrem Stuhl, wodurch der Körperkontakt zu ihrem Vater unterbrochen wird.
Dann ziehe ich sie an mich, drücke sie an meine Brust und schlinge die Arme um sie. Sie verspannt sich, reagiert einen Moment lang gar nicht, aber dann … ja, genau dort … schmilzt sie dahin und kuschelt sich an mich.
Jedoch nicht für lange. Sie ergibt sich mir nur kurz, bevor sie sich von mir löst. Ein kurzer Blick zu Mike sagt mir, dass ich ihn mit meiner spontanen Bekundung der Zuneigung für seine Tochter schockiert habe.
Leighton lässt sich auf ihren Stuhl fallen und fängt sofort an, sich mit den Zähnen auf die Unterlippe zu beißen. »Ist mit Sam alles okay?«, fragt sie.
Ich nicke. »Zwei bewaffnete Männer stehen vor dem Haus Wache. Er hat keine Ahnung, was vor sich geht.«
Leighton seufzt erleichtert auf, doch dann stellt sie die schwierige Frage: »Was sollen wir jetzt machen?«
Ich nutze die Gelegenheit, um die Situation ins rechte Licht zu rücken, und schaue zwischen Leighton und Mike hin und her. »Wir können noch nicht sagen, ob es überhaupt einen Anlass zur Beunruhigung gibt.«
»Sie sind hier«, knurrt Mike und richtet sich auf seinem Stuhl auf. »Sie wissen, dass ich in Las Vegas bin. Morgen um diese Zeit werden Dutzende Männer hier sein und die Stadt durchkämmen.«
»Deswegen wirst du auch nicht durch die Gegend spazieren«, antworte ich und blicke ihn durchdringend an. »Aber hier seid ihr sicher. Ich denke, ihr würdet bei mir zu Hause ebenfalls in Sicherheit sein. Es gibt nichts, das auf eine Verbindung zwischen uns hinweist.«
Nun, es gibt da schon etwas, aber ich will sie nicht beunruhigen. Hypothetisch gesprochen könnte eine racheversessene Mafia-Familie den besten Detektiv anheuern, den es gibt. Wenn es ihm gelingen würde, Leightons Wagen und das Kennzeichen zu identifizieren, würden sie sie nach Denver zurückverfolgen. Dann würden sie von Mike erfahren. Und wenn sie mit Nachbarn sprechen, würden sie schließlich auch von Sam wissen.
Dass er Krebs hat und die Familie für die Behandlung nach Las Vegas gefahren ist. Wenn er etwas intensiver forscht, könnte er eventuell Leute finden, die – für den richtigen Geldbetrag – meinen Namen als den des Vaters nennen würden, der jeden verdammten Tag ins Krankenhaus gefahren ist.
Es ist denkbar, dass sie mich finden könnten. Es wird nicht heute passieren, könnte aber irgendwann der Fall sein.
»Warten wir einfach ab, was Kynans Kontakte beim Justizministerium zu berichten haben«, beruhige ich sie. »Wir haben einen Mann im Büro in Pittsburgh, der sogar Hintergrundüber­prüfungen durchführen kann, sobald wir die Informationen bekommen.«
Mike nickt steif, während Leighton mit trübem Blick aus dem Fenster sieht. Als die Tür geöffnet wird, tritt Rachel mit einem Laptop unter dem Arm ein. »Ich habe gute Nachrichten.«
Leighton und Mike richten sich auf ihren Stühlen kerzengerade auf. Rachel stellt den Laptop vor ihnen ab und ich stelle mich hinter sie, um zu sehen, was sie uns zeigen will.
»Das Sicherheitsbüro des Grande Casinos hat uns die entsprechenden Überwachungsvideos zugeschickt«, erklärt sie über ihre Schulter hinweg. »Der Freund eines Freundes von mir arbeitet dort. «
Sie beugt sich nach vorn und drückt auf einige Tasten, bevor ein Schwarz-Weiß-Video erscheint. Das Bild ist unscharf, aber ich kann deutlich sehen, wie Mike und Leighton eingehakt durchs Casino gehen. Die Kamera zeigt sie von hinten und ist auf einen Roulettetisch gerichtet, dem sie sich nähern.
Wortlos sehen wir zu, was passiert. Die Männer sind sichtlich überrascht, Mike zu sehen, der sich blitzschnell umdreht und Leighton wegzieht. Beide Männer springen vom Tisch auf, um sie zu verfolgen. Mike biegt scharf nach rechts ab und schlängelt sich durch eine Reihe von einarmigen Banditen, dann sind sie außer Sichtweite.
Rachel drückt eine weitere Taste. Ein Video erscheint. »Hier verlassen Mike und Leighton das Casino. Diese Männer folgen ihnen nicht nach draußen.«
Wieder drückt sie eine andere Taste und ein weiteres Video wird angezeigt. »Die Außenkamera mit Blick auf die Straße.«
Wir sehen, wie Mike und Leighton eilig die Straße überqueren und in der Tiefgarage verschwinden. Es dauert einige Sekunden, bis die Männer nach draußen stürmen und einige Schritte in entgegengesetzte Richtungen laufen. Beide blicken sich nach links und rechts um, sichtlich frustriert darüber, ihre Beute nicht erwischt zu haben.
Sie gehen aufeinander zu und sprechen gestikulierend miteinander. Einer der Männer zieht ein Mobiltelefon heraus und ruft jemanden an, vermutlich, um von ihrer Beobachtung zu berichten. Dann kehren sie ins Casino zurück.
»Die Ausfahrt der Tiefgarage befindet sich in einer anderen Straße«, sagt Mike. »Es hat den Anschein, als hätten sie unser Nummernschild nicht gesehen.«
»So scheint es«, sagt Rachel lächelnd. »Das heißt nicht, dass sie nicht nach Las Vegas kommen, um nach Ihnen zu suchen, aber zumindest sieht es nicht so aus, als würden sie Ihre derzeitige Identität herausfinden.«
»Spielt keine Rolle«, sagt Leighton und ihre Stimme hat einen leicht hysterischen Klang. »Wir können kein Risiko eingehen. Wir müssen verschwinden. Einen Weg finden, um neue Identitäten zu bekommen.«
Verzweifelt fleht sie mich an. »Du hast doch sicher irgendwelche Kontakte. Von mir aus auch zum Schwarzmarkt. Wir werden alles tun, was notwendig ist.«
Ich hebe die Hände und versuche, sie mit meiner Stimme zu beruhigen. »Nicht so schnell, Leighton. Wir wissen nicht einmal, wie ernst es ihnen ist, euch überhaupt nachzugehen. Die ganze Sache ist schon sehr lange her und es wäre, wie nach einer Nadel im Heuhaufen zu suchen. Es könnte sein, dass sie diese Ressourcen nicht zur Verfügung stellen wollen.«
»Aber es könnte auch sein, dass sie eine ganze Armee schicken«, kontert sie.
»Wie dem auch sei«, sage ich, »fürs Erste denke ich, dass ihr in meinem Haus sicher seid. Ich werde nicht zulassen, dass dir, Sam oder Mike etwas passiert. Lasst uns einfach zu mir fahren. Nachdem wir vom Justizministerium gehört haben, können wir die Situation besser bewerten.«
Leighton und Mike schauen sich an. Zum Glück scheint Mike das größere Vertrauen von den beiden zu haben. Er nickt lediglich und bedeutet mir damit, dass er mit diesem vorübergehenden Plan einverstanden ist.