Emilio und Tilda blieben, bis die letzten Polizisten abgerückt waren. Professor Turmstaller verabschiedete sich mit Handschlag. Emilio beobachtete schmunzelnd, wie Tilda kurz zögerte. Dann erinnerte sie sich offenbar, dass der Gerichtsmediziner bei seiner Untersuchung Gummihandschuhe getragen hatte, und ergriff die ausgestreckte Rechte.
Zuvor war der mumifizierte Leichnam unter Turmstallers Aufsicht langsam und mit größter Vorsicht in einen schlichten Aluminiumsarg gebettet worden. So viel Rücksichtnahme hatte Emilio noch selten beobachtet. Aber bei der toten Frau überwog wohl die Angst, dass etwas abbrechen könnte. Im rechtsmedizinischen Institut würde der Leichnam sofort gekühlt werden. Womöglich sogar tiefgefroren. Doch so genau wollte Emilio es nicht wissen.
Er schloss den Bunker ab. Im Wissen, dass Bastian Steingrubers Amphoren den Ansturm der Exekutive unversehrt überstanden hatten. Er ließ Tilda noch einen Moment warten, um seinen Freund anzurufen. Bislang wusste der noch nichts von der unheimlichen Entdeckung.
«Hallo Emilio, hab schon auf deinen Anruf gewartet. Na, was gefunden?»
«Ja, kann man so sagen.»
«Na super. Du erinnerst dich an unsere Vereinbarung? Die Hälfte gehört mir.»
Emilio zögerte.
«Wenn du darauf bestehst?»
«Natürlich.»
«Dann hast du die Wahl. Willst du den Oberkörper mit Kopf? Oder von der Hüfte abwärts bis zu den Füßen?»
Statt einer Antwort hörte Emilio zunächst … nichts. Bastian hatte es offenbar die Sprache verschlagen. Emilio gestand sich ein, dass sein Vorschlag pietätlos war. Er hätte Bastian auch schonender und weniger makaber von der Toten berichten können.
«Willst du damit sagen …» Bastians Stimme war kaum wiederzuerkennen.
«Sorry, mein Lieber. Ja, ich wollte dir sagen, dass wir die Mauer aufgebrochen und dahinter eine mumifizierte Frauenleiche gefunden haben.»
«Eine Frauenleiche? Mein Gott, wie schrecklich.»
«Die Polizei war schon da, das Opfer ist unterwegs nach Bozen. Deinen Amphoren geht es übrigens gut.»
«Wirklich? Was ist mit dem Verwesungsgeruch?»
«Es gibt keinen. Wie gesagt, die tote Frau ist mumifiziert … und sozusagen geruchsneutral.»
War das schon wieder pietätlos? Aber wie sollte er es sonst formulieren?
«Trotzdem … Ich glaube, ich lasse meine Amphoren wieder abholen.»
«Können wir später bereden. Bist du im Büro? Dann komme ich vorbei.»
«Ja, ich bin da.» Bastian Steingruber räusperte sich. «Eine mumifizierte Frauenleiche …», fuhr er leise fort. «In meinem Bunker … Den Pachtvertrag werde ich kündigen …»
Eine Pizzeria an der Hauptstraße hatte noch geöffnet. Sie setzten sich an einen Tisch und bestellten eine Capricciosa zum Teilen. Aber vorab brauchten beide einen Grappa. Sogar Emilio, dem nicht so schnell etwas auf den Magen schlug.
«Unseren Ausflug habe ich mir romantischer vorgestellt», sagte Tilda.
«Romantisch? Dann hättest du dir vielleicht keine Kriegsbunker aussuchen sollen. Unter Romantik stelle ich mir was anderes vor.»
Tilda sah ihn mit blitzenden Augen an. Ihre Bluse war weit aufgeknöpft … Was schon die männliche Bedienung beträchtlich abgelenkt hatte. So sehr, dass er die Bestellung erst im zweiten Anlauf verstand.
Unter dem Tisch stupste ihn Tilda mit dem Fuß an. Dabei hauchte sie ihm einen Kuss zu.
«Du hast eben keine Phantasie.»
Da täuschte sie sich. Auf dem Gebiet hatte er sogar viel Phantasie. Dennoch hatte er beim heutigen Ausflugsziel keine erotischen Abenteuer erwartet. Allerdings auch keine eingemauerte Leiche.
«Das nächste Mal kommst du zu mir nach Klausen», flüsterte sie. «Da sind wir vor Überraschungen sicher.»
Er zog eine Augenbraue nach oben. «Hab nichts dagegen, wenn du mich überraschst», rutschte ihm heraus.
«Ich weiß, mein lieber Emilio, ich weiß …»
Jetzt war es aber genug. Gott sei Dank wurde in diesem Moment die Pizza serviert.
Eineinhalb Stunden später setzte Emilio Tilda bei ihrem geparkten Alfa ab. Er bat sie, ihm später eine Auswahl ihrer Fotos zu mailen, und zwar jene von der Frauenleiche und der Kammer. Die anderen interessierten ihn heute nicht. Er wollte sich die Bilder am Abend in Ruhe ansehen und dabei auf Details achten.
Tilda verabschiedete sich mit einer plötzlichen und sehr innigen Umarmung. Und mit einem Kuss auf den Mund. Erschrocken sah er sich um. Hatte sie jemand beobachtet? Südtirol war ein Dorf, wenn es um die Verbreitung von Indiskretionen ging. Er würde Tilda um mehr Zurückhaltung in der Öffentlichkeit bitten müssen.
Er schaute ihr hinterher, als sie im Cabrio mit wehenden Haaren davonbrauste. Selber schuld, dass er sich auf eine so auffällige Person eingelassen hatte. Die Liaison barg unkalkulierbare Risiken – vor allem im Hinblick auf Phina. Und er stellte sich die Frage, ob es das wert war.
Emilio beschloss, derartige Überlegungen für den Moment auszublenden. Die aktuellen Ereignisse erforderten seine volle Konzentration. Ereignisse? Nun, im Grunde gab es bislang nur ein einziges, nämlich den Fund einer mumifizierten Frauenleiche. Der Plural war dennoch gerechtfertigt, denn natürlich würden auf diesen dramatischen Vorgang fast zwangsweise weitere Ereignisse folgen. Schließlich hatte Professor Turmstaller einen gewaltsamen Tod festgestellt. Mit der logischen Konsequenz, dass sich Emilio aufgefordert fühlte, die näheren Umstände aufzuklären und den oder die Täter zu überführen. Fast empfand er es als moralische Verpflichtung der unbekannten Toten gegenüber. Das Schicksal hatte es so gewollt, dass sie ausgerechnet von ihm entdeckt wurde, einem privaten Ermittler, der seine Nase schon in Fälle gesteckt hatte, die ihn noch weniger etwas angingen. Commissario Sandrinis Ehrgeiz würde sich in Grenzen halten. Also brauchte die Tote einen Menschen wie ihn, der post mortem ihre Interessen vertreten und für Gerechtigkeit sorgen würde. Ohne Bezahlung. Pro bono. Er konnte es sich leisten – also hatte er quasi ihr Mandat.
Emilio startete seinen Landy und fuhr nach Girlan zum Weingut seines Freundes Bastian Steingruber. Dort traf er ihn nicht im Büro, sondern im Barrique-Keller an, wo er gerade mittels eines gläsernen Weinhebers Fassproben entnahm. Natürlich hörte er sofort auf, als er Emilio kommen sah.
«Was machst du aber auch für Sachen?», sagte Bastian anstelle einer Begrüßung. «Findest in meinem Bunker eine Leiche. Was hast du dir dabei gedacht?»
Hatte es seinem Freund im Barrique-Keller das Hirn vernebelt?
«Habe ich nur gemacht, um dich zu ärgern», gab Emilio zur Antwort.
Bastian runzelte erst die Stirn. Dann entspannte sich sein Gesicht. «Hast recht, kannst ja nichts dafür, dass du mit deinem kriminalistischen Röntgenblick durch Wände schauen kannst …» Er reichte Emilio sein Weinglas mit der Fassprobe. «Magst mal probieren? Blauburgunder. Noch bissel kratzig, wird aber noch …»
«Danke, nein. Bin gerade nicht in Stimmung.»
Emilio öffnete auf seinem Handy ein Bild von der mumifizierten Leiche.
«Schau, das war deine Untermieterin. Der Gerichtsmediziner schätzt sie auf Ende zwanzig.»
«O mein Gott, wie grauslig.»
«Jetzt ist sie in Bozen in der Gerichtsmedizin, wo sie genauer untersucht wird.»
Bastian schüttete die Fassprobe auf den Boden und stellte das Glas weg. Seine Hand war schon mal ruhiger.
«Weiß man, wie das arme Dirndl zu Tode gekommen ist?»
«Offenbar wurde sie erst niedergeschlagen, dann eingemauert. Dort ist sie dann ihren Verletzungen erlegen oder verdurstet …»
«Oder erstickt?»
«Nein, das ganz sicher nicht. Die Kammer ist wie der ganze Bunker sehr gut belüftet. Deshalb auch die Mumifizierung.»
«Wie auch immer, ein schrecklicher Tod. Ich mag mir das gar nicht vorstellen.»
«Lass es besser sein. Ich muss dich was fragen …»
Bastian hob die Hände. «Ich war’s nicht.»
Emilio stellte fest, dass er diese Reaktion nicht als spaßige Bemerkung, sondern mit nüchterner Professionalität zur Kenntnis nahm. Offenbar befand er sich bereits im Ermittlungsmodus. Und im Zuge dessen kam zunächst jeder als Täter in Frage. Selbst sein Freund Bastian. Aber nur theoretisch.
«Glaube ich dir. Was ich dich fragen will: War der Bunker schon mit einem Eisentor verschlossen, als du ihn übernommen hast? Und wie lange schon?»
«Ja, er war abgesperrt. Ich denke, auch schon länger, denn die Scharniere waren verrostet; ich musste sie erst ölen. Genaueres kann dir aber nur der Gustl Mayr sagen, dem der Bunker gehört.»
«Innen gibt’s Graffiti. Also muss er früher mal zugänglich gewesen sein.»
Bastian nickte. «Das war er ganz sicher. Lange Zeit hat sich ja keiner um die Bunker im Vinschgau gekümmert. Damals waren sie super Abenteuerspielplätze für Kinder. Und junge Leute haben in ihnen wilde Partys gefeiert.»
Wilde Partys? Das lebendige Einmauern von Frauen hatte hoffentlich nicht zu den Exzessen gehört.
«Ich werde den Mayr morgen besuchen», sagte Emilio. «Und ihn befragen.»
«Ja, mach das. Kannst ihm gleich sagen, dass ich vom Pachtvertrag zurücktrete.»
Emilio winkte ab. «Warum denn? Deine Amphoren haben’s dort doch gut. Die Spurensicherung ist fertig. Ich muss auch nicht mehr rein.» Er gab Bastian den Schlüssel. «Der Bunker – er sei fortan ein Hort der Ruhe und des Friedens.»
Ganz so melodramatisch hatte er es nicht gemeint. Aber es sprach nichts dagegen, dass sein Wunsch in Erfüllung ging.
«Und noch was: Das mit der mumifizierten Frauenleiche solltest du erst mal für dich behalten.»