Tilda Kneissl hatte ihr Studio im beschaulichen Klausen, wo sie auch wohnte. Ihr modernes Atelier passte auf den ersten Blick dort ebenso wenig hin wie umgekehrt eine Südtiroler Barockkirche nach Dubai. Auf den zweiten Blick war es aber genau richtig hier. Denn zum einen galt Klausen schon vor über hundert Jahren als Künstlerkolonie. Zum anderen lag in Südtirol die Kombination moderner Industriearchitektur mit mittelalterlicher Bausubstanz im Trend. Bei Tildas Atelier war auf einer Seite die komplette Hausmauer bis unter den Giebel herausgebrochen und durch riesige Glasscheiben ersetzt worden. Innen wechselten sich Stahlträger mit alten Holzbalken ab. Tilda liebte es, hier zu arbeiten. Wenn sie nicht wie so oft für Fotoproduktionen auf Reisen war. Sie führte ein unstetes Dasein. In vielerlei Hinsicht. Auch in Bezug auf Männer. Wobei sie durchaus monogam sein konnte … Nur nicht allzu lange.

Momentan fand sie es spannend, mit Emilio verbandelt zu sein und ihn immer wieder aus der Reserve zu locken. Denn eigentlich wollte er seiner Phina treu bleiben; darüber war sie sich im Klaren. Gleichzeitig aber war er ein Freigeist. So wie sie selbst. Also eine Art Seelenverwandter. Weshalb es Spaß machte, ihn so lange zu reizen, bis er gegen seine Vorsätze verstieß. Tilda lächelte versonnen. Es war ein Spiel … Und sie liebte es, zu spielen.

Tilda stand in ihrem Studio vor einer meterhohen Stahlplatte, an der sie mit Magneten großformatige Fotoabzüge

Dass bei den Kratzspuren keine geschriebene Nachricht zu erkennen war, hatten sie schon im Bunker festgestellt. Wie denn auch? Schließlich hatte die junge Frau im Dunkeln nichts sehen können, zuvor eine schwere Kopfverletzung erlitten und gewusst, dass sie nicht mehr lange leben würde. Warum aber kratzte sie dann an den Wänden herum? Das machte nur Sinn, wenn sie eben doch eine Botschaft hatte hinterlassen wollen. Vielleicht war sie zwischendurch zusammengebrochen und hatte nach einer Erholungspause weitergemacht – ohne zu wissen, wo sie zuvor aufgehört hatte? Die Interpretation war eine Frage der Phantasie. Und Tilda hatte viel Phantasie.

Sie schloss die Augen und warf sich auf den Boden. Dann kroch sie zu einer Wand ihres Ateliers und zog sich dort mühsam in die Höhe. Dabei kratzte sie mit den Fingernägeln über die Farbe. Sie begann, einen Buchstaben zu schreiben, kam nicht weit, ließ sich wieder fallen.

Tilda überlegte, dass es im Liegen viel leichter fiel, Zeichen oder Buchstaben in die Wand zu ritzen.

Sie stand auf und schaute sich erneut ihre Fotos an. Diesmal konzentrierte sie sich auf die Kratzspuren ganz unten. Aber Fehlanzeige, auch hier kam sie nicht weiter.

Sie hielt den Atem an, als sie … tatsächlich … auf einer Fliese Kratzspuren entdeckte. Handelte es sich dabei um Zeichen? Vielleicht sogar um Buchstaben? Oder waren das nur letzte, verzweifelte Spuren einer sterbenden Frau?

Sie glaubte, eine Ziffer zu erkennen. Eine Sieben vielleicht. Mit Querstrich. Und danach … Gekritzel … und ein Kreuz.

Tilda gab auf. Das Rätsel der Spuren würde sich nicht lösen lassen.

Was war mit dem Kettchen am Fußgelenk, das sie auf Emilios Wunsch ganz genau fotografiert hatte? Details waren dennoch nicht zu erkennen. Man müsste es abnehmen und reinigen. Waren das kleine Herzen? Gut möglich, aber nicht eindeutig festzustellen.

Gab es sonst irgendwelche Anhaltspunkte, die einen Hinweis auf die Identität der Toten geben könnten? Es blieb ja nicht mehr viel – bis auf das rote Kleid. Dass an diesem kein Modelabel feststellbar war, hatte sie schon von Emilio gehört. Der Stoff war erstaunlich gut erhalten. Wieder nahm sie die Lupe, um sich das Gewebe und die Struktur genauer anzuschauen. Danach studierte sie den Kragen, der einen ungewöhnlichen Schnitt aufwies. Welche Auffälligkeiten gab es bei den halblangen Ärmeln? Besonders interessierte sie der Gürtel, der eindeutig zum Kleid gehörte. Auf ihm waren rautenförmige Pailletten zu erkennen. Sie folgte dem Kleid nach unten. Sie entdeckte aufgenähte Seitentaschen, auch mit Pailletten. Und am unteren Saum, etwa auf Kniehöhe, eine

Dennoch hatte sie mittlerweile eine recht genaue Vorstellung vom Kleid der Toten – ihre langjährige Erfahrung als Modefotografin half ihr dabei. Sie holte sich einen Skizzenblock und zeichnete das Kleid auf. Modisch geschnitten, wie es eine junge Frau mögen würde. Daneben einige Details. Zum Beispiel die Pailletten auf dem Gürtel. Anschließend kolorierte sie das Kleid. Mit einem Rot, das zum Style passte. Denn natürlich sah die Farbe auf den Fotos verblasst aus.

Sie sah sich ihre fertige Modezeichnung an. Nicht gerade wie ein Original von Karl Lagerfeld – aber sie war zufrieden. Vor allem sollte sie ihren Zweck erfüllen. Tilda beabsichtigte, durch die wichtigsten Modeboutiquen in Bozen und Meran zu bummeln, was sie sowieso gerne tat, und die Zeichnung vom Kleid zu zeigen. Vielleicht erinnerte sich jemand daran? Natürlich war das höchst unwahrscheinlich. Erst recht war nahezu ausgeschlossen, dass sie auf diese Weise an den Namen der Toten kam. Ihr fiel ein Spruch ein: «Du hast keine Chance, also nutze sie!» Tilda lächelte. Sie war gut darin, Chancen zu nutzen, die es eigentlich nicht gab.