Das Gotteshaus war der Heiligen Dreifaltigkeit geweiht. Der spitz zulaufende Kirchturm ragte hoch über dem Vinschgauer Talgrund. Im Inneren gab es mittelalterliche Fresken, eine barocke Holzdecke und eine Empore aus dem siebzehnten Jahrhundert. Eine Grabplatte erinnerte an ein längst ausgestorbenes Grafengeschlecht. In manchen Reiseführern wurde der Sakralbau kulturgeschichtlich interessierten Feriengästen zur Besichtigung empfohlen. Am heutigen Tag aber und zu dieser Stunde war die Kirche menschenleer – und totenstill.

Menschenleer? In der dritten Reihe der Holzbänke kniete ein einsamer Mann, vornübergebeugt und mit gefalteten Händen. Es machte den Anschein, als ob er betete. Aber der Eindruck täuschte.

Dem Mann ging in diesem Moment vieles durch den Kopf, aber gewiss kein Gebet. Dabei wäre es so leicht: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. In Demut und Reue bekenne ich meine Sünden …

Stattdessen hämmerten qualvolle Erinnerungen gegen seine Schädeldecke, als ob sie sich hinauszwängen und seine Schuld in das leere Kirchenschiff hineinschreien wollten. Kurz darauf verwandelten sich die peinigenden Gedanken in einen dunklen Strudel, der ihn unaufhaltsam in die Tiefe zog. In die Hölle, wo der Teufel und das Fegefeuer auf ihn warteten. Wie sollte man bei diesem Martyrium beten?

Immer wieder hatte er es versucht – geschafft hatte er es nie. Auch hatte er nie den Weg zum Beichtstuhl gefunden. Schon deshalb, weil er nicht daran glaubte, dass ein Pfarrer in der Lage war, ihm seine Schuld So spreche ich dich los von deinen Sünden … Wenn es nur so einfach wäre.

Außerdem bekam er Herzrasen bei der Vorstellung, dass jemand Kenntnis von seiner Tat haben könnte. Beichtgeheimnis hin oder her. Den Glauben an die Kirche hatte er längst verloren, auch jenen an die Unverletzlichkeit des Bußsakraments.

Irrationalerweise suchte er dennoch immer wieder Zuflucht in einer Kirche. Vielleicht hoffte er, dass sich etwas von der heiligen Ruhe auf sein Inneres übertragen und die Wogen seiner Seelenqual glätten könnte? Doch wusste er, dass das Gegenteil der Fall war. Es wurde alles wieder aufgewühlt. Und er wollte es so. Zu groß war die Schuld, die er auf sich geladen hatte. Also tat er Buße – indem er sich bei seinen Kirchenbesuchen quälte und sich seinem inneren Dämon stellte.

Auf ihm lastete die schlimmste aller Sünden. Er hatte gegen das fünfte Gebot verstoßen. Du sollst nicht töten! Bis zu seinem Lebensabend würde ihn verfolgen, dass er einen Mord begangen hatte. Einen Mord zudem aus kühler Berechnung. Wäre es nach seinem Herzen gegangen, hätte er anders entschieden. Minderte das seine Schuld? Nein, es steigerte sie sogar ins Unermessliche.

Dass darüber hinaus noch eine weitere Person zu Tode gekommen war, versuchte er zu verdrängen. Weil die emotionale Nähe zu diesem Opfer fehlte, gelang ihm das ganz gut. Er wollte sich mit dieser Tragödie nicht auch noch belasten.

Wie lange lag dieser finsterste Moment in seinem Leben zurück? Mal kam es ihm vor wie eine Ewigkeit. Dann wieder schien es ihm wie gestern.

Aber er machte Fortschritte. Die Abstände zwischen seinen Kirchenbesuchen wurden größer. Auch quälten ihn immer seltener Albträume, die ihn mitten in der Nacht schweißnass und zitternd aufschrecken ließen.

Vor allem schaffte er es zunehmend gut, die Angstattacken auf das Kircheninnere zu beschränken, vor dem Heiligen Kreuz und im

*

Wie immer dauerte es seine Zeit, bis er spürte, dass sich sein Atem langsam beruhigte. Dass sich die Verkrampfung um sein Herz löste, auch jene der gefalteten Hände. Und dass der Geist wieder frei wurde.

Als er sich schließlich in der Lage fühlte, ins Leben zurückzukehren, stand er auf. Er bekreuzigte sich, was nicht mehr war als ein Ritual, und nahm von seinen Erinnerungen Abschied. Nicht nur von seinen Erinnerungen, sondern auch von dem Menschen, den er mal begehrt hatte – um ihn dann umzubringen.

Schweren Schrittes verließ er die Kirche. Mit hängenden Schultern. Es war keiner da, der ihn beobachtete. Nicht einmal der Pfarrer. Vielleicht der liebe Gott? Doch fehlte ihm der Glaube. Seine Schritte wurden leichter. Der gebückte Gang aufrechter.

Er setzte eine dunkle Sonnenbrille auf und trat hinaus in das klare Licht des Vinschgau, wo der Ortler nicht fern war und die Etsch, vom Reschen kommend, nach Meran strömte. Es hieß, dass der Gebirgsfluss in der Lage sei, alle peinigenden Gedanken hinwegzuspülen. Doch das war eine Mär.