Für den Mann begann der Tag, so wie er es mochte. Mit einer Tasse Kaffee, frisch ausgepresstem Orangensaft, würzigen Vinschger Paarln, hausgemachter Marmelade … Dazu die aktuelle Tageszeitung. Es ging ihm gut, er konnte sich nicht beklagen. Schon länger hatte er keine Notwendigkeit mehr gesehen, in einer Kirche Buße zu tun und sich zu quälen. Offenbar gab es auch bei Todsünden eine moralische Verjährung, die zwar die Tat nicht ungeschehen machte, aber den Druck auf die Seele minderte.

Er schlug die Dolomiten auf und las einen Artikel über eine Premiere im Stadttheater Bozen. Dann einen Autotest, den er wesentlich spannender fand. Des Weiteren erfuhr er, dass sich zwei Obstgenossenschaften zusammengeschlossen hatten, doch das wusste er sowieso schon. Bei Gröden war ein Reisebus mit einer Seniorengruppe aus Wien von der Straße abgekommen. Ernstlich verletzt wurde dabei nur eine Kuh, die unglückseligerweise im Weg stand. Das wenigstens war amüsant – nur nicht für die Kuh.

Gerade wollte er die Zeitung zur Seite legen, weil ihn nichts wirklich interessierte, da fiel sein Blick auf die Überschrift einer kurzen Nachricht …

Von einer Sekunde auf die andere wurde ihm schwindlig. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Er rang nach Luft …

Leichenfund im Vinschgauer Bunker, lautete die Headline.

Wie konnte das sein? Nein, bitte nicht …

Es folgten nur wenige Zeilen: In einem Bunker bei Mals wurde gestern die Leiche einer Frau entdeckt. Ihr Tod liegt offenbar

Mit einer fahrigen Handbewegung stieß er das Glas Orangensaft um. Er hatte Mühe, sich auf dem Stuhl zu halten. Plötzlich konnte er nicht mehr scharf sehen. Hinter seinen Schläfen pochte es.

Fühlte es sich so an, wenn man kollabierte? Würde er die nächsten Minuten überleben?

Unsinn. Er war ein Mann in den besten Jahren, da starb man nicht so einfach. Schon gleich nicht im Sitzen beim Lesen der Zeitung.

Aber vielleicht wäre es sogar das Beste für ihn. Einfach die Lichter ausknipsen. Servus, ciao! Ende der Vorstellung.

Es gelang ihm, sich zu beruhigen. Leicht fiel ihm das nicht, denn die Nachricht in der Zeitung hatte ihm … den Boden unter den Füßen weggezogen. Gott sei Dank war er gerade alleine, da musste er seine Panikattacke niemandem erklären und nicht nach Ausflüchten suchen.

Langsam setzte auch sein Verstand wieder ein. Nun denn, man hatte die Leiche gefunden. Damit war zwar nicht zu rechnen gewesen – aber war das so schlimm? Außerdem müsste es im Artikel wohl richtiger heißen, dass man die Knochen einer Leiche gefunden hatte. Er hatte mal gelesen, dass nach ungefähr vier Jahren von einem Verstorbenen im Sarg nur noch das Knochenskelett übrig sei. Vier Jahre? Dobra war schon länger tot. Ihre Identität würde nicht mehr festzustellen sein. Und selbst wenn, es würde keine Spur geben, die zu ihm führte. Warum regte er sich also auf?

Mittlerweile hatte er sich wieder im Griff. Sein Atem hatte sich beruhigt. Nichts würde passieren, gar nichts.

Er sah auf die Uhr. Gleich musste er los. Mit dem Auto. Gut so, am Steuer konnte er sich schon immer am besten ablenken – und seine Aggressionen abreagieren.