Erneut war Emilio auf dem Weg ins Obervinschgau. Diesmal ohne Tilda. Er hatte sich mit dem Apfelbauern Gustl Mayr verabredet, um mit ihm über seinen Bunker zu reden. Mayr wusste, dass Emilio dort eine Leiche gefunden hatte. Und zwar hinter der verputzten Mauer, nach der Bastian Steingruber am Telefon gefragt hatte. Details aber wusste er nicht. Auch hatte sich die Polizei bei ihm noch nicht gemeldet. Was Emilio kaum überraschte. Sandrini hielt Wort und kümmerte sich zunächst um Fälle, die ihm wichtiger erschienen.
Gustl Mayr sollte auf ihr Gespräch also fast so neugierig sein wie er selbst. Ob er ihrem Treffen allerdings entspannt entgegensah, konnte man nicht wissen. Höchstwahrscheinlich schon – allerdings nicht, wenn …
Emilio runzelte die Stirn. Nun ja, rein hypothetisch könnte der Apfelbauer Mayr auch der Mörder sein. Dann wäre er gerade nicht ganz so entspannt. Bald würde er es wissen.
Emilio hielt sich für einen guten Psychologen. Er glaubte, in den Gesichtern der Menschen lesen zu können, er interpretierte ihre Mimik und achtete auf ihre Körpersprache. Er spürte, wenn sie nervös wurden. Oder wenn sie im Begriff waren, ihn anzulügen. Oft ahnte er sogar, was sie als Nächstes vorhatten.
Er erinnerte sich an gestern Abend. Schon als er auf dem Hof vorfuhr und aus dem Auto stieg, hatte er bemerkt, dass Phina unter Strom stand. Bei ihr tat er sich natürlich besonders leicht, weil er sie kannte. Auch ihre Stimme. «Hallo, mein Lieber, schon da?», hatte sie zur Begrüßung gesäuselt. Das war nicht ihre Art zu sprechen. Sie war eine Frau der klaren Worte. Süßholzraspeln gehörte nicht zu ihrem Repertoire. Außerdem signalisierte ihre angespannte Körperhaltung, dass was im Busch war. Und dann: «Na, erzähl, was hast du Schönes erlebt?» Spätestens da war ihm klar gewesen, worauf sie hinauswollte. Offenbar hatte sie erfahren, dass er mit Tilda zusammen gewesen war. Und jetzt wollte sie ihn zur Rede stellen. Dazu hätte sie schon einige Male Grund gehabt, worauf er nicht stolz war, aber ausgerechnet am gestrigen Tag hatte er ein reines Gewissen. Weil er somit geahnt hatte, was ihm drohen würde, war er in der Lage gewesen, ihr Vorhaben im Ansatz zu ersticken. Frei nach Clausewitz: Angriff ist die beste Verteidigung. Dafür hatte es nicht mehr bedurft, als von sich aus und wie selbstverständlich Tilda zu erwähnen … In Kombination mit ihrem spektakulären Leichenfund war aus dem heiklen Thema erst mal die Luft raus. Aber nicht für immer, das war ihm klar. Er war also gut beraten, sich eine Strategie zurechtzulegen. Doch wie könnte diese aussehen? Allzu viele Optionen gab es nicht. Im Grunde nur zwei. Und beide gefielen ihm nicht.
Emilio zwang sich, seine Gedanken auf die Gegenwart zu lenken und sich auf das bevorstehende Treffen mit dem Apfelbauern Mayr zu konzentrieren. Hoffentlich konnte er auch bei ihm erahnen, was in seinem Kopf vorging.
Plötzlich überholte ihn hupend ein giftgrün lackierter Lieferwagen, der dann so knapp vor ihm einscherte, dass er bremsen musste. Emilio hob empört den Mittelfinger. Schließlich fuhr er in seinem alten Landrover exakt die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit – mit durchgedrücktem Gaspedal. Kein Grund also, ihn zu behandeln wie ein rollendes Verkehrshindernis.
Emilio beschloss, sich nicht zu ärgern. In der Ruhe lag die Kraft. Außerdem würde der Kerl gleich seine verdiente Strafe bekommen, denn hinter der nächsten Kurve lauerte eine automatische Radarfalle. Die kannte er von gestern.
Drei, zwei eins … Bingo. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Eine halbe Stunde später hatte er sein Ziel erreicht. Er fuhr auf den Parkplatz – und entdeckte den giftgrünen Lieferwagen. Erst jetzt sah er die Aufschrift: «Apfelgut Gustl Mayr & Sohn». Na klar, der Raser war längst da. Alternativ hätte er im Straßengraben landen können.
Emilio fand den Weg ins Büro des Chefs. Gustl Mayr begrüßte ihn mit dem kräftigen Händedruck eines Bauern. Auch sonst machte er einen kernigen Eindruck. Er hatte ein kariertes Hemd an und trug den typischen blauen Schurz, ohne den sich traditionsbewusste Südtiroler «nur halb angezogen» fühlten.
Mayr deutete auf eine Sitzecke.
«Nehmen S’ Platz, Herr Baron. Der Steingruber hat mir schon von Ihnen erzählt. Sie sind so eine Art Sherlock Holmes, habe ich recht?»
Emilio lachte. «Mein Freund übertreibt schamlos. Ich bin nur ein unbedeutender und minderbegabter Privatdetektiv, der gelegentlich Ermittlungsaufträge übernimmt.»
«Soso, minderbegabt … Warum suchen Sie sich dann nicht einen anderen Job?»
Emilio dachte noch darüber nach, was er auf diese despektierliche Bemerkung entgegnen sollte, da schlug sich der Gustl Mayr feixend auf den Oberschenkel.
«Das war ein Scherz, Herr Baron. Nun erzählen S’ schon, warum sind Sie hier?»
«Ich denke, das wissen Sie.»
«Sell woll, wegen der Leich, die Sie in meinem Bunker gefunden haben. Aber deshalb hätten S’ ja nicht zu mir kommen müssen.»
«Nein, hätte ich nicht. Aber ich hoffe, Sie können mir ein bissel was über den Bunker erzählen. Außerdem will ich Ihnen ein Foto der Toten zeigen …»
«Und ich soll Ihnen sagen, ob ich die Frau kenne. I verstea. Dann zeigen S’ schon her.»
War er nervös, aufgeregt? Er machte nicht den Eindruck.
Emilio zeigte ihm das Foto – ohne ihn vorzuwarnen, was er gleich zu sehen bekam.
Mayr riss entsetzt die Augen auf. «Heilige Mutter Maria, wie schaut denn die aus? Wie eine Schwester vom Ötzi …»
«Ist allerdings fünftausend Jahre jünger.»
«Sigg man ihr aber nitt an. Dem roten Kleidl schon, aber ihr selbst nicht …»
«Nach Ansicht des Gerichtsmediziners lag die Leiche höchstens zehn Jahre im Bunker; länger liegt ihr Tod nicht zurück.»
«Wirklich? Warum schaut sie dann so grausig aus?»
«Das liegt an den besonderen Bedingungen im Bunker. Da braucht’s für eine Mumifizierung nicht lange.»
«Jo verreck …»
Emilio dachte, dass der Kraftausdruck im doppelten Sinne passend war. Und auch, dass es Zeit wurde, sein Gegenüber etwas zu verunsichern.
«Seit wann gehört Ihnen eigentlich der Bunker?»
Mayr schüttelte immer noch ungläubig den Kopf. «Höchstens zehn Jahre ist s’ tot, haben Sie g’sagt … des glab i nitt.»
«Ist aber so. Deshalb noch mal: Seit wann gehört Ihnen der Bunker?»
«Da muss ich nachdenken … Ungefähr fünfzehn Jahre wird’s wohl her sein. Damals konnte man sich von der Fraktionsverwaltung für sechstausend Euro einen solchen Bunker ersteigern. Ich hab mir gedacht, das ist nicht viel Geld für so viel Beton. Außerdem steht er auf meinem Grund … Eigentlich a Frechheit. Meinen Vater haben die Faschisten Ende der dreißiger Jahre enteignet, jetzt hab ich unsere eigene Parzelle zurückkaufen müssen. Ober scheiß drauf. Ich hatte die Idee, im Bunker meine landwirtschaftlichen Maschinen unterzustellen. Ich hab schon mit den Umbauten angefangen, dann aber festgestellt, dass der Aufwand zu hoch ist. Sie müssen sich vorstellen – die Außenmauern sind fast sechs Meter dick … brutal. Mit dem Pressluftbohrer kemmen S’ do nitt durch …»
Emilio fand es bemerkenswert, dass der Apfelbauer gerade laut über die Sinnhaftigkeit des Bunkerkaufs nachdachte. Würde er das machen, wenn er etwas mit der Leiche zu tun hatte? Oder war das ein gezieltes Ablenkungsmanöver? In diesem Fall wäre er besonders ausgekocht.
«Die Frau wurde also zu einem Zeitpunkt eingemauert, als Sie schon der Besitzer des Bunkers waren», schlussfolgerte Emilio.
«Falls der Leichendoktor recht hat, dann wird’s wohl so gewesen sein.» Er zuckte mit den Schultern. «Ich kann’s nicht ändern. Wenn sich jemand an einem meiner Apfelbäume aufhängt, bin ich genauso unschuldig.»
Da hatte er recht. So konnte man es sehen. Vor allem, wenn er wirklich so ahnungslos war, wie er tat.
«Früher war der Bunker allgemein zugänglich, richtig?»
«Allgemein zugänglich? Sie meinen, dass a jeder hat innikennen? Ja, da haben’S recht. Vor einigen Jahren habe ich dann ein Eisentor angebracht und abgeschlossen. Ich wollt ja nicht, dass sich in meinem Bunker noch einer das Genick bricht …»
«Vor wie vielen Jahren genau?»
«Mit dem Tor? Da muss ich nachdenken. Ich glaub, vor fünf Jahren … oder sechs. Da müsste ich in den Rechnungen nachschauen. Warum wollen S’ das wissen …? Ach so, ich versteh. Irgendwie muss die Leich ja reingekommen sein.»
«Auch der Mörder.»
Er zuckte zusammen. «Mörder? Ist die Frau vielleicht umgebracht worden?»
War er begriffsstutzig? Oder warum hatte er das nicht kapiert?
«Die Frau wurde auf grausame Weise umgebracht. Und zwar in Ihrem Bunker.»
«Voter in Himml, das darf nicht sein.»
«Ist aber so. Deshalb ist es wichtig, zu welchem Zeitpunkt Sie das Tor eingebaut haben.»
«Ich werde in meinen Unterlagen nachschauen.»
«Sobald wir vom Gerichtsmediziner den genauen Todeszeitpunkt erfahren, werden wir wissen, ob das vorher war … oder ob der Mörder einen Schlüssel hatte.»
Mayr kniff die Augen zusammen. «Des g’fallt mr nitt, dass Sie diese Möglichkeit in Betracht ziehen.»
«Warum? Wer hatte denn alles einen Schlüssel?»
«Nur ich.» Er deutete auf seinen Schreibtisch. «Der Schlüssel lag immer in der Schublade. Jetzt hat ihn der Bastian Steingruber.»
«Alles klar. Warten wir also ab, was der Gerichtsmediziner sagt. Und Sie suchen bitte in der Zwischenzeit raus, wann das Tor eingebaut wurde.»
«Das mache ich, aber es ist Ihnen hoffentlich klar, dass ich mit der Leich nichts zu tun hab.»
Emilio beließ es bei einem angedeuteten Nicken. Denn so klar war das natürlich nicht. Zwar hatte er den Eindruck, dass ihn der Apfelbauer nicht belog. Was nicht ausschloss, dass er die Tote sehr wohl gekannt hatte, aber sie halt in ihrem Zustand auf dem Foto nicht erkennen konnte. Theoretisch könnte er ihm auch etwas vorspielen – und sehr wohl Dreck am Stecken haben. Es war entschieden zu früh, ein Urteil zu fällen.
«Was machen die asiatischen Apfelwanzen?», wechselte Emilio abrupt das Thema.
Mayr sah ihn überrascht an.
«Hat Ihnen der Bastian Steingruber davon erzählt? Halyomorpha halys heißen s’ auf Lateinisch. Die Scheißdinger bohren meine Äpfel an. Wenn ich könnte, würde ich jede einzeln erschlagen.»
«‹Erschlagen› ist ein wenig unpassend.»
«Warum?»
«Weil die Frau im Bunker auch erschlagen wurde. Niedergeschlagen trifft’s besser, denn sie hat noch gelebt, als sie eingemauert wurde.»
«Oje, dia G’schicht weard ja olaweil grausiger. Stimmt das auch alles, was Sie mir grad erzählen? Sie sind ja nicht von der Polizei …»
«Kann sein, dass die sich bei Ihnen auch noch meldet.»
«Sell fahlat mr nou.»
«Aber die Polizei wird Ihnen nichts anderes sagen …»
Emilio hörte, dass gerade jemand in seinem Rücken das Büro betrat.
«Was soll uns die Polizei sagen?», mischte sich der Besucher in ihr Gespräch.
Emilio drehte sich um. Ein junger Mann stand breitbeinig vor ihm. Nun ja, jung war relativ. Vielleicht Mitte dreißig. Groß gewachsen und forsch im Auftreten.
«Mein Sohn Ludwig», stellte ihn Mayr vor.
«Und wer sind Sie?», herrschte der Sohn Emilio an.
Höflich war was anderes.
«Ritzfeld mein Name», antwortete Emilio, ohne ihm die Hand zu reichen. Der Mann war ihm auf Anhieb unsympathisch. Was relativ ungünstig war, wenn man in einem Mordfall ermittelte. Weil es dann schwerfiel, objektiv zu urteilen.
«Ich habe mit Ihrem Vater gerade über seinen Bunker gesprochen …», gab er ihm dennoch eine Erklärung, «in dem gestern eine Leiche gefunden wurde.»
«Die Leiche war in unserem Bunker?»
Tat er nur so, oder war er wirklich überrascht?
«Ich hab’s heute früh in der Zeitung gelesen», fuhr er fort.
Emilio kannte die Meldung. Er hatte sie selber heute Morgen in den Dolomiten entdeckt. Und sich amüsiert, dass Sandrini offenbar wirklich nur das Allernötigste mitgeteilt hatte. Weniger ging nicht. Und tatsächlich ging aus der Meldung nicht hervor, um welchen Bunker es sich konkret handelte.
«Welcher Idiot hat eigentlich die Leiche gefunden?», fragte Ludwig. «Und was hatte der in unserem Bunker zu suchen?»
Emilio dachte, dass er den Idioten nicht persönlich nehmen sollte. Natürlich tat er es dennoch.
«Ludwig, die Leiche hat der Baron …», versuchte der Alte ihn aufzuklären.
Doch Emilio fiel ihm ins Wort. Er blickte Ludwig direkt ins Gesicht und herrschte ihn an: «Sagen Sie mal, waren Sie das, der mich vorhin wie ein Geistesgestörter mit dem grünen Lieferwagen Ihrer Firma überholt und zum Bremsen gezwungen hat?»
«Jo und? Demnach sind Sie der Fahrer von dem schrottreifen Landrover auf unserem Besucherparkplatz?»
«Der Wagen ist ein seltenes Sammlerstück und in einem einwandfreien technischen Zustand», stellte Emilio richtig.
«Sammlerstück? Da lachen ja die Hühner.»
Emilio sah ihn schief lächelnd an. Dieser Ludwig hatte es in Rekordzeit geschafft, sich bei ihm so richtig unbeliebt zu machen. Er spielte mit dem Knauf seines Gehstocks. Rein hypothetisch: Was, wenn er leicht erregbar wäre, mit verminderter Impulskontrolle? Dann könnte es doch sein, dass er jetzt seinen Stock entriegelte, den Degen herauszog und diesen Schnösel aufspießte. Eine in früheren Jahrhunderten durchaus gebräuchliche Reaktion zum Zwecke der Satisfaktion. Emilio hatte ab und zu solche Phantasien. Selbstredend wusste er sich zu beherrschen. Doch schon der Gedanke erfreute ihn und ließ ihn lächeln.
«Was gibt’s zu grinsen?», fragte Ludwig.
«Das wollen Sie nicht wissen», gab Emilio zur Antwort.
Er hielt dem Junior sein Handy mit dem Bild der Toten hin.
«Kennen Sie die Frau?», fragte er.
Ludwig zuckte zusammen.
«Jo wie schauggt denn die aus?» Er brauchte einen Moment. «Keine Ahnung, ob ich die kenne. Weiß ja nicht, wie sie zu Lebzeiten ausgesehen hat. Außerdem dürfte sie wohl schon lange vor meiner Geburt gestorben sein.»
Da täuschte er sich. Oder wusste er, dass das nicht stimmte?
«Und das Kleid?»
«Ich bin kein Spezialist für Damenoberbekleidung.»
Warum konnte der Kerl nicht normal antworten?
«Ich nehme an, Sie kennen den Bunker von innen?»
«Na klar. Als Kinder haben wir darin gespielt und später Partys gefeiert. Super Location dafür. Aber warum wollen Sie das wissen? Wer sind Sie überhaupt, dass Sie solche Fragen stellen?»
«Ich bin Privatdetektiv und ermittle im Mordfall besagter Bunkerleiche.»
«Besagter Bunkerleiche? Sie haben eine komische Art, sich auszudrücken. In wessen Auftrag ermitteln Sie?»
Gute Frage! Im Auftrag der Toten?
«Mein Kunde möchte anonym bleiben», gab Emilio zur Antwort.
Weil er zum Schluss kam, dass eine Fortsetzung des Gesprächs nichts bringen würde, stand Emilio auf und verabschiedete sich. Dem Mayr senior gab er die Hand und bedankte sich für die Auskünfte. Sobald er Genaueres zum Todeszeitpunkt wisse, würde er sich melden. Den Junior ignorierte er. Aber nur für den Augenblick. In Zukunft würde er ihn genauer unter die Lupe nehmen. Und zwar schon bald.